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KULTUR/337: Kulturelle Bildung als gesellschaftliche Aufgabe (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

KULTUR UND KRITIK
Erzeugung von Nachfrage für die Zukunft
Kulturelle Bildung als gesellschaftliche Aufgabe

Von Wolfgang Schneider


Trotz des kulturpädagogischen Aktionismus der letzten Jahre sieht unser Autor Defizite im Prozess der kulturellen Vielfalt. Sein Beitrag zeigt, dass vor allem kulturelle Bildung zum integralen Bestandteil einer neuen Kulturpolitik werden muss.


Mechthild Großmann, Schauspielerin und Protagonistin des Tanztheaters Pina Bausch, fragte während einer Kundgebung gegen die Schließung des Wuppertaler Schauspielhauses: "Was soll aus jungen Menschen werden, die kein Theater mehr erleben?" Und ein Mitglied des Theater-Jugendclubs sekundierte: "Bildung, Jugend und Kultur - das ist das Kapital unserer Stadt!" Auch der Oberbürgermeister konnte sich seine Kommune ohne Sprechtheater eigentlich nicht vorstellen. Die katastrophale Haushaltslage zwinge aber dazu, keinen Bereich ungeschoren zu lassen.

Wie so oft in der Politik klaffen Theorie und Praxis auseinander. Auch die Sonntagsreden zur kulturellen Bildung stimmen nicht überein mit dem Alltagshandeln in der Bildungs- und Kulturpolitik. Das hat vor Jahren schon Anne Bamford bestätigt. In ihrer Studie mit dem munteren Titel The Wow Factor (2006), einer Untersuchung zur Rolle der Künste in der Erziehung, kommt sie zur globalen Erkenntnis: "There is a gulf between 'lip service' given to arts education and the provisions provided within the school."

Bund, Länder und Kommunen versuchen sich derzeit im Wettbewerb zu toppen, wer die umfänglichsten Konzepte zur kulturellen Bildung zu produzieren weiß. Der Hype um die kulturpolitische Lufthoheit beispielsweise zwischen Hamburg, München und Berlin, zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Freistaat Sachsen wird zudem geschürt von den Kongressen der Kulturstiftung der Länder, einem Preisausschreiben des Staatsministers im Bundeskanzleramt, einer Geisterdebatte über eine neue Bundeszentrale oder einen weiteren Fonds der Bundeskulturstiftung.

Viel Papier wird beschrieben, viel Kleinkariertes bewilligt, viel ist allerdings noch nicht dabei herausgekommen. Es fehlt der große Wurf, die konzertierte Aktion, der grundsätzliche Wille, entscheidende Veränderungen herbeizuführen. Dabei wäre alles doch so einfach. Anfangs braucht es nur klare politische Prioritäten und Weichenstellungen. Kulturelle Bildung ist eine Querschnittsaufgabe, die zusammenbringt, was zusammengehört: Kultur und Bildung, etwa Musikunterricht und Konzertpädagogik, Kunsterziehung und kuratorische Praxis, Darstellendes Spiel und Jugendtheater. Am Besten wäre ein Schulfach "Kulturelle Bildung"! Dafür werden Kulturlehrer benötigt! Vor allem aber eine Bildungspolitik, die "Kultur für alle" als programmatischen Auftrag versteht, von der ersten bis zur zwölften Klasse in allen Schulformen! Ein Gleichgewicht zu den sogenannten Pisafächern wäre zu schaffen, um die Bedeutung der Künste für die allgemeine Bildung des Menschen zu unterstreichen. Noch immer sind es nur die "happy few", also nicht einmal ein Fünftel unserer Gesellschaft, die an der reichen, öffentlich geförderten Kulturlandschaft partizipieren. Es gilt, so früh wie möglich, eigene künstlerische Interessen und Stärken zu entdecken und auszubilden, kulturelle Prozesse zu reflektieren und kritisch in den Blick zu nehmen, schulische und außerschulische kulturelle Bildung dauerhaft miteinander zu verknüpfen.

So ähnlich hat das 2007 schon einmal die Enquête-Kommission "Kultur in Deutschland" dem Deutschen Bundestag in einer umfänglichen Drucksache hinterlassen: "Kulturelle Bildung bedarf der Vernetzung von Kultur- und Bildungseinrichtungen in der Kommunalpolitik". Von der Verpflichtung der Kultureinrichtungen ist da die Rede, kulturelle Bildungsangebote für Kinder zu entwickeln - und von der kulturellen Bildung als pädagogischem Leitfaden in der Grundschule. Kulturelle Bildung sei kein curriculares Element, das dem bestehenden Stunden- und Fächerplan bloß hinzugefügt werden könne; sie werfe die Frage nach einer grundlegenden Reform der Schule auf.


