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PARTEIEN/082: Billard lernen - FDP und SPD vor der Wahl (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Billard lernen
FDP und SPD vor der Wahl

Von Thomas Meyer


Das neue Realitätsprinzip

Die Zeiten, da sich in der Bundesrepublik mit den Großparteien CDU und SPD zwei Richtungsalternativen gegenüber standen, die von der FDP bei der Regierungsbildung je nach Wählerentscheid moderiert wurden, sind Vergangenheit. Fünf-Parteien-System heißt die neue Realität. Dennoch, mit kleinem Vorbehalt bei den Grünen, präsentiert sich auch die neue Konstellation in Gestalt zweier Richtungslager, dem bürgerlichen und dem linken. Freilich sind diese Begriffe, wie fast alle anderen, mit denen wir in einer älteren politischen Sprache neue Realitäten zu fassen versuchen, höchst relativ. Die fundamentalistischen Obertöne ihrer Ursprungsphase passen nicht mehr.

Sobald sich die Linkspartei auch auf Bundesebene in dem für mögliches Mitregieren unerlässlichen Maße dem politischen Realitätsprinzip unterwirft, liegen Richtungswahlkämpfe mit anschließender Regierungsbildung im Muster des politischen Lagerdualismus nahe. Die Selbstausgrenzung der Linkspartei aus dem Spektrum der im Bund verantwortbaren Optionen für die Regierungsbildung erzeugt fürs erste für FDP und SPD ein spiegelbildliches Dilemma.


Ein spiegelbildliches Dilemma

Beide Parteien müssen im Sinne gebieterischer Wahlkampfrationalität einander als Hauptgegner vorführen. Denn für die FDP ist die SPD die einzige Partei aus dem gegnerischen Lager mit dem Potenzial einer führenden Regierungsrolle und daher das linke Hauptgespenst, der maßgebliche Anwalt des "Sozialismus". Sie muss sich ihren Wählern gleichzeitig als Marktgarant im Hinblick auf die "soziale" CDU und als einzig wirksamer Verhinderer einer wieder links gerichteten SPD präsentieren. Nur so kann sie ihr Stimmenpotenzial ausschöpfen und neben enttäuschten CDU-Wählern sogar auf verunsicherte SPD-Wähler der Mitte hoffen. Mit ihrer Glaubenstrias von Marktliberalismus, Staatsskepsis und eines von Solidarbindungen gereinigten Individualismus empfiehlt sie sich als äußerster Gegenpol zur Linken.

Dem entspricht spiegelbildlich exakt die logische Strategie der SPD. Ihre Wahlkampfzuspitzung, dass eine mögliche bürgerliche Regierung umso neoliberaler profiliert wäre, je stärker die FDP in ihr ist, trifft ja zu. Die SPD hat daher zwei Gründe, vor der FDP zu warnen. Zum einen natürlich, um eine bürgerliche Koalition zu verhindern und selbst zu regieren. Das ist ihr unmittelbares Interesse als Partei. Zum anderen aber auch, sozusagen als Dienst an der Gesellschaft, dass die Bäume der FDP, auch wenn es zu einer bürgerlichen Koalition käme, nicht in den Himmel schießen, um das Land vor zu viel Marktliberalismus zu bewahren. Eine Schonung der FDP kommt folglich nicht in Frage.


FDP und SPD - inmitten der Kampfzone

Daher ist die Auseinandersetzung zwischen FDP und SPD das Sinnzentrum dieses Wahlkampfes. Denn selbst für eine Auseinandersetzung mit der CDU gilt ja, dass diese in einer Koalition mit der FDP eine andere wäre als in der Großen Koalition. Das Prinzip Merkel besteht bekanntlich darin, in dem von ihr gepflegten Zwiespalt der CDU zwischen sozialer und neoliberaler Politik nach Bedarf zu changieren und diese prinzipielle Ortlosigkeit durch vages Auftreten zu vernebeln. Für die FDP besteht heute das Dilemma darin, dass sie trotz der "anti-linken" Festlegung im Falle des Verfehlens einer bürgerlichen Mehrheit doch eine Ampelkoalition erwägen muss, weil die Amtsinteressen ihrer Führung und die Legitimationsdefizite, falls sie abermals nur die Oppositionsrolle schaffte, dies gebieten könnten. Zwar hatte Guido Westerwelle, der große Zampano dieser Ein-Mann-Partei, das Profil der Liberalen nach der letzten Bundestagswahl gerade dadurch schärfen können, dass er ohne Zögern Koalitionsgespräche mit der SPD zurückwies. Diese "Standhaftigkeit" im bürgerlichen Lager trug einstweilen dazu bei, dass die FDP in der Folgezeit einen Wählerzuwachs gewinnen konnte wie nie zuvor.

