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MILITÄR/895: Afghanistan - Eskalation nicht ausgeschlossen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 20.05.2011
(german-foreign-policy.com)

Eskalation nicht ausgeschlossen


KABUL/BERLIN - Nach den tödlichen Schüssen auf Demonstranten vor dem Bundeswehrstützpunkt im afghanischen Taloqan dauern die dortigen Proteste gegen die NATO an. Am gestrigen Donnerstag gingen in der Stadt erneut mehrere hundert Menschen auf die Straße, um ihrer Wut über einen nächtlichen NATO-Überfall Ausdruck zu verleihen. Am Mittwoch waren bei Protesten mindestens 14 Demonstranten erschossen worden. Die Bundeswehr schließt eine erneute Eskalation ausdrücklich nicht aus. Hintergrund der Proteste ist die weiterhin steigende Anzahl von Zivilisten, die bei Kriegshandlungen der NATO-Streitkräfte umgebracht werden. Untersuchungen afghanischer Menschenrechtler zufolge ist die Zahl ziviler NATO-Todesopfer letztes Jahr auf über 500 gestiegen. Zugleich wurden auch die Proteste gegen die westlichen Besatzungstruppen stärker. Die jüngste Eskalation ist das Ergebnis einer Kriegführung, die seit Jahren zivile Opfer billigend in Kauf nimmt; das gilt auch für die Bundeswehr: Deutsche Soldaten beteiligen sich an der Erstellung von Todeslisten, an nächtlichen Überfällen und an der Vorbereitung von Luftangriffen, bei denen mit großer Regelmäßigkeit Unbeteiligte ums Leben kommen.


Gezielte Schüsse

Die Proteste im afghanischen Taloqan gegen die westlichen Besatzungstruppen dauern an. Anlass ist der Tod von zwei Frauen und zwei Männern, die in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch von NATO-Soldaten erschossen worden waren. Während die NATO behauptet, es habe sich bei ihnen um Aufständische gehandelt, beharren Anwohner darauf, sie seien gänzlich unbeteiligte Zivilisten gewesen. Schon am Mittwoch entwickelte sich ein Trauerzug zur Protestdemonstration; gut 3.000 Menschen zogen vor den Bundeswehr-Stützpunkt in Taloqan, wo es dann zu schweren Auseinandersetzungen kam. Mindestens 14 Demonstranten wurden erschossen. Ob auch deutsche Soldaten tödliche Schüsse abgaben, ist nicht klar. Die Bundeswehr räumt ein, man habe "gezielte Schüsse auf die Beine von Gewalttätern abgegeben" [1]; dabei seien "7 bis 10 Angreifer verletzt" worden. Angesichts der fortdauernden Proteste erklärt die Bundeswehr explizit: "Eine Eskalation kann nicht ausgeschlossen werden." Die Lage ist äußerst angespannt.


Mehr zivile Todesopfer

Den Hintergrund der Massenproteste vor dem Stützpunkt der Bundeswehr in Taloqan beleuchten Berichte afghanischer Menschenrechtsorganisationen. Demnach ist die Zahl der Zivilisten, die von den westlichen Besatzungstruppen und ihren afghanischen Verbündeten im vergangenen Jahr getötet wurden, viel höher, als es der Westen unter Berufung auf die Vereinten Nationen zugibt. In einem Bericht der UNO heißt es, 2010 seien bei kriegerischen Operationen westlicher Militärs und afghanischer Truppen 440 Zivilpersonen zu Tode gekommen - 26 Prozent weniger als im Vorjahr.[2] Der in Kabul ansässige unabhängige Zusammenschluss Afghanistan Rights Monitor kommt in seiner Zählung auf 512 zivile Todesopfer westlicher Soldaten und auf 278 Zivilopfer afghanischer Einheiten.[3] Die eklatante Differenz erklärt der Afghanistan Rights Monitor damit, dass westliche Militärs getötete Zivilisten oft als Aufständische oder deren Helfer klassifizieren. Die tatsächlichen Opferzahlen müssten mit aufwendiger Recherche vor Ort ermittelt werden.


