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DISKURS/114: Eine Einwanderungsverfassung für die Einwanderungsgesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2016

Eine Einwanderungsverfassung für die Einwanderungsgesellschaft

Von Farhad Dilmaghani und Johannes Eichenhofer


Die gegenwärtigen Flucht- und Wanderungsbewegungen nach Europa und speziell nach Deutschland stellen die hiesige Zivilgesellschaft und Politik vor zahlreiche Herausforderungen. Die Antworten sind diffus, mal mehr in Richtung Abwehr, mal mehr in Richtung Integration der Flüchtlinge. Es fehlt erkennbar ein neuer Kompass für die demografische und immer diverser werdende gesellschaftliche Realität eines Einwanderungslandes. Notwendig wäre es deshalb, ein neues Staatsziel "Vielfalt und Integration" ins Grundgesetz aufzunehmen. Dieser Vorschlag geht zurück auf ein Thesenpapier des Vereins "DeutschPlus - Initiative für eine plurale Republik" aus dem Jahr 2011. Jetzt scheint der Zeitpunkt reif, darüber eine breitere Debatte zu führen.

Wenn hier für die Aufnahme von Vielfalt und gleichberechtigter Teilhabe als Staatsziel im Grundgesetz plädiert wird, bedeutet dies nicht, dass sich das Grundgesetz zu diesen Fragen bisher ausschweigen würde. Vielmehr sind diese Forderungen bereits jetzt Gegenstand individueller Menschenrechte wie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dem Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG), der Religions- (Art. 4 Abs. 1 GG) oder der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Diese Menschenrechte verpflichten den deutschen Staat einerseits dazu, sämtliche Maßnahmen zu unterlassen, die den einzelnen Bürger dazu verpflichten würden, seine ethnisch-kulturelle Identität zugunsten einer kulturellen Assimilation aufzugeben. Andererseits gewähren Menschenrechte dem Einzelnen auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe.

So wichtig und richtig dieser individualrechtliche Ansatz auch ist, so genügt er doch nicht, um den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft gerecht zu werden. Der Staat sollte nicht nur verpflichtet sein, individuelle Freiheitsräume und hierin entstehende Vielfalt nicht anzutasten, sich also "passiv" zu verhalten. Er sollte sich vielmehr "aktiv" zu Vielfalt und einer Gesellschaftsordnung bekennen, in der jeder Mensch - unter Beibehaltung seiner ethnisch-kulturellen Vielfalt - die gleiche Möglichkeit auf Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen hat. Daher ist es dringend erforderlich, den in den Menschenrechten des Grundgesetzes bereits angelegten Wertentscheidungen für Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe aller in Deutschland lebenden Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu einer größeren Wirksamkeit zu verhelfen. Daher schlagen wir vor, einen neuen Art. 20b in das Grundgesetz aufzunehmen: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration."

Staatsziele wie das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) oder die Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 GG) geben als verbindliche Normen des Verfassungsrechts allen drei Staatsgewalten Ziele für ihr Handeln vor, ohne dabei den Weg oder die Mittel zur Erreichung des Zieles zu benennen. Hierüber haben vielmehr die drei Gewalten bei ihrer täglichen Arbeit - d.h. der Rechtsetzung, der Rechtsdurchsetzung und der Rechtsprechung - "fortdauernd" selbst zu befinden. Entscheidend ist dabei, dass Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung die Staatsziele nicht nur zu berücksichtigen, sondern sie so weit wie möglich zu verwirklichen haben. Dies kann den Erlass von Gesetzen und Verwaltungsakten ebenso notwendig machen wie ein Gerichtsurteil, das einem Staatsziel zur Wirkung verhilft. Staatsziele sind also weitaus mehr als bloße Symbolpolitik. Verfassungsrechtlich gesehen stehen sie im gleichen Rang wie die Grundrechte des Grundgesetzes, sodass sie im Konfliktfalle von den Gerichten gegeneinander abzuwägen und miteinander in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen sind. Dabei können Staatsziele einerseits die Grundrechte desjenigen beschränken, der ihnen zuwiderhandelt. Sie können aber andererseits auch die Grundrechte desjenigen stärken, der in ihrem Sinne handelt bzw. durch das Staatsziel geschützt wird.

