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ENTWICKLUNGSHILFE/407: Wie zukunftsfähig ist kirchliche Entwicklungszusammenarbeit? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 07/2010

Der Mensch im Mittelpunkt
Wie zukunftsfähig ist die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit?

Von Martin Bröckelmann-Simon


Das Besondere und Eigene kirchlicher Entwicklungsarbeit ist heute nicht mehr selbstverständlich. Umso mehr muss sie sich um ihr Profil kümmern, mit einer inhaltlich und ethisch überzeugenden Botschaft und gestützt auf eine überzeugende Praxis.


Die im Jahr 2008 gestartete Initiative des so genannten "Bonner Aufrufs für eine andere Entwicklungspolitik", aber auch diverse programmatische Aussagen des neuen Entwicklungsministers Dirk Niebel weisen im Verbund mit einer implizit kritischen Haltung gegenüber staatlicher Entwicklungsförderung den Ansätzen der Kirchen in der Bekämpfung von Armut besondere Bedeutung zu. Wenngleich diese Wertschätzung erfreulich ist, wirft sie dennoch nicht nur die Frage auf, welche Rolle dann zukünftig dem staatlichen Handeln noch komplementär zugewiesen werden soll, sondern auch die, ob wirklich zutreffende Vorstellungen von den Besonderheiten und Ansprüchen kirchlicher Entwicklungsansätze damit verbunden sind.

Grundsätzlich hat kirchliche Entwicklungszusammenarbeit zunächst zwingend einen anderen Horizont als staatliche. Es geht ihr nicht um Beziehungen mit Ländern, sondern um Beziehungen mit Menschen. Sie fordert Gerechtigkeit und stellt die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes in den Mittelpunkt. Sie steht stets parteilich auf der Seite der Armen und lässt sich von ihrem Schicksal berühren. Sie ist interessengeleitet und verhehlt das nicht. Den Armen Gerechtigkeit - dies ist die handlungsleitende Utopie. Wenn nötig, müssen auch Strukturen von Gesellschaften angeprangert werden, die nicht nur ihre Menschenfreundlichkeit verloren haben, sondern auch ihre Solidarität mit den Schwachen.

Die Eigenheit kirchlicher Entwicklungsarbeit zu behaupten ist dennoch heute nicht mehr ganz so selbstverständlich. Denn alle reden von Selbsthilfe, Partizipation, Gerechtigkeit und Frieden. Vor 50 Jahren waren das noch exklusive Ansätze der kirchlichen Entwicklungsarbeit. Dies hat sich mittlerweile stark geändert und vor allem die entwicklungspolitische Sprache hat sich immer mehr angeglichen. Außerdem ist das Netz staatlicher und nichtstaatlicher Akteure immer dichter geworden. Mancherorts gibt es gar eine Konkurrenz der Projekte von Hilfsorganisationen. Kirchliche Entwicklungsarbeit muss also mit einem eigenen Profil bestehen können - und dies in zwei Dimensionen: Ihre Botschaft muss inhaltlich und ethisch überzeugen und sich zugleich auf eine überzeugende Praxis stützen.

Kern kirchlicher Entwicklungsarbeit ist es, von den Menschen aus zu denken und zu handeln. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als anspruchsvolles Programm, das nichts an Aktualität verloren, sondern noch an Bedeutung gewonnen hat. Auf prägnante Weise wird benannt, wem kirchliche Entwicklungsarbeit exklusiv verpflichtet sein muss: dem Menschen in seiner (verletzten) Würde als Ebenbild Gottes.

Die zielführenden Fragen kirchlicher Entwicklungsarbeit müssen also lauten: Wie können Menschen, die arm, entrechtet und unterdrückt sind, in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden? Wie lassen sie sich dabei unterstützen, die Kontrolle über das eigenen Leben zurückzugewinnen, wie sich darin bestärken, solidarisch die Verantwortung für sich, andere und ihre Umwelt zu übernehmen? Definiert man Armut nicht nur als materiellen Mangel, sondern auch als Verlust von Handlungsfähigkeit, wird die Herausforderung einer Armutsbekämpfung deutlich, die sich Selbsthilfe als programmatische Orientierung auf die Fahnen geschrieben hat.


