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DISKURS/098: Gespräch mit dem globalen chinesischen Intellektuellen Wang Hui (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Gespräch mit dem globalen chinesischen Intellektuellen Wang Hui
Der Verlust des Repräsentativen in den politischen Systemen der Welt

Die Fragen stellten Thomas Meyer und Sergio Grassi


Wang Hui, Kopf der Neuen Linken in China, gilt als einer der herausragenden chinesischen Intellektuellen weltweit. Demnächst erscheint erstmals auf Deutsch im Klartext Verlag: "Gleichheit neu denken", herausgegeben vom Kulturforum der Sozialdemokratie.


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NG/FH: Sie kritisieren ein Demokratiedefizit, einen Repräsentationsbruch zwischen Gesellschaft und politischem System, sowohl in westlichen Demokratien als auch in China. Gibt es hinsichtlich der Art des Demokratiedefizits Ähnlichkeiten zwischen den westlichen Gesellschaften und der chinesischen?

WANG HUI: Ja, ich glaube schon. Der politische Diskurs betont meist die Unterschiede der politischen Systeme beider Gesellschaften, und das auch zu Recht. Aber wir können in den letzten Jahrzehnten einen Transformationsprozess in China beobachten. China ist Teil der Weltgesellschaft geworden und die Probleme, mit denen China heute zu tun hat, sind sicherlich ähnlich denen in der westlichen Welt: soziale Spaltung, der Zusammenbruch des Sozialstaats im Falle Chinas und die Entstehung der neuen Arbeiterklasse ohne sozialpolitische Dimension.

Tatsächlich ist diese Transformation ein globales Phänomen. Denn obwohl unsere politischen Systeme unterschiedlich sind, wird in ihnen doch immer mehr eine technokratische Orientierung sichtbar. Die Rolle der Technokraten im politischen System ist heute viel ausgeprägter, etwa im Finanzsektor, und das ist in beiden Systemen sehr ähnlich.

Das heißt, dass das Thema "Demokratie" nach wie vor wichtig und dringend ist, in der westlichen Welt und insbesondere in China. Das gleiche gilt für die Rechtsstaatlichkeit. Alle Gesellschaften stehen jetzt vor neuen Herausforderungen, die der Prozess der Globalisierung mit sich bringt. Alle politischen Systeme, die im 19. und 20. Jahrhundert entstanden, sehen sich jetzt mit neuen Problemen konfrontiert.

NG/FH: In Ihrer Analyse betonen Sie zwei Entwicklungen: den Rückgang der Repräsentanz und die zunehmende Trennung der gesellschaftlichen und der politischen Klasse. Werden soziale Interessen in den politischen Systemen nicht mehr ausreichend repräsentiert? Und ist dies ein Problem, das in den westlichen Gesellschaften und in China gleichermaßen dominant ist?

WANG HUI: China hat eine lange Phase der Revolution durchlebt, von 1911 bis zur Kultur-Revolution unter Mao bis Ende der 70er Jahre; also fast 70 Jahre Revolution. Natürlich bedeutet das auch, dass das politische System sehr verschiedene Elemente in die gesellschaftliche Form integrieren musste.

Die chinesische Situation ist mit der der sozialistischen Staaten Osteuropas nicht zu vergleichen. Die chinesische Revolution war eine Bauernrevolution, die ihren Anfang hauptsächlich auf dem Land genommen hat. Die politische Struktur und soziale Mobilisierung wurzeln in diesen ländlichen Strukturen. Zur Zeit der Revolution waren die politischen Mechanismen vom Klassenkampf stark beeinflusst, und die Partei basiert auf dieser Ideologie. In den 50er Jahren verstand sich das Regime als wahrer Repräsentant der ganzen Gesellschaft. Mao sagte: "Wir repräsentieren mehr als 95% der Bevölkerung, basierend auf dem Konzept des Proletariats". Das war die sogenannte proletarische Diktatur gegen den Klassenfeind.