Wahlkämpfer bombardiert

Wieso eine solch hohe Zahl an Zivilisten zu Tode kommt, lässt eine soeben publizierte detaillierte Untersuchung des ebenfalls in Kabul ansässigen Afghanistan Analysts Network erkennen. Die Untersuchung befasst sich beispielhaft mit einer gezielten Tötungsaktion der NATO. Aus ihr geht hervor, weshalb westliche Truppen am 2. September 2010 eine Kolonne von Wahlkämpfern bombardierten. Zehn Zivilisten kamen dabei ums Leben. Wie das Afghanistan Analysts Network schildert, glaubten die westlichen Militärs, den stellvertretenden Taliban-Gouverneur der Provinz Takhar anzugreifen.[4] Ihr folgenschwerer Irrtum beruhte auf schlampigen Recherchen - riskante Schlussfolgerungen aus abgehörten Telefongesprächen wurden nicht angemessen überprüft. Dass bei dem Angriff tatsächlich nicht der Taliban-Gouverneur getötet wurde - Militärs behaupten dies heute noch -, liegt dem Afghanistan Analysts Network zufolge auf der Hand: Der Gesuchte wurde nach seinem angeblichen Tod in Pakistan aufgespürt und interviewt. In der Provinz Takhar, deren Hauptstadt das jetzt im Zentrum der Proteste stehende Taloqan ist, rief der NATO-Angriff bereits im September 2010 eine Welle der Empörung hervor. Dies geschah während des gesamten Jahres 2010 auch noch an anderen Orten: "Mehrere emotionale Demonstrationen gegen das mutmaßliche Töten von Zivilisten durch ausländische Truppen fanden in verschiedenen Teilen des Landes statt", berichtet der Afghanistan Rights Monitor in seinem Jahresbericht.[5]


Aufstandsbekämpfung

Der Unmut der afghanischen Bevölkerung über die westlichen Besatzer speist sich inzwischen aus einer Vielzahl von Quellen. Zu den Todesopfern kommen immense materielle Schäden hinzu. So haben laut Afghanistan Rights Monitor westliche Soldaten allein im November 2010 in mehreren Distrikten der Provinz Kandahar hunderte Häuser, Granatapfelbäume und Obstgärten zerstört und damit den Bewohnern die Lebensgrundlage geraubt. Schäden in Höhe von mehr als 100 Millionen US-Dollar entstanden dort im Namen der westlichen Aufstandsbekämpfung. Ebenfalls im Namen der Aufstandsbekämpfung kooperieren der Westen und sein afghanisches Marionettenregime mit irregulären Milizen, die sich aus Warlords und oft aus Kriminellen zusammensetzen. Die Milizen seien in der Bevölkerung verhasst, vor allem wegen ihrer zahlreichen Übergriffe auf Zivilisten, ist beim Afghanistan Rights Monitor zu lesen. Inzwischen würden unter dem Deckmantel angeblicher Aufstandsbekämpfung überdies auch Privatfehden ausgetragen sowie politische Rivalen bekämpft. Die Zivilbevölkerung stehe stets zwischen allen Fronten.


Mit deutscher Beteiligung

Dass sich der Unmut jetzt auch gegen die Bundeswehr richtet, ist nicht nur allgemein der Tatsache geschuldet, dass sie Teil der westlichen Besatzungstruppen ist. Das Massaker von Kunduz, bei dem am 4. September 2009 auf Befehl eines deutschen Obersts bis zu 142 Zivilisten ums Leben kamen, ist in Afghanistan unvergessen. Ebenso ist sich die Bevölkerung im Klaren darüber, dass auch die Todeslisten (Joint Prioritized Effects List) mit den Namen zu ergreifender und zu tötender Gegner keineswegs nur von US-Militärs, sondern auch von deutschen Soldaten mit Informationen bestückt werden. Auf diese Todeslisten gehen gewöhnlich die nächtlichen Überfälle westlicher Militärs, die immer wieder - wie auch jetzt in Taloqan - zu heftigen Protesten führen, zurück.[6] Auf deutscher Seite ist an solchen Maßnahmen insbesondere die Task Force 47 beteiligt, die der Bundesregierung zufolge bis August 2010 an 21 "offensiven Operationen" teilgenommen hat, bei denen 59 Personen "zumindest vorübergehend" festgenommen wurden. Die Regierung legt Wert auf die Angabe, dass bei den Operationen deutsche Militärs niemanden getötet haben. Über Tötungen durch Angehörige verbündeter Streitkräfte, die an den Operationen ebenfalls teilnahmen, legt sie keine Angaben vor.



Anmerkungen:

[1] Afghanistan: Gewalttätige Demonstration in Talokan (3. Aktualisierung); www.bundeswehr.de 19.05.2011

[2] Afghanistan Annual Report 2010: Protection of Civilians in Armed Conflict; United Nations Mission in Afghanistan, Afghanistan Independent Human Rights Commission, Kabul, March 2011

[3] Afghanistan Rights Monitor: ARM Annual Report. Civilian Casualties of War January-December 2010, Kabul, February 2011

[4] Kate Clark: The Takhar attack. Targeted killings and the parallel worlds of US intelligence and Afghanistan, Afghanistan Analysts Network, May 2011

[5] Afghanistan Rights Monitor: ARM Annual Report. Civilian Casualties of War January-December 2010, Kabul, February 2011

[6] s. dazu Unrechtsstaaten
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58057


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2011