Armut und Ungerechtigkeit sind nicht immer, aber doch in vielen Fällen mit radikalen traumatischen Erfahrungen verbunden, die nicht nur die materielle Grundlage entziehen, sondern auch die emotionale, intellektuelle und soziale Basis des betroffenen Menschen erschüttern. Daraus folgt der Verlust von Selbstvertrauen, Hoffnung und Identität sowie Misstrauen anderen gegenüber. Praktisch bedeutet das: Es geht nicht lediglich um mehr Einkommen, bessere Ernährung, ausreichende Gesundheitsversorgung, sondern auch und vor allem darum, dass Menschen für sich sorgen und selbst Verantwortung übernehmen, sich selbst für bessere Lebensbedingungen, für mehr Gerechtigkeit, für eine intakte Natur einsetzen können. Das Ziel solcher Arbeit ist, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie sich als autonome, freie Menschen bestärkt sehen, die ihren Platz in einer lebendigen, kreativen und pluralen Zivilgesellschaft haben.

Im Vordergrund stehen damit Beziehungen: die Beziehung zu sich selber (Selbst-Wertschätzung, Selbstvertrauen), zu den anderen (Nächstenliebe, Solidarität), zur Umwelt (und auch zu Gott). Während gemeinhin viele Entwicklungsprojekte ihr ausschließliches Interesse auf die "Endprodukte" (höhere Einkommen, mehr Bäume, mehr Nahrung) fixieren, stellt die kirchliche Entwicklungsarbeit das Bemühen in den Mittelpunkt, dass solche Ergebnisse aus der Subjektwerdung der Armen selbst und der (Wieder-) Entstehung von sozialem Zusammenhalt unter ihnen resultieren.


Die Schlüsselfragen, die sich kirchliche Entwicklungsvorhaben daher selbst stellen müssen, heißen: Was macht die Menschen stark? Was hilft ihnen, gute Erfahrungen mit sich selber zu machen? Was hilft ihnen, Vertrauen in sich selber zu fassen?

Das hat unmittelbare praktische Konsequenzen für die Arbeit. Mit Blick auf Projekte der lokalen Entwicklung heißt das beispielsweise, dass die Entwicklung nur auf dem aufbauen kann, was an Potenzial vor Ort vorhanden ist - man kann sie nicht einfach kaufen. So lernen in Haiti seit Jahren tausende Bauern von anderen Bauern. In dem von dem bischöflichen Hilfswerk Misereor begründeten agrarökologischen Netzwerk PADED vermitteln sie einander auf der Grundlage von traditionellem Wissen und eigenen praktischen Erfahrungen angepasste Bewirtschaftungs- und Renaturierungsmethoden. So sind beeindruckende Entwicklungserfolge entstanden, die mit bloßem Auge in Form von Waldgärten und grünen Inseln in der Landschaft sichtbar sind. Diese sind nun auch eine wesentliche Grundlage für von den Haitianern selbst getragene Hilfsmaßnahmen nach der Erdbebenkatastrophe 2010.


Mehr Ressourcen von außen bedeutet nicht gleich mehr Entwicklung

Stützpfeiler für gelingende lokale Entwicklung sind: die lokalen materiellen Ressourcen (beispielsweise Böden, Wasser, Biodiversität) und nicht Betriebsmittel, die man von außen zukauft; Erfahrungen, Wissen und Neugierde der Menschen und nicht das externe Expertenwissen; die Bereitschaft der Betroffenen, Verantwortung zu übernehmen, die Solidarität und die Hilfe untereinander. In der Entwicklungszusammenarbeit ist also das sehr sensible Wahrnehmen dessen gefragt, was schon da ist, um es zu unterstützen, zu fördern.