Der Verlauf der politischen Geschehnisse nach dem Transformationsprozess 1989 ist mit dem der osteuropäischen Staaten kaum zu vergleichen, obwohl die Krisen der 80er und 90er Jahre Ähnlichkeiten aufweisen. Aber die Kommunistische Partei Chinas blieb mächtig und stellte eine Art Kontinuität der politischen Form dar. Die Gesellschaft veränderte sich radikal durch die Öffnung der Märkte und die zunehmende Marktorientierung, Globalisierung usw. Diese Kontinuität der politischen Form allerdings war nur vordergründig. Jetzt beobachten wir einen radikalen Wandel von innen. Nicht nur in Bezug auf die Demokratisierung, auch in Bezug auf sich ändernde politische Werte. Der politische Slogan lautete seit Deng Xiaoping, Yang Zeming und auch unter Hu Jin Tao: Repräsentation der wichtigsten gesellschaftlichen Interessen durch die Partei. Der Pragmatismus hat sich durchgesetzt.

Die politische Konsequenz ist ein Wandel in der Natur der Repräsentanz der Kommunistischen Partei. Nun lautet das Schlagwort "Harmonie der Gesellschaft". Die Kommunistische Partei versucht, sich von der alten Ideologie loszulösen. Aber in der Alltagspraxis des Systems zeigt sich, dass die einfache Bevölkerung, die niederen sozialen Schichten, also die Arbeiterklasse, keine Stimme in der öffentlichen Arena hat.

Im Nationalen Kongress zum Beispiel sind Arbeiter und Bauern zunehmend unterrepräsentiert. Darum ist auch der politische Prozess mehr und mehr von Lobbygruppen beeinflusst und sehr kapitalorientiert.

NG/FH: Trotzdem glauben Sie nicht, dass die Form der westlichen Demokratie eine Alternative ist, die in China nachgeahmt werden sollte. Wie beurteilen Sie die Situation der westlichen Demokratien?

WANG HUI: China und der Westen, auch Russland und Indien, haben gewisse Gemeinsamkeiten, obwohl sich ihre politischen Systeme stark voneinander unterscheiden. Der Kern der Krise liegt innerhalb der politischen Parteien. In Europa rücken Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums zunehmend ins Zentrum. Klassisch-linke Parteien werden zu Mitte-links-Parteien und traditionell-rechtskonservative Parteien werden zu Mitte-rechts-Parteien. Die Parteien versuchen zwar, den Bürgern in den Wahlkampagnen Unterschiede aufzuzeigen, aber die Wähler merken mehr und mehr, dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Programme der Parteien kaum mehr voneinander unterscheiden. Das begünstigt Technokratien ohne wirklich demokratische Prozesse, wie wir gerade in Italien erleben.

Nach der klassischen politischen Theorie fußt ein parlamentarisches Mehrparteiensystem auf einem gewissen Mechanismus der Konfliktverhandlung. Verhandlungen mit unterschiedlichen Repräsentanten von Interessen führen zu einer Art Gemeinwillen. Genau das ist der grundlegende Mechanismus demokratischer Entscheidungen. Demnach sind politische Kampagnen zwar Teil des politischen Systems, sind aber nicht in der Gesellschaft verankert. Deutschland ist eine soziale Demokratie, erfolgreicher und solider als andere. Es ist in dieser Falle noch nicht gefangen, auch wenn die Tendenz in diese Richtung deutet. Ich glaube, dass diese grundlegende Struktur der Willensbildung kaum veränderbar ist.

NG/FH: Ein Versprechen der westlichen Demokratie ist ihr Pluralismus und die damit einhergehende Parteienkonkurrenz. Politischer Output, Gesellschaftsstruktur und Gleichheit werden von ihnen aber oftmals vernachlässigt. Die heutige chinesische Gesellschaft zeigt einen gewissen Pluralismus des öffentlichen Diskurses. Es gibt verschiedene politische Strömungen wie den Modernismus der Kommunistischen Partei, die Neo-Liberalen, die "Neue Linke", "Konservative Kommunisten" (Maoisten) und jene, die eine Art "deliberativen Autoritarismus" vertreten. Es scheint sich ein tiefer und gleichzeitig breiter diskursiver Pluralismus zu entwickeln. Welche Rolle spielt dieser diskursive Pluralismus im politischen Leben, hat er Einfluss auf die politische Führung? Und wie verkehren die verschiedenen Strömungen miteinander?