Der Aufnahme neuer Staatsziele im Grundgesetz wird nicht selten mit Zweifeln begegnet. Befürchtet wird, dass dadurch die Verfassung überfrachtet würde. Aber weitreichende gesellschaftliche Veränderungen können das Ziel- und Wertegefüge einer Verfassung nicht unberührt lassen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass sich die über die Gefahren von Atomkraft und Luftverschmutzung aufgeklärte "Risikogesellschaft" 1994 das Staatsziel "Umweltschutz" in Art. 20 a GG gegeben hat, 2002 das Staatsziel "Tierschutz". Aus der Geschichte dieser Norm lässt sich ableiten, dass ein politisches Anliegen in den Rang eines "Staatsziels" erhoben werden kann, wenn es auf eine Entwicklung Bezug nimmt, die das Potenzial hat, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Ferner muss hinsichtlich des Staatsziels in der Gesellschaft bereits ein gewisses Problembewusstsein und der Wille zur politischen Gestaltung vorherrschen, der sich auch schon in der Verabschiedung von einfachen Gesetzen realisiert haben muss.

Diese Voraussetzungen treffen auch auf ein mögliches Staatsziel der Achtung ethnisch-kultureller Vielfalt und der Förderung gleichberechtigter Teilhabe zu. Dieses Ziel reagiert unmittelbar auf die Entwicklung des ethnisch relativ homogenen Nachkriegsdeutschlands hin zur jetzigen Einwanderungsgesellschaft. Den sich hieraus ergebenden Herausforderungen wird auf einfachgesetzlicher Ebene bereits in vielerlei Hinsicht Rechnung getragen - vom Aufenthalts- über das Schulrecht bis zur epochalen Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechtes. Doch warum sollte dann überhaupt noch ein entsprechendes Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden? Und was würde sich hierdurch konkret ändern?

Erstens: Ein positives Bekenntnis zu "Vielfalt und gleichberechtigter Teilhabe" im Grundgesetz schafft einen klaren normativen Kompass für die Einwanderungsgesellschaft. Deutschland würde sich dadurch noch stärker als bisher als offenes Land charakterisieren, das bereit ist, Einwanderer und ihre Nachkommen vorbehaltlos zu akzeptieren. In einer Einwanderungsgesellschaft muss es darum gehen, "Einwanderer"und "Einheimische" für ein gelebtes Miteinander und eine gemeinsame Gestaltung ihrer Zukunft in einem Land zu motivieren. So kann das weiter befördert werden, was Bundespräsident Gauck als "neues deutsches Wir" bezeichnet.

Zweitens: Auf der Grundlage eines Staatsziels der Anerkennung kultureller Vielfalt und der Förderung gleichberechtigter Teilhabe lässt sich eine kohärente moderne Integrationspolitik formulieren, die "Integration" nicht allein als Aufgabe der Einwanderer, sondern als Prozess wechselseitig aufeinander bezogener Integrationsleistungen von Individuum und Gesellschaft ansieht. Jahrzehntelang war der Ansatzpunkt deutscher Integrationspolitik die Feststellung von "Integrationsdefiziten" auf Seiten der Einwanderer bzw. Menschen mit Migrationshintergrund, die sie durch entsprechende Integrationsleistungen zu kompensieren hatten. Demgegenüber blieben die Integrationsleistungen der "Aufnahmegesellschaft", d.h. ihre Hälfte des Gelingens gesellschaftlicher Integration, meist im Unklaren. Eine Integrationspolitik, die sich auf die Anerkennung von Vielfalt und die Förderung gleichberechtigter Teilhabe festlegt, würde zunächst die gemeinsamen Interessen und Ziele aller in Deutschland lebenden Menschen betonen. Ausgehend von dieser Prämisse hätte die moderne Integrationspolitik sodann kritisch zu prüfen, welche bestehenden gesetzlichen Regelungen den Belangen von Vielfalt und gleichberechtigter Teilhabe entgegenstehen. Auch neue Gesetze müssten sich nun am Staatsziel Vielfalt und chancengerechte Teilhabe messen lassen. Staatsziele verpflichten die Legislative, die Exekutive und die Judikative aber auch dazu, ihnen zu möglichst großer Wirkung zu verhelfen. Aufgrund ihres verfassungsrechtlichen Rangs könnten nunmehr dem Staatsziel zuwider laufende Bestimmungen nicht mehr durch politische Erwägungen des Gesetzgebers, sondern nur durch ein anderes Rechtsgut von Verfassungsrang gerechtfertigt werden. Das neue Staatsziel würde dafür sorgen, dass die bislang eher vorsichtig verfolgte Politik der interkulturellen Öffnung staatlicher Institutionen und ihrer Dienstleistungen zu forcieren wäre. Dies hätte zugleich eine Signalwirkung für die gesamte Gesellschaft. Hierdurch würden die Strukturen der Bundesrepublik Deutschland fairer und durchlässiger für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen.