Wer aber - egal ob staatlich oder nichtstaatlich - Hunger, Armut, Ungerechtigkeit primär als Folge nicht vorhandener Ressourcen definiert, tut genau das Gegenteil. Solche Projekte schaffen im Wesentlichen Geld, Experten, Wissen, Technik, Material von außen heran und meinen, je mehr man heranschafft, umso besser ist es. Selten gelingt es, mit einer solchen Strategie Grundlagen für eine eigenständige und nachhaltige Entwicklung zu legen. Entwicklung ist ein endogener Prozess von Systemveränderung, der von außen nur angestoßen und begleitet, aber nicht stellvertretend durchgeführt werden kann. Entwicklung ist immer schon da.

Ein Automatismus, wonach mehr Ressourcen von außen gleich mehr Entwicklung bedeutet, besteht jedenfalls nicht. James Shikwati, der kenianische Kritiker westlicher Entwicklungshilfe, hat daher sicherlich recht, wenn er die zerstörenden Wirkungen einer Hilfe benennt, die Menschen zu Bettlern degradiert, unkoordinierte Konzepte von außen aufzwingt, die primär von eigenen Sicherheits-, Wirtschafts- oder politischen Interessen geleitet ist und auch der Korruption Vorschub leistet.

Als Konsequenz darf nicht gleich die Einstellung sämtlicher Zusammenarbeit gefordert werden. Zweifellos aber gilt es, ihre Formen und Inhalte, auch das Verständnis von Entwicklung selbst zu verändern: Es geht nicht um Unterordnung von Entwicklung unter Wirtschaftsförderung oder ihre Instrumentalisierung im Kontext von Sicherheitspolitik, sondern um Kohärenz unter dem Primat der Armutsbekämpfung.

So muss verhindert werden, dass beispielsweise die Außenwirtschaftspolitik zerstört, was die Entwicklungspolitik gerade mühsam aufbaut. Die westafrikanische Milchbäuerin, die mit ihren Produkten verzweifelt gegen importiertes subventioniertes Milchpulver aus der EU kämpft, weiß genau, was damit gemeint ist.

Zugleich muss es ein zentrales Ziel von Entwicklungszusammenarbeit sein, Transparenz und Bürgerbeteiligung zu fördern, Korruption zu bekämpfen und "gute Regierungsführung" als unverzichtbare Voraussetzungen für armenorientierte Entwicklung zu etablieren. Modellhafte Ansätze müssen verbunden sein mit der Befähigung der Menschen, sich in Veränderungsprozesse einzubringen, damit die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich zu ihren Gunsten verändert werden.


William Easterly, der frühere Weltbank-Ökonom, hat in seinem Buch "Wir retten die Welt zu Tode" die Bedeutung von "Suchern" gegenüber den "Planern" in der Entwicklungszusammenarbeit beschrieben. Nehmen wir seine Mahnung ernst, bedeutet das zweierlei: immer neugierig und aufmerksam gegenüber dem Neuen und Unerwarteten zu bleiben und zugleich demütig die begrenzte Reichweite der eigenen Pläne und Konzepte in ihrer Einwirkung auf eine komplexe und komplizierte Wirklichkeit im Bewusstsein halten. Dies verlangt, den selbstkritischen Blick auf das eigene Geschäft zu bewahren und gesunde Skepsis zu behalten. Es verlangt allerdings auch, Fehler und Niederlagen zugeben zu können und sich sowohl dem Allmachtsanspruch als auch dem Unfehlbarkeitsgebot zu entziehen. Die Gefahr, dabei zu resignieren, ist ständig gegeben.

Aber unsere Partner und wir schöpfen gerade aus den Grundlagen unseres Glaubens, einem nicht versiegenden Energiereservoir - etwas, was uns fundamental von anderen Akteuren im Entwicklungsgeschehen unterscheidet. Entwicklungszusammenarbeit braucht diese Hoffnung und Zuversicht, braucht Visionen und Utopien (weit über die Millenniums-Entwicklungsziele hinaus), die sich auch durch Rückschläge und Frustrationen in ihrem Vertrauen auf Veränderung nicht erschüttern lassen.