WANG HUI: Diese Strömungen befinden sich im Wandel. Bis zum Beginn der 80er Jahre bewegte sich die chinesische Politik zwischen einem eher integrativen Pol mit der "Massenlinie", die den breiten Bevölkerungswillen einbeziehen wollte, und einem eher bürokratischeren, autoritären Pol. Seit den 80er Jahren wurden die politischen Organe und Institutionen in China mehr und mehr zu Horten der offenen politischen Diskussion, sogar in den internen Foren der Partei selbst. Nach den 90er Jahren entwickelten sich fundamental andere politische Interessen, auch auf Grund der zunehmenden sozialen Ausdifferenzierung. Anfangs wurde der "politische Pluralismus" vor allem von Intellektuellen-Debatten außerhalb der Parteien angetrieben. Diese Debatten waren zumeist sehr theoretisch, entzündeten sich aber seit den 90er Jahren an den wirklichen Themen, wie der Agrarwirtschaftskrise, dem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, den staatlichen Firmen und ihrer Privatisierung, der Verteilung der Ernte, den regionalen Unterschieden, politischen Reformen usw., für China sehr wichtige Themen.

Die Diskussion wurde dann über die Massenmedien verbreitet und vom Regime letztlich wahrgenommen und verarbeitet. Tatsächlich gibt es heute in der politischen Elite, selbst in den Parteien, unterschiedliche Stimmen; ein Beleg für die Wirkungen dieser Interaktion zwischen dem Regime und dem offenen politischen Diskurs. Zu Zeiten des Premiers Zhu Rongji hat die Regierung die Existenz einer Landwirtschaftskrise einfach abgetan. Aber die Debatte unter den Intellektuellen verbreitete sich über die Massenmedien. Schließlich wurde diese Debatte im Volkskongress wahrgenommen; die Regierung wurde letztendlich gezwungen, die Landwirtschaftskrise ernst zu nehmen und das politische Programm für die Landwirtschaft zu ändern.

Vor kurzem rückten zwei konkurrierende sozio-ökonomische Entwicklungsmodelle ins Blickfeld der politischen Debatten: das Kantonesische Modell und das Chongqing-Modell: Sie reflektieren die unterschiedlichen politischen Einstellungen innerhalb der Partei und in der Gesellschaft. Kanton verfügt über ein einflussreiches Medienimperium, die sogenannte "Southern Media Group". Chongqing ist in diesem Bezug zwar weniger einflussreich, aber warb für seine Reformen über einen TV-Sender und veröffentlichte Presseartikel. Die Zeitung in Kanton kritisierte daraufhin Chongqing mehr als offen. Natürlich war der ideologische Konflikt im Hinblick auf die beiden konkurrierenden Entwicklungsmodelle das eigentliche Thema. Das ist ein neues Phänomen. Chongqing begann das Experiment ohne zu wissen, wie die Einstellung der politischen Führung dazu war und zog sehr viel Aufmerksamkeit auf sich.

NG/FH: Wie werden die nächsten Schritte in der Entwicklung Chinas in puncto Gleichheit und demokratischer Partizipation aussehen?

WANG HUI: China braucht eine Ausweitung und mehr Offenheit für die Massenmedien. Aber dies ist eine heikle Angelegenheit, denn wir wissen, wie die Medien das politische System "kolonisieren", wie Sie, Thomas Meyer, das analysiert haben. Genau diese Entwicklung findet in China bereits statt. China ist zwar noch keine Demokratie, aber der Einfluss der Medien ist sehr viel stärker als zuvor, vor allem der der südlichen Medien, inklusive der sehr mächtigen sogenannten vier offiziellen Internetseiten und der Nachrichtenagenturen. Wenn man Premier Wen Jiabaos Interaktion mit den Medien zum Maßstab nimmt, lässt sich konstatieren, dass sich die chinesischen Eliten heute im Vergleich zur Zeit Jang Zemings oder Zhu Rongjis sehr viel mehr mit ihrem Bild in den Massenmedien befassen.

