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DISKURS/116: Politik der Gleichheit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2016

Politik der Gleichheit

Von Dierk Hirschel


Das 21. Jahrhundert droht ein Jahrhundert der Ungleichheit zu werden. Weltweit werden die Reichen reicher und die Armen ärmer. 62 Superreiche besitzen heute so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das Land mit der größten Ungleichheit ist Südafrika, gefolgt von Kolumbien, Brasilien und China. Im Club der Industrieländer (OECD) haben die Türkei, Chile, Mexiko und die USA die größte Schieflage.

In fast allen Ländern nahm die Einkommensungleichheit in den letzten 30 Jahren zu. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich sowohl in schlechten als auch in guten Zeiten. Vielerorts erreichen die Einkommensunterschiede inzwischen ein Rekordniveau. In den Industrieländern hat das reichste Zehntel ein zehn Mal höheres reales Haushaltsnettoeinkommen als die ärmsten 10 %. In den 80er Jahren war es lediglich das Siebenfache.

Maßgebliche Treiber der steigenden Ungleichheit waren die Spitzeneinkommen. Bis zur großen Finanzmarktkrise von 2007 stiegen die realen Haushaltseinkommen der reichsten 10 % stärker an als diejenigen des ärmsten Zehntels. Nach der Finanzmarktkrise bremste sich die Entwicklung der Spitzeneinkommen nur kurz ab, um danach wieder Tempo aufzunehmen.

Noch ungleicher sieht es bei den Vermögen aus. Die Unterschiede hier sind in den letzten drei Jahrzehnten stärker gewachsen als die Einkommensunterschiede. Ursächlich war der lange Boom der Aktien- und Immobilienmärkte. In den Industrieländern besitzt das reichste Prozent heute fast ein Fünftel des gesamten Vermögens. Die reichsten 10 % verfügen über die Hälfte des Gesamtvermögens Die steigende Ungleichheit ist sozial schädlich. Mehr Ungleichheit schadet der Gesundheit, senkt die Bildungschancen, erhöht die Kriminalität und. verringert die soziale Durchlässigkeit einer Gesellschaft. Und: Mehr Ungleichheit ist auch schlecht für die Wirtschaft. Die OECD schätzt, dass die Industrieländer zwischen 1990 und 2010 durch die steigende Ungleichheit insgesamt fünf Prozentpunkte Wachstum verloren haben. Ursächlich ist aus Sicht des Clubs der Industrieländer, dass die sozial Benachteiligten zu wenig für ihre Bildung ausgeben können. Dadurch verschenken ungleiche Volkswirtschaften Wachstumspotenzial. Zudem drosselt eine ungleiche Einkommensverteilung die Kaufkraft. Flüchten die klammen Verbraucher anschließend in Kredite, wird die wirtschaftliche Entwicklung krisenanfälliger, wie die letzte Finanzmarktkrise eindrucksvoll belegte.

Ursachen der steigenden Ungleichheit

Warum die Ungleichheit zurückgekehrt ist, ist umstritten. Aus wirtschaftsliberaler Sicht ist die fortschreitende soziale Spaltung zwangsläufiges Ergebnis eines wirtschaftlichen Wandels: Der technische Fortschritt und die Globalisierung hätten zu einer steigenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften geführt. Folglich stiegen deren Einkommen. Gleichzeitig fanden geringqualifizierte Beschäftigte kaum noch Arbeit und ihre Einkommen schrumpften. In der Praxis überzeugt dieser Erklärungsansatz jedoch nicht. Während alle Industrieländer vom technischen Fortschritt und der Globalisierung gleich betroffen waren, stieg die Ungleichheit unterschiedlich stark.

Unbestritten hat die erweiterte internationale Arbeitsteilung die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Kapitaleigentümer und des Managements gestärkt. Gleichzeitig erhöhte die Herrschaft der Finanzmärkte den Renditedruck und verschärfte die Umverteilung zugunsten der Spitzenverdiener. Unbestritten ist auch der massive Umbau der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter. Die Auswirkungen dieses ökonomischen Strukturwandels auf die Einkommensverteilung sind jedoch abhängig von seiner politischen Gestaltung.

Politik macht den Unterschied. Im Mittelpunkt stehen dabei das Regelwerk respektive die Institutionen des Arbeitsmarktes. Sie beeinflussen maßgeblich die Aufteilung des Einkommenskuchens. Die Lohn- und. Gehaltshöhe hängt zudem von der Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften ab. Ihre Verhandlungsposition wird wiederum von der wirtschaftlichen Lage, der Struktur der Beschäftigung, dem Arbeitsrecht sowie der Wirkung des Sozialstaats bestimmt.