Jenseits von Jammertal und menschenverachtendem Zynismus zeigen uns gerade Projekte im Süden begeisternde und ansteckende Kraftquellen auf. Eine andere Welt ist nicht nur nötig, sondern auch möglich, so lautet die Devise der so genannten Weltsozialforen. Gerade aus der Grundorientierung auf den (armen) Menschen, seine Kraft, Würde und seine Potenziale hin erwächst die bereichernde, ermutigende und motivierende Erfahrung, dass Entwicklung und Befreiung aus eigener Kraft tatsächlich gelingen kann.

Sicherlich ist in der Entwicklungszusammenarbeit stets ein gewisses Maß an Bescheidenheit geboten, aber mehr als fünf Jahrzehnte Erfahrung in weltkirchlicher Solidarität und Partnerschaft auf Augenhöhe berechtigen genauso auch zur Freude darüber, dass die Arbeit an der Seite der Armen tatsächlich verändernde Wirkung gezeigt hat. Unsere Partner haben uns an ihrer Entwicklung beteiligt, nicht umgekehrt. Partnerschaft in der Entwicklung beschreibt auch einen gemeinsamen Lernprozess. Hier geht es um die beiderseits wichtige Fähigkeit, auf eine sich verändernde widrige Wirklichkeit jeweils die richtigen Antworten zu finden. Wenn die vermeintlich Schwachen und Ausgegrenzten in diesem Sinne ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und eigenständig Lösungen entwickeln, geschehen tatsächlich Zeichen der Hoffnung.


Unmittelbare Armutsbekämpfung und globale Strukturpolitik sind keine Gegensätze

Die Menschen in den Partnerländern stehen in komplexen Zusammenhängen: kulturelle, soziale oder politische Geflechte, die wir nur teilweise begreifen, in die wir aber mit jedem Projekt von außen intervenieren. Die Begleitung solcher Prozesse erfordert Geduld und Offenheit. Es ist ärgerlich, wenn viele - auch im entwicklungspolitischen Umfeld - glauben, man könne mit Menschen in einer Input-Output-Logik umgehen. Die Bereitschaft, sich auf offene Prozesse einzulassen, verlangt jedoch, ständig wandelnde Bedingungen zu erkennen und darauf adäquat zu reagieren.

Das Ergebnis hängt von den Beteiligten ab und ist daher nur bedingt vorhersehbar. Es bedeutet auch, ihnen die Freiheit zuzugestehen, ihren eigenen Weg zu gehen. Gerade in der Abweichung, im Widerspruch zu vorgegebenen Lösungen zeigt sich unter Umständen ein Entwicklungserfolg im Sinne sowohl von Emanzipation als auch kontextgerechter Sensibilität. Projekte versteht kirchliche Entwicklungsarbeit deshalb auch nicht als starr definierte Handlungspakete mit linearer Beziehung zwischen Maßnahmen und Wirkungen, sondern als gut geplante, aber prinzipiell offene Systeme, die sich auf verändernde Bedingungen und Einflüsse einstellen und entsprechend ihre Ziele anpassen. Dass dies dann auch angemessen offene Verfahren der Wirkungserfassung bedingt, versteht sich von selbst.


Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, verlangt, in erster Linie darauf zu schauen, ob den Armen der Weg zu einem selbst bestimmten besseren Leben geebnet wurde und wird. Also werden die sehr konkreten Veränderungen auf dieser Ebene zum entscheidenden Maßstab für Wirkungen entwicklungspolitischen Handelns - sei es lokal, national oder global.

Die großen Entwürfe werden nicht funktionieren, wenn sie nicht im Kleinen geerdet sind - und umgekehrt: Unmittelbare Armutsbekämpfung und globale Strukturpolitik sind keine Gegensätze oder Alternativen, sondern gerade in ihrer Ergänzung zueinander wichtig. Sie dürfen sich aber nicht widersprechen. Entscheidend dabei scheint in beiden Bereichen, dass Staat und Zivilgesellschaft im richtigen Verhältnis zueinander stehen, also staatliches Handeln - national wie multilateral - sich der ordnungspolitischen Verantwortung stellt beziehungsweise globaler Strukturpolitik widmet und Zivilgesellschaft dieses kritisch begleitet und zugleich den dadurch geschaffenen Rahmen eigenverantwortlich füllt.

Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip und ist die Grundlage, auf der sozialer wie politischer Wandel gestaltet wird. Vermehrte Förderung von Zivilgesellschaft und Privatinitiative kann also keinesfalls alternativ zur Stärkung eines demokratischen Staates hinsichtlich seiner zwingend notwendigen regulierenden und ordnenden Aufgaben (miss-)verstanden werden.


Neue Formen eines globalen Interessenausgleichs

All dies erfordert allerdings Zeit - eine der kostbarsten Ressourcen in der Entwicklungsarbeit. Verstehen geht nur langsam und setzt Respekt vor dem Gegenüber und seiner Weltsicht voraus. Entwicklung braucht immer beides: Kairos (den günstigen Moment) und Chronos (die nötige Zeit). Schnelligkeit ist also nicht unbedingt und sicherlich nicht immer von Vorteil.

Natürlich müssen Etappenziele sein, auch periodische Berichterstattung und jährliche finanzielle Rechenschaftslegung. Es gibt die Notwendigkeit der Stückelung von Zeit. Wer aber Zusammenarbeit in Partnerschaft beginnt, muss langfristig denken und Kooperationszeiträume nicht nur in Jahren, sondern gegebenenfalls auch in Jahrzehnten bemessen. Nachhaltige Wirkungen brauchen Zeit und Geduld, was nicht immer einfach zu vermitteln ist, insbesondere wenn - wie bei medial besonders beachteten Ereignissen - eine Situation nur für sehr kurze Zeit im Schweinwerferlicht steht.

Kirchliche Entwicklungsarbeit bedeutet hingegen, geduldig, beharrlich und kontinuierlich an Prozessen zu arbeiten, die den Armen und nicht uns "gehören" und sich gegen den Druck zu einem Immer-Schneller, gegen den aktuellen Trend zum immer eiligeren Gewerbe zu stemmen. Die Entwicklungszusammenarbeit darf nicht zu einem Event oder einer Inszenierung verkommen und zudem keine unrealistischen Erwartungen erzeugen: ein "just-in-time"-Liefern ist hier ehrlicherweise nicht möglich.

Ebenso wichtig ist es, sich der kulturellen Relativität von Zeitwahrnehmungen bewusst zu sein. Dies verlangt auch, beispielsweise den wirtschaftlichen Sinn von aus Vorsicht geborener Langsamkeit bei Veränderungen zu erspüren und die Menschen in ihrem eventuellen Zögern oder Widerstand ernst zu nehmen. Für Menschen an oder unter der Armutsgrenze ist es absolut rational, sich in unsicheren Zeiten eher an dem Gegebenen, an der Gegenwart zu orientieren als an Zukunftsversprechen ohne Garantie. Neue Ideen von außen werden daher oft nur zögernd und vorsichtig abwartend aufgenommen. Die darin liegende Vernunft zu erspüren, davon zu lernen und sich völlig anderen kulturellen Zugängen zu Wirklichkeit auszusetzen, ist dann eine der wirklich bereichernden Erfahrungen.

Kirchliche Entwicklungsarbeit muss allerdings nicht nur den eigenen ethischen und methodischen Ansprüchen in all den vielen einzelnen Entwicklungsprojekten (bei Misereor derzeit rund 5600 Projekte in 97 Ländern) genügen, sondern sich zugleich auch auf anderen Ebenen den großen Zukunftsfragen stellen. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt so viel komplexer und verwobener geworden. Die Grenzen zwischen Politikfeldern, zwischen Innen und Außen, zwischen global und national verwischen immer mehr, neue Wirtschaftsmächte bewirken globale Machtverschiebungen mit offenem Ausgang.

Die Globalisierung bringt widersprüchliche Effekte hervor. Sie homogenisiert und fragmentiert, sie integriert und schließt aus, sie sorgt für Wohlstand wie Armut, sie schafft eine Globalkultur, aber zugleich den Wunsch nach kulturell eigenständiger Identität. Die Welt wird zu einer Risikogemeinschaft, der globale Aufgaben viel schneller zuwachsen als ihre realen Lösungs- und Steuerungskapazitäten. Die systemischen Risiken des internationalen Finanzsystems, die immer wieder zur Destabilisierung der Märkte führen - Währungsspekulationen, Wechselkursschwankungen oder der Einfluss von schwer kontrollierbaren Hedgefonds und Private Equity Unternehmen - sind nach wie vor groß.