Die Öffentlichkeit stellt immer noch ein Problem dar. Politische Intervention ist nach wie vor sehr ausgeprägt und hemmt die Entwicklung eines kontinuierlichen Diskussionsraums. Zudem gibt es das Problem der zunehmenden Marktorientierung der Medien. In Wahrheit verfügen die Medien in vielen Gegenden über ein lokales Monopol, zum Beispiel in Guangzhou, wo alle verfügbaren Zeitungen demselben Verlag gehören. Diese lokale Monopolisierung führt sicherlich zu einer Einseitigkeit in der Berichterstattung, nicht bloß aus Sicht der Partei, zumal diese bisweilen nicht einheitlich ist.

NG/FH: Lassen Sie uns über die Soziale Demokratie sprechen. Sogar Wen Jiabao hat kürzlich diesen Begriff verwendet. Welche Spezifika der chinesischen Tradition führen zu einer unterschiedlichen Auffassung von Gleichheit in der Gesellschaft, demokratisierter Gesellschaft und pluralistischer Demokratie im Vergleich zu der Unsrigen?

WANG HUI: In China bevorzugen viele das Konzept der "sozialen Demokratie" gegenüber rechten, konservativen politischen Ideen. Soziale Demokratie ist Teil der sozialistischen Tradition und wird von chinesischen Intellektuellen äußerst positiv gesehen. Die meisten Älteren sind aber an den revolutionären Begriff der "Massenlinie", der Einbeziehung der ganzen Gesellschaft in die politische Willensbildung, gewöhnt. Das Konzept der Massenlinie legitimiert die Regierung als aus der Massenbewegung stammend. In diesem System reden Funktionäre direkt mit den Bauern, Fabrikarbeitern usw., um die Bürokratie zu reduzieren, die diese Menschen von der politischen Führung entfremdet. Neueste Experimente in Chongqing haben versucht, diesen Politikstil wiederzubeleben. In Feldexperimenten wurden ausgesuchte Kader aller Stufen jedes Jahr aufs Land geschickt, um eine gewisse Zeit mit Bauern oder Fabrikarbeitern zu verbringen. Nach der Rückkehr in das politische Zentrum wurde ihre politische Arbeit beurteilt. Ich glaube aber, dass ein solches Feldexperiment heute nicht mehr wirksam die Verhältnisse und Mechanismen der "Massenlinie"-Epoche wiederholen kann, da das politische System heute sehr viel bürokratischer ist. Allerdings könnte dieses Experiment zu weiteren, substanzielleren politischen und institutionellen Experimenten führen.

Wir brauchen vor allem mehr Transparenz im politischen Prozess. Einige Kommunalregierungen setzen dies bereits um; alle politischen Entwicklungen, etwa neue Gesetzesinitiativen usw., sollten auf den entsprechenden Internetseiten veröffentlicht werden, egal ob auf Bezirks- oder Stadt-Ebene.

NG/FH: In der westlichen Welt erleben wir gerade eine Grundsatzdebatte über Universalismus und kulturellen Partikularismus. Die Europäische Linke setzt sich für eine Gesellschaft ein, die von Gleichheit und partizipativer Demokratie geprägt ist. Gibt es Elemente in der chinesischen Kultur, die sich mit den universalistischen Konzepten von Gleichheit und Partizipation nicht vertragen?

WANG HUI: Nein, aber kulturelle Traditionen können zur Verbesserung der alten Idee von Gleichheit beitragen. Dies ist nicht unbedingt partikularistisch. Und auch unsere Werte und Begriffe sind immer noch sehr unterschiedlich. Aber wir können die Thematik aus verschiedenen Perspektiven diskutieren. Kultur in diesem Sinne und auch historische Unterschiede sind also immer noch von Bedeutung, aber das ist nicht gleichbedeutend mit Partikularismus.