Drittens: Die Aufnahme des Staatsziels sowie ein hieran ausgerichtetes Handeln von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung würde auch zu einer Verbesserung der individuellen Position der Einwanderer bzw. Menschen mit Migrationshintergrund beitragen. Da Staatsziele von der Verwaltung und der Rechtsprechung bei der Auslegung bereits existierender Gesetze zu berücksichtigen sind, kommt ihnen insoweit eine "grundrechtserweiternde Wirkung" zu. Auf diesem Wege müssten z.B. die bestehenden gesetzlichen Regelungen über den Arbeitsmarktzugang für Drittstaatsangehörige so ausgelegt werden, dass dem Staatsziel auf gleichberechtigte Teilhabe angemessen Rechnung getragen wird, was wiederum für die betroffenen Einwanderer eine Realisierung ihrer Grundrechte bedeuten würde. Hieran besteht nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse, da auf diesem Wege sozialer Desintegration mit all ihren negativen Folgen besser vorgebeugt werden kann. Mittlerweile ist auch allgemein anerkannt, dass die hier lebende, alternde Gesellschaft auf qualifizierte Einwanderung angewiesen ist, sodass sie alles dafür tun sollte, dass sich die Einwanderer hier wohl fühlen und möglichst lange bleiben. Ziel muss es deshalb sein, den Gedanken der Teilhabe in der gesamten Rechtsordnung zu etablieren, sowie jegliche Form von Diskriminierung und Rassismus noch viel entschiedener zu bekämpfen wird als dies gegenwärtig geschieht. Durch die globale Anerkennung des Teilhabegedankens in der Rechtsordnung könnte auch die derzeit im Zuge des Einwanderungsgesetzes geforderte bessere Verknüpfung bestehender Regelungen vorbereitet werden. Denn, zugespitzt gesagt, erweist sich jeder Versuch einer anreizbasierten und nachhaltigen Zuwanderungssteuerung "von außen" als wenig erfolgsversprechend, solange die Voraussetzungen "von innen"nicht substanziell verbessert werden.

Schließlich würde ein neues Staatsziel "Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe" eine konkrete und unumkehrbare Standortbestimmung vornehmen, wie ernst wir es mit der Einwanderungsgesellschaft und deren Gestaltung nehmen. Dies sollte nicht erst nach einer 10- bis 15-jährigen Diskussion wie beim Staatsziel Umwelt- und Tierschutz geschehen. Stattdessen ist nun die Zeit reif für eine Einwanderungsverfassung. Deren Umsetzung wird Staat und Gesellschaft viel abverlangen. Das ist sicher. Aber es lohnt sich, für uns und unsere Kinder dadurch einen Beitrag zu leisten, um die Vision der "Einheit der Verschiedenen" (Bundespräsident Gauck) zu verwirklichen.


Farhad Dilmaghani

ist Vorsitzender von "DeutschPlus e.V. - Initiative für eine plurale Republik" und ehemaliger Staatssekretär für Arbeit und Integration des Landes Berlin.
farhad.dilmaghani@deutsch-plus.de

Johannes Eichenhofer
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Bielefeld und Mitglied im erweiterten Vorstand von "DeutschPlus e.V.".
johannes.eichenhofer@uni-bielefeld.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2016, S. 31 - 34
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2016

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