Weltweit spüren wir derzeit die ungeheuren Auswirkungen davon. Zugleich scheint die politische Gestaltungsfähigkeit von Nationalstaaten immer weiter abzunehmen, während auf supranationaler Ebene ein Vakuum schmerzlich spürbar wird. Daher werden neue Mechanismen und Formen eines globalen, fairen Interessenausgleichs im Sinne eines Weltgemeinwohls immer dringlicher (vgl. dazu auch die Enzyklika Benedikts XVI., Caritas in veritate, Nr. 67).

Für kirchliche Entwicklungsarbeit heißt dies, die Stimme und den Einfluss der Armen national und international noch mehr zu stärken und in ihren Projekten die lokalen, regionalen und globalen Handlungsebenen miteinander zu verknüpfen. Denn jegliche Arbeit beispielsweise mit westafrikanischen Milchbäuerinnen ist untrennbar mit der EU-Agrarmarktpolitik und der Ausgestaltung der Welthandelsordnung verflochten.


Niemand kann die künftige Konstitution der Welt genau voraussagen. Aber schon jetzt zeigt sich, dass mit der nachholenden Entwicklung großer Schwellenländer - die zugleich neue Nachzügler produziert - der Weg für die alten Industrieländer deutlich steiniger wird. Ihr bisheriges Entwicklungsmodell schlägt in Form von steigender Waren- und Rohstoffkonkurrenz, aber auch der Folgen des Klimawandels und anderer ökologischer Bedrohungen auf sie selbst zurück. Entwicklungsprobleme sind damit nicht mehr nur länger die Probleme des Südens. Dies könnte allgemein die Erkenntnis dämmern lassen, dass eine lebenswerte Zukunft auf dem Globus ohne ein neues Entwicklungsmodell nicht zu haben ist.

Die Überwindung globaler Ungerechtigkeiten wird uns erhebliche Zugeständnisse und Veränderungen abverlangen. Dem Ziel eines fairen globalen Interessenausgleichs kann man allerdings nicht gerecht werden, wenn man zugleich der Erwartung entsprechen will: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass". Die westliche Industriegesellschaft ist mit der schwierigen Aufgabe der Selbstbeschränkung aus einer Ethik der Verantwortung konfrontiert, für die uns die Maßstäbe und Vorbilder fehlen.

Einer Gesellschaft, die sich in der überwiegenden Mehrzahl mit Haut und Haaren dem materiellen Immermehr und Immergrößer verschrieben hat und die in Geld und Besitz ihre Identität findet, muss der Appell zur Mäßigung ihrer ökonomischen Aktivitäten wie Hohn in den Ohren klingen. Das gilt umso mehr, als diese Rücknahme der materiellen Lebensansprüche auf ein auch für die natürliche Umwelt erträgliches Maß auch noch in freier Selbstbescheidung vor sich gehen soll.

Gesellschaften aber, die die Fähigkeit verlieren, sich zu begrenzen, die Ressourcen hemmungslos verbrauchen, die Umwelt plündern und künftige Generationen mit Lasten überfordern, werden sich früher oder später selbst zerstören. Eine Bewegung zu Fasten und Umkehr im Geiste weltweiter Verantwortung, wie sie Misereor darstellt, ist daher politisch wie spirituell so geboten wie nie zuvor.


Der promovierte Sozialwissenschaftler Martin Bröckelmann-Simon (geb. 1957) ist seit 1999 Vorstandsmitglied von Misereor, Stellvertreter des Hauptgeschäftsführers und für den Bereich Internationale Zusammenarbeit zuständig. Er war zuvor ab 1985 bei Misereor als Länderreferent für Brasilien, Chile und Paraguay und dann als Abteilungsleiter der Kontinentalabteilung Lateinamerika tätig.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 7, Juli 2010, S. 371-375
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2010