Der jüngste Anstieg der Ungleichheit geht im Kern auf die politische Entwertung und Entgrenzung der Arbeit zurück. Das Lohnniveau entgrenzter Arbeit liegt im Schnitt ein Fünftel unter der Entlohnung regulärer Beschäftigung. Die Erosion regulärer Arbeitsverhältnisse unterhöhlte das Tarifsystem und schwächte die Gewerkschaften. Seit Anfang der 90er Jahre sank die Tarifbindung der Industrieländer um zehn Prozentpunkte. Gleichzeitig wurde die Lohnfindung stärker in die Betriebe verlagert. Beschäftigte in unsicheren Arbeitsverträgen und in den neuen Dienstleistungsbranchen sind schwieriger organisierbar. Folglich verloren die Gewerkschaften viele Mitglieder, ihr Organisationsgrad schrumpfte.

Die geschwächte gewerkschaftliche Verhandlungsposition hinterließ große Spuren in der primären Einkommensverteilung. Die Lohnquoten - Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen - gingen auf Talfahrt. Gleichzeitig öffnete sich die Schere bei den Markteinkommen. Die Umverteilung vorhandener Arbeit zu prekären Bedingungen stärkt nicht die Marktmacht der Beschäftigten. Deswegen wächst im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die Ungleichheit trotz steigender Beschäftigung.

Doch damit nicht genug. Die geschwächten Gewerkschaften verloren auch an politischem Einfluss. Folglich konnten sie Leistungskürzungen bei Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Rente sowie eine umfangreiche steuerpolitische Reichtumspflege nicht mehr verhindern. Dieser neoliberale Ab- und Umbau des Sozialstaats ist dafür verantwortlich, dass die Steuer- und Transfersysteme der meisten Industriestaaten mit den Herausforderungen steigender Ungleichheit nicht mehr Schritt halten können.

Mehr Gleichheit ist möglich

Die Ungleichheit ist bekanntlich nicht auf dem ganzen Erdball gestiegen. Einige unbeugsame Länder leisteten dem neoliberalen Zeitgeist erfolgreich Widerstand. Sie erreichten durch eine andere Politik mehr Verteilungsgerechtigkeit.

Uruguay etwa hat in der jüngsten Vergangenheit auch international beachtete Erfolge beim Abbau der Ungleichheit erreicht. Vor zehn Jahren, inmitten der schwersten Wirtschaftskrise des Landes, gewann das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio die Nationalwahlen. Es folgten zwei weitere Wahlsiege.

Die neue Regierung unter Führung von Tabaré Vázquez reformierte zunächst den Arbeitsmarkt. Die Einrichtung von Lohnräten belebte die Kollektivverhandlungen. In diesen Lohnräten treffen sich Vertreter der Gewerkschaften, der Unternehmensverbände und des Staates und legen Tariflöhne sowie Mindestarbeitsbedingungen fest. Viele bislang informell Beschäftigte wurden in Kollektivverhandlungen einbezogen. Heute hat Uruguay den kleinsten informellen Beschäftigungssektor Lateinamerikas. Des Weiteren erleichterte der Ausbau von Kollektivrechten gewerkschaftliches Handeln in und außerhalb der Betriebe.

Ein weiterer Eckpfeiler der Arbeitsmarktreformen war die Mindestlohnpolitik. Der reale Mindestlohn stieg zwischen 2006 und 2011 um 60 %. Arbeitsinspektoren, harte Sanktionen und eine Generalunternehmerhaftung sorgten dafür, dass der Mindestlohn auch eingehalten wird. Darüber hinaus erhöhte die Mitte-Links-Regierung die Leistungen der Arbeitslosenversicherung.

Diese Politik der Aufwertung von Arbeit stärkte die Gewerkschaften. Ihre Mitgliederzahl vervierfachte sich in den letzten zehn Jahren. Aufgrund der veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt stiegen die Reallöhne um 40 %. Die gestärkte Binnennachfrage kurbelte das Wachstum an. Natürlich war das kräftige Wirtschaftswachstum auch dem Boom der Rohstoffmärkte geschuldet. Die gerechtere Verteilung der Wachstumsfrüchte sorgte aber auch für eine bessere Ernte. In diesem guten wirtschaftlichen Umfeld schufen Unternehmen und Staat neue Jobs. Die Zahl sozial versicherter Arbeitsplätze stieg um mehr als 50 %. Gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote von 20 auf 7 %. Die gute wirtschaftliche Entwicklung ermöglichte die Finanzierung umfangreicher Sozialreformen. Die Frente Amplio bekämpfte mit Sozialprogrammen erfolgreich extreme Armut. Im Gesundheitswesen wurde eine kostenlose Mindestversorgung eingeführt und die Regierung investierte kräftig in Bildung. Die gesetzliche Rentenversicherung wurde gestärkt und eine progressive Einkommens- und Kapitalbesteuerung eingeführt.

Die politisch gewollte Korrektur der Primär- und Sekundärverteilung reduzierte die Ungleichheit. Der Schlüssel für mehr Verteilungsgerechtigkeit in einem Land mit der längsten demokratischen Tradition Lateinamerikas war die Neuordnung des Arbeitsmarktes.