Demokratie ist für uns etwas Positives, dem stimmen sogar die kulturell Konservativen zu. Auch wenn sie nicht an demokratische Prozesse gewöhnt sind, sind auch sie auf eine stärkere Institutionalisierung der politischen Partizipation angewiesen. Die Kulturkonservativen sind nicht unbedingt gegen Demokratie per se. Die Unterschiede zwischen China und dem Westen bestehen nicht in Bezug auf das politische System oder das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, sie betreffen Feinheiten des historischen Erbes. Zum Beispiel ist Chinas Organisation der Landwirtschaft mit der europäischer Staaten nicht zu vergleichen. Das liegt zum Teil daran, dass der Besitz von Land durch die öffentliche Hand vom alten sozialistischen System geerbt worden ist. Auf Grund der Marktorientierung müssen wir diesen Landbesitz flexibilisieren, um es mit dem markwirtschaftlichen System kompatibel zu machen. Aber auf der anderen Seite kann der Demokratisierungsprozess in Form einer Landreform stattfinden - ein wichtiges Thema. Zum einen müssen wir die Rechte der Bauern wahren, zum anderen das Prinzip des öffentlichen Eigentums des Landes schützen. Wir wissen, dass Korruption meistens zulasten des öffentlichen Eigentums geht, und weniger zulasten des privaten Eigentums. Die Frage ist, ob es eine Möglichkeit zur Landreform gibt, von der die ganze Bevölkerung profitieren kann und die nicht dem sozialdemokratischen Modell folgt, welches ja auf hohen Steuersätzen beruht.

NG/FH: Ende 2008 hat die chinesische Führung ein Kommuniqué zur Agrarreform verabschiedet, das eine Ausweitung von Landnutzungstransfers propagierte. Anfangs gab es sehr viel Zustimmung. Aber nach und nach wurde kritisiert, dass die Bauern vor dem Hintergrund des gegenwärtig noch rudimentären Sozialversicherungssystems in den ländlichen Gebieten mit der Verpachtung ihres Stücks Land ihr wichtigstes soziales Sicherheitsnetz verlieren würden. Ist eine solche Politik wirklich im Sinne der Bauern? Welche Maßnahmen zum Schutz der Bauern sollte die Regierung ergreifen?

WANG HUI: Das Kommuniqué an sich war das Resultat eines Kompromisses; man spielte ein doppeldeutiges Spiel. Innerhalb der Regierung gab es geteilte Meinungen, bevor das Kommuniqué verabschiedet wurde. Dann beeilte sich die Regierung klarzustellen, dass man eine Flexibilität in der sogenannten Landzirkulation befürwortete. Das heißt nichts anderes als mehr Marktorientierung. Bauern konnten nun ihre Landnutzungsrechte anderen Bauern verpachten. Es handelte sich also eigentlich um einen Nutzungstransfer von Land unter Bauern und nicht um einen echten Besitzwechsel. Heutzutage aber sind Kleinbauern in der chinesischen Peripherie, vor allem im Süden, kaum mehr wahrnehmbar. Überall gibt es Fabriken, eine klare Trennung zwischen Land und Stadt ist nicht erkennbar und landwirtschaftliche Produkte werden meist aus den Nachbarprovinzen importiert. Wie konnte es dazu kommen? Einer der Gründe ist das Ansteigen des Landpreises, wenn das Land nicht mehr zur landwirtschaftlichen Produktion, sondern für kommerzielle Zwecke des urbanen Sektors genutzt wird. Es entsteht also ein zusätzlicher Wert des Landes, der nicht aus der Produktion stammt. Aus diesem Grund kann die Art der notwendigen Kompensation an die Bauern in zwei Kategorien unterteilt werden: Zum einen gehört das Land der Familie des einzelnen Bauern; allein sie hat das Recht, es landwirtschaftlich zu nutzen. Natürlich müssen diese Familien Kompensationen erhalten. Der Zusatzwert des Landes, der durch die kommerzielle Nutzung entstanden ist, gehört aber in meinen Augen der gesamten Gesellschaft und sollte dem Gemeinwohl zugutekommen.

NG/FH: Der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Hu Angang fordert eine Messung von Wohlergehen als Alternative zum Bruttoinlandsprodukt. Er schlägt vor, mehr Indikatoren für die Messung des Wohlergehens der chinesischen Gesellschaft zu berücksichtigen, etwa die gleichmäßige Verteilung von Reichtum, einen ökologischen Fußabdruck und Partizipation. Kann diese Debatte in den kommenden Jahren in China an Einfluss gewinnen?

