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MENSCHENRECHTE/278: Mexiko - Kleiner Erfolg im Kampf gegen die Straflosigkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Februar 2014

Mexiko: Kleiner Erfolg im Kampf gegen die Straflosigkeit

von Emilio Godoy


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Ein Protestmarsch der Mütter Verschwundener im Zentrum von Mexiko-Stadt im Mai 2012
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 11. Februar (IPS) - Die Mexikanerin Tita Radilla gehört zu den Menschenrechtlern ihres Landes, die seit 50 Jahren dafür eintreten, dass sich die Militärs, die während des 'schmutzigen Kriegs' der 1960er und 1970er Jahre Menschen verschwinden ließen, vor Zivilgerichten verantworten müssen. Nun sind die Voraussetzungen dafür geschaffen und auch die Suche nach den Verschwundenen kann beginnen - theoretisch. Denn die Aktivisten bezweifeln, dass das Ende der Straffreiheit gekommen ist.

Radillas Vater Rosendo war Gemeindeführer von Atoyac gewesen, einer Ortschaft 400 Kilometer südöstlich von Mexiko Stadt, als er von Soldaten im August 1974 im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero entführt wurde. Seither versucht ihn die Tochter mit Hilfe der Medien, der nationalen Gerichte und der internationalen Menschenrechtsorganisationen zu finden.

Tita Radilla brachte den Fall vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof, der im November 2009 dem mexikanischen Staat vorwarf, im Fall Radilla gegen das Recht auf Freiheit, auf persönliche Integrität, auf Ankerkennung als juristische Person und auf Leben verstoßen zu haben. "Das war der Kampf, den wir geführt haben. Er war wichtig und hat uns viel Kraft gekostet. Wir sind der Meinung, dass es ein großer Erfolg ist, dass die Militärs vor zivile Gerichte gestellt werden können. Es bedeutet die Anerkennung unserer Arbeit", meint Tita Radilla.

Am 4. Februar zog der mexikanische Senat die Vorbehalte des lateinamerikanischen Landes und eine Interpretation zurück, die der Staat 2002 gegen die Interamerikanische Übereinkunft gegen das Verschwindenlassen von Personen erhoben und dadurch die Ahndung der von Militärs an Zivilisten begangenen Verbrechen vor normalen Gerichten unterbunden hatte. Dazu war der Senat im Oktober vom konservativen mexikanischen Staatspräsident Enrique Peña Nieto von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) im Sinne der Umsetzung des Urteils des interamerikanischen Gerichtes aufgefordert worden.


Auch heute verschwinden Menschen

Während diese Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie Argentinien, Chile, El Salvador, Guatemala und Uruguay vor Gericht gebracht wurden, blieben sie in Mexiko bisher straffrei und haben in den letzten Jahren wieder zugenommen. Verwickelt sind diesmal Paramilitärs, die Drogenmafia und Menschenhändler. Schätzungen zufolge beläuft sich die Zahl der Opfer auf mindestens 30.000.

"In unserem Land werden die Gesetze nicht umgesetzt. Die Gerichtsbarkeit ist viel zu langsam. Es kommt zu keiner strafrechtlichen Verfolgung, zu keiner Festnahme und zu keinem Prozess", meint Radilla, Vizevorsitzende der Mexikanischen Vereinigung der Angehörigen Verschwundener (AFADEM).

Martha Camacho, Vorsitzende der Vereinigung der Mütter der verschwundenen Kinder von Sinaloa (UMHDS), einem Bundesstaat im Westen Mexikos, ist gleicher Ansicht. Auch sie befürchtet, dass sich nicht viel ändern wird. "Man hat uns schon soviel versprochen. Doch am Ende haben sich viele Menschen engagiert, ohne dass unsere Angehörigen aufgetaucht sind oder ein Verfahren stattfand", sagt sie.

Im August 1977 waren die damals 21-jährige Camacho und ihr gleichaltriger Mann José Manuel Alapizco von Mitarbeitern der Bundessicherheitsbehörde, der Gemeinde- und Verkehrspolizisten aus ihrem Haus abgeholt worden. Das Paar, das in der Kommunistischen Liga 23. September aktiv war, wurde gefoltert. Camacho und ihr in Haft geborenes Kind kamen nach einer Lösegeldzahlung durch ihre Familie frei. Alapizco hingegen wurde ermordet und gilt seither als vermisst. Camachos UMHDS hat 47 Fälle von Verschwindenlassen dokumentiert, die sich in Sinaloa in den Jahren 1975 bis 1983 ereignet hatten.

Auch Guadalupe Pérez, Mitglied der Söhne und Töchter für Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und Schweigen (HIJOS-Mexiko) hält die Chancen, dass die Straffreiheit in Mexiko beendet wird, für gering. Dass der Radilla-Fall den Ausschlag für die Änderungen gegeben hat, zeigt ihrer Meinung nach vor allem eins: dass Mexiko nur auf internationalen Druck hin aktiv wird.

HIJOS hat 561 Fälle von Verschwindenlassen zwischen 1969 und 2010 dokumentiert. Pérez' Vater Tomás wurde demnach am 1. Mai 1990 von Paramilitärs aus dem Dorf Pantepec im südlichen Bundesstaat Puebla verschleppt. Der damals 39-Jährige hatte sich für die Unabhängige Bauernzentrale gegen Land Grabs engagiert.

Die Nationale Menschenrechtskommission hat insgesamt 532 Fälle während des 'schmutzigen Kriegs' der 1960er und 1970er Jahre der regulären Streitkräfte gegen linke Rebellen und Sozialaktivisten zusammengetragen. Nichtregierungsorganisationen beziffern die Zahl der Opfer auf über 1.000.


Ermitteln gegen Parteifreunde

Die regierende PRI steht vor dem Problem, gegen PRI-Regierungen zu ermitteln, die zum Zeitpunkt der Menschenrechtsverletzungen an der Macht waren, und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen. Die von 2000 bis 2006 tätige Sonderstaatsanwaltschaft hatte zwölf Massaker, 120 extralegale Hinrichtungen, 800 Verschwundene und 2.000 Fälle von Folter an Häftlingen insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren dokumentiert.

In Guerrero hat die AFADEM in 126 Fällen Klage erhoben. Seit April 2012 verfügt der Bundesstaat über eine Sonderkommission, die die Menschenrechtsverbrechen der 1960er und 1970er Jahre untersucht. Dutzende Fälle sind bereits registriert. Behindert wird die Arbeit der Kommission durch die Weigerung der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft, ihr den Zugang zu den Zeugenaussagen und Archiven staatlicher Einrichtungen zu ermöglichen.

Pérez macht für die jüngeren Fälle von Verschwindenlassen diejenigen politischen Kräfte verantwortlich, die die Untersuchungen zu torpedieren versuchten, indem sie weiterhin die Orte geheimhalten, an denen die Opfer verscharrt wurden. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/02/setback-military-impunity-mexicos-forced-disappearances/
http://www.ipsnoticias.net/2014/02/guerra-sucia-de-mexico-sale-de-la-orbita-del-fuero-militar/
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IPS-Tagesdienst vom 11. Februar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2014