Beispiel Brasilien: Im Jahr 2002 wurde mit Luiz Inácia Lula da Silva ein Gewerkschafter und Mitglied der Arbeiterpartei (PT) zum Staatspräsidenten der größten lateinamerikanischen Volkswirtschaft gewählt. 2010 folgte ihm seine Parteifreundin Dilma Rousseff. Seit der Regierungsübernahme durch Lula stieg der reale Mindestlohn um 70 %. Reguläre Beschäftigung verdrängte informelle Arbeit. Der Anteil der regulären Jobs an der Gesamtbeschäftigung kletterte von 45 auf 60 %. Zwei von drei brasilianischen Beschäftigten werden heute durch Tarifverträge geschützt.

Ähnlich wie in Uruguay führte die verbesserte gewerkschaftliche Verhandlungsposition zu steigenden Reallöhnen. Die höhere Kaufkraft belebte die Wirtschaft und schuf mehr Wohlstand. Unter den Mitte-Links-Regierungen wuchs das Bruttoinlandsprodukt um jährlich fast 3,5 %. Gleichzeitig entstanden rund 20 Millionen neue Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote sank auf ein historisches Tief.

In diesen "goldenen Jahren" kämpfte die Lula-Regierung mit bedingungsgebundenen Sozialtransfers gegen die extreme Armut. 50 Millionen Brasilianer profitieren von Sozialleistungen. Zudem investierte die Regierung massiv in Bildung, Gesundheit und den sozialen Wohnungsbau. Der ländliche Raum wurde elektrifiziert und die familiäre Landwirtschaft gefördert. Diese Sozialpolitik ermöglichte 35 Millionen Brasilianern den Aufstieg aus der Armut in die Mittelschicht. Die Armutsquote sank von 25 auf 7 %.

Die brasilianischen Mitte-Links-Regierungen verringerten die Kluft zwischen Arm und Reich. Im letzten Jahrzehnt stiegen die Einkommen der Armen - der untersten 10 % viermal so stark wie die Einkommen des reichsten Zehntel. Heute erschweren der politische Machtwechsel, eine fordernde Mittelschicht, eine konfliktbereite Oberschicht und ein geringerer wirtschaftlicher Verteilungsspielraum eine Fortschreibung dieses sozialen Fortschritts. Das ändert aber nichts an der verteilungspolitischen Erfolgsbilanz der PT-geführten Regierungen.

Politische Lehren

Von Nachbarn zu lernen ist nicht immer einfach. Südamerika ist nicht Europa, Schwellenländer sind keine Industrieländer und Arbeitsmarktinstitutionen haben immer eine eigene nationale Geschichte. Doch trotz aller sozialen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede zeigen die verteilungspolitischen Erfolge der lateinamerikanischen Mitte-Links-Regierungen eines sehr deutlich: Das beste Rezept gegen Ungleichheit sind starke Gewerkschaften und ein arbeitnehmerfreundliches Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt. Eine Politik für mehr Gleichheit erfordert ein breites Bündnis von progressiven Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Nur gemeinsam kann die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Beschäftigten gestärkt werden. Hierzulande ging dies bekanntlich kräftig schief. Seit geraumer Zeit bemüht sich die Sozialdemokratie aber wieder darum, ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften zu verbessern. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, die Rente mit 63 und die erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen waren wichtige vertrauensbildende Maßnahmen. Weitergehende Korrekturen waren jedoch in der großen Koalition nicht durchsetzbar.

Die Konzentration auf die Arbeitsmarktinstitutionen als zentrales politisches Feld im Kampf gegen die Ungleichheit bedeutet natürlich nicht, dass alle anderen Politikfelder vernachlässigt werden können. Steuer-, Sozial-, Gesundheits- oder Bildungspolitik haben einen wichtigen Einfluss auf die Verteilung von Lebenschancen. Die geschwächten Sozialstaaten korrigieren noch immer Ungleichheit im nennenswerten Ausmaß. Zudem beeinflusst der Wohlfahrtsstaat direkt und indirekt die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt.

Auch zwischen Berlin und München sollte sich eine gleichheitsorientierte Politik zunächst auf die Neuordnung des Arbeitsmarktes konzentrieren. Jetzt geht es darum das Tarifsystem weiter zu stärken, den Mindestlohn zu erhöhen, Minijobs, ungleich bezahlte Zeitarbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit und Werkverträge durch reguläre Beschäftigung zu ersetzen sowie die Mitbestimmung auszubauen. Zudem sollte der Erwerbsarbeitszwang durch eine Korrektur der Hartz-Gesetze gelindert werden. Der Ausbau des Sozialstaates, mehr Bildung für alle, eine armutsfeste und lebensstandardsichernde Rente, höhere Reichensteuern, etc. bleiben weiterhin wichtige verteilungspolitische Forderungen. Ihre Durchsetzbarkeit steigt jedoch erst, wenn die Gewerkschaften in der Offensive sind.

Dierk Hirschel ist Bereichsleiter Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.
dierk.hirschel@verdi.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2016, S. 42 - 46
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas
Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2016

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