WANG HUI: Hu Angang spricht in diesem Zusammenhang vom "grünen Bruttoinlandsprodukt". Er versucht, die Grundprinzipien eines "grünen Bruttoinlandsprodukts" zu definieren, zu denen er etwa soziale Sicherheit, ökologische Fragen und die gute Regierungsführung zählt. Es gibt auch eine Debatte über den Wert von Glück, der sich auf Wohlfahrt, Bildung, die Qualität des Gesundheitssystems usw. bezieht. Das Chongqing-Modell betont die Bedeutung einer gleichmäßigen Reichtumsverteilung, das Guandong-Modell befürwortet hingegen das Bruttoinlandsprodukt als klassischen Wohlstandsindikator, auch wenn es zwischen beiden viele Überschneidungen gibt. Die Bevölkerung befürwortete sehr wohl eine Art Umverteilung. Guangdong argumentierte umgehend, dass wir zwar wirtschaftliches Wachstum unterstützen, aber eben auch über einen Glücks-Indikator verfügen. Diese Art von Wettbewerb ist bereits ein sehr populäres Thema. Aber das große Problem ist, dass sich das grundlegende Modell für wirtschaftliche Entwicklung angesichts der Dringlichkeit der Finanzkrise nicht geändert hat.

Eine der erfolgreichsten Facetten des chinesischen Experiments ist der lokale experimentelle Ursprung aller gesellschaftlichen Projekte. In den meisten Fällen haben diese Projekte nicht die gesamte Gesellschaft eingeschlossen. Wir wissen heute, dass es einige Bereiche gab, in denen solche Experimente keinen Erfolg hatten und aufgegeben wurden. Diese Art der experimentellen lokalen Projektentwicklung, die in einem sehr konkreten Bereich ihren Anfang nimmt, hat einen großen Vorteil: Nur jene Projekte, die sich auf lokaler Ebene durchsetzen, greifen auf die jeweils höhere Ebene über, bis sie schließlich Auswirkungen von nationaler Bedeutung haben. So kann die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns auf nationaler Ebene minimiert werden. Und wenn wir berücksichtigen, wie die Regierung gehandelt und wie sich die öffentliche Diskussion entwickelt hat, können wir konstatieren, dass diese Regierung sich in einer gewissen Art und Weise stärker auf gesellschaftliche Entwicklungen einlässt, dass sie responsiver ist als viele andere, seien sie demokratisch oder nicht. Wenn Sie China und Japan vergleichen, werden Sie feststellen, dass Japan über eine sehr viel erfolgreichere Marktwirtschaft verfügt. Die Reaktionsfähigkeit der Regierung auf soziale Forderungen oder neue Situationen jedoch ist deutlich begrenzter.

NG/FH: 2008 wurde China von einem furchtbaren Erdbeben heimgesucht. Nach nur zweieinhalb Jahren ist es der chinesischen Administration jedoch gelungen, ein Gebiet von der Größe Belgiens komplett wiederaufzubauen. Die Leute, mit denen wir im Erdbebengebiet von Sichuan gesprochen haben, waren größtenteils dankbar, dass die chinesische Regierung so kurzfristig Unterstützung leistete.

WANG HUI: Genau das ist die enorme Reaktionsfähigkeit, von der ich gesprochen habe. Die westliche Welt stellt sich die Frage, wie sie diese Reaktionsfähigkeit beurteilen soll. Ich habe Francis Fukuyamas Artikel über China gelesen. Aus chinesischer Sicht beinhaltet er einen Widerspruch in sich. Fukuyama hat China besucht und war beeindruckt von dem, was das Land erreicht hat. Fukuyama beurteilt Chinas Reaktionsfähigkeit und kommt zu dem Schluss, dass China in einer gewissen Weise leistungsfähiger ist als Taiwan oder Südkorea und sogar Japan und einige westliche Länder. Auf der anderen Seite kritisiert er den Mangel an Gewaltenteilung in der chinesischen Regierung. Gleichzeitig gibt er aber zu, dass die chinesische Regierung in der Lage ist, zu wissen, was die Bevölkerung wirklich will. Die Frage ist, wie sich die politischen Voraussetzungen dieser Reaktionsfähigkeit oder Responsivität theoretisch bestimmen lassen.

(Aus dem Englischen von Tobias Konitzer und Thomas Meyer)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 11-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2012