Kulturpädagogischer Aktionismus

Eine der Handlungsempfehlungen der Enquête beschäftigte sich mit der interkulturellen Bildung: "Insbesondere Kinder und Jugendliche müssen befähigt werden, sich mit der Herkunftskultur ihrer Eltern auseinanderzusetzen und Verständnis für fremde Ausdrucksformen und fremde Kulturen aufzubringen." Das klingt gut. Doch selbst in NRW hat man die interkulturelle Komponente vergessen, in dem Vorzeigeprojekt, jedem Kind ein Instrument zuzugestehen. Wie viel Weltmusik darf es denn sein?

Und geht es vielleicht nicht nur darum, dass die lieben Kleinen singen, tanzen und spielen? Das selbsternannte "Modell-Land Kulturelle Bildung Nordrhein-Westfalen" setzt beachtenswerte Zeichen: Die interministerielle Kooperation ist eine gute Voraussetzung für die landesweite Initiative von Schulpolitik, Ministerium (für Generationen, Familie, Frauen und Integration) sowie Staatskanzlei. Allzu sehr steht bei den Förderungsmaßnahmen allerdings kulturpädagogischer Aktionismus im Vordergrund. Es besteht auch Bedarf, dauerhaft wirksame Strukturen in der Kulturvermittlung der institutionalisierten Kunstbetriebe zu sichern. Während in den Kommunen die Kassen klamm werden, schüttet das Land ein Füllhorn mit Projektmitteln aus. Theater, Museen und Kunsthäuser lehren auf ihre Art Sehen und Hören, Wahrnehmen und Begreifen, Harmonie und Differenz. Kulturvermittelndes Potenzial steckt auch in den Kunstwerken selbst, es sollte deshalb wie die Theater-, Museums- und Konzertpädagogik eine Rolle in der kulturellen Bildung spielen.

Kulturelle Bildung ist vor allem Dialog. Ganz Europa hat 2008 offiziell darüber nachgedacht - im Jahr des interkulturellen Dialogs. Mit welchem Ergebnis, mit welcher Konsequenz, mit welcher politischen Wirkung? Das einzig brauchbare Papier trägt die Farben des Regenbogens, stammt von einer Nichtregierungsorganisation und macht klar, dass es um mehr gehen muss als um Dialog. Es braucht Kompetenz und vor allem Aktion. Der machbare Weg scheint der zu sein, von der interkulturellen Herausforderung zur Interkulturalität zu gelangen. "Die Sicht auf das lenken, was wir gemeinsam werden können: Wir wollen interkulturelle Innovation herbeiführen und interkulturelle Maßnahmen der öffentlichen Entscheidungsträger fördern", heißt es auf der Civil Society-Platform www.intercultural-europe.org. "Wir müssen die Interkulturalität, d.h. das Prinzip, Kulturen durch interkulturelles Engagement zu entwickeln, zu unserer neuen menschlichen Norm erheben."


Wider die Kulturbürokratie

In Deutschland dagegen dümpelt der Prozess der kulturellen Vielfalt. Es finden zwar Konsultationen statt, eine nationale Koalition kümmerte sich um ein Weißbuch, und gelegentlich darf die UNESCO-Konvention im kulturpolitischen Überlebenskampf um öffentliche Mittel argumentativ herhalten. Ein föderales Programm lässt auf sich warten.

Und doch scheint ein Licht am Ende des Tunnels: Die Jugend- und Familienministerkonferenz ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Angebote der kulturellen Jugendbildung die Chance bieten, "die bisher zu wenig erreichte Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie der Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien besser zu erreichen". Sie fordert gleichzeitig die Träger in diesem Bereich auf, "Konzepte zu entwickeln", die speziell auf diese Zielgruppe ausgerichtet sind. Die BKJ als Verband eben jener Träger wird sich bedankt haben für diesen peinlichen Versuch, von der eigenen Unfähigkeit abzulenken. Seit Jahr und Tag liegen die Konzepte auf dem Tisch der Kulturbürokratie. Eines Fingerzeigs hätte es nicht bedurft, einer Etatisierung allemal.

Kulturelle Bildung kommt nicht selbst, sie muss integraler Bestandteil einer neuen Kulturpolitik sein - für die immer noch gilt, was der Deutsche Kulturrat 2004 in seinen Überlegungen zur kulturellen Daseinsvorsorge formuliert hat: "... ein flächendeckendes Kulturangebot in den verschiedenen künstlerischen Sparten, das zu erschwinglichen Preisen, mit niedrigen Zugangsschwellen breiten Teilen der Bevölkerung kontinuierlich und verlässlich zur Verfügung steht."

Daran sollte auch die Bundespolitik erinnert werden, wie auch an den innerbetrieblichen Konstruktionsfehler einer in drei verschiedenen Ministerien (Jugend, Bildung, BKM) angesiedelten kulturellen Bildung. Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik - ganz im Sinne des Wortes von Walter Benjamin: "Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist."


Wolfgang Schneider (*1954) ist Professor für Kulturwissenschaft und Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, Herausgeber der Publikation Auswärtige Kulturpolitik (2008), Theater und Schule (2009), Kulturpolitik für Kinder (2010) sowie der Schriftenreihe Studien zur Kulturpolitik.
soltau-schneider@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 68-70
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010