Westerwelle weiß aber, dass dieses Potenzial nun ausgeschöpft ist und eine bloße Wiederholung der großen Geste von 2005 weder ihm noch der Partei zusätzlichen Gewinn brächte. Diesmal dürfte er wohl die letzte Macht-Option, aus "staatspolitischer Verantwortung" notfalls eben doch die Ampel zu suchen, kaum angewidert von sich weisen. Ein solcher Lagerwechsel bei der Regierungsbildung fällt der FDP als bloßer One-Man-Show paradoxerweise freilich schwerer als zu Zeiten Scheels oder Genschers, da eine Gruppe höchst unterschiedlicher Führungspersonen für sie stand, so dass Richtungswechsel zwischen markt- und sozialliberalem Akzent plausibel gemacht und durchgesetzt werden konnten.

Das gilt für die gegenwärtige FDP-Führung nicht, was einen Wechsel schwierig und für Westerwelle riskant macht. Freilich verfügt die Partei in der Außen-, Bildungs-, Rechts- und Sicherheitspolitik über Positionen, die auch für eine sozialdemokratisch geführte Regierung anschlussfähig sind, in den Schlüsselbereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik aber würde es heftig knirschen. Die dann fälligen Kompromisse würden Identitätsfragen beider Parteien streifen und damit innerparteiliche Debatten auslösen.

Aber da gibt es eine Brücke. Die ganz große Weichenstellung der Rückverlagerung wirtschaftsstrategischer Handlungskompetenz auf den Staat ist ja durch die Große Koalition schon vollzogen worden. Der Paradigmenwechsel zu großen Programmen direkter Verantwortungsübernahme des Staates bei systemrelevanten Unternehmungen mitsamt den gigantischen Kredit- und Bürgschaftsgarantien sind bereits getan. Das könnte der FDP das Stichwort liefern, nun, da mehr nicht geht, in einer Ampelkoalition dafür sorgen zu müssen, dass um des heiligen Marktes willen möglichst viel davon möglichst schnell wieder zurückgefahren wird. Wenn dabei Maß und Fristen offen sind, entbehrt ein solches Argument nicht einer gewissen Plausibilität.


Billard statt Speerwurf

Politik muss ja immer im spannungsgeladenen Feld zwischen den Polen wertorientierter Versprechungen, ihrer Umsetzbarkeit unter gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen und ihrer politischen Mehrheitsfähigkeit Wege der Verwirklichung suchen. Das wird im offenen Fünf-Parteien-System plötzlich überdeutlich. Vielen Wählern und den aufgrund ihrer Nachrichtenfilter auf eine eher digitale Welt festgelegten Massenmedien freilich bleibt das schwer zu vermitteln. Das müssen die Wahlkampfstrategen beherzigen, wenn spätere Frustrationen bei den Wählern ihrer Partei nicht ins Kraut schießen sollen. Soviel jedenfalls steht fest, für beide, FDP und SPD, wäre es aus politischen Gründen, die in der Logik des Fünf-Parteien-Systems selber liegen, keineswegs ein Prinzipienverrat, einander im Wahlkampf zunächst heftig zu befehden, um den anderen klein zu halten, und hernach gegebenenfalls zu kooperieren, um in tragbaren Kompromissen möglichst viele der eigenen Vorstellungen - statt als Opposition gar keine - verwirklichen zu können.

Zur Rationalität im Mehr-Parteien-System gehört eben auch Verständnis dafür, dass die Parteien im Wahlkampf ihre Wunschpolitik zugespitzt präsentieren, um je nach Wahlergebnis dann nach den Kompromissen zu suchen, die möglichst viel davon Realität werden lassen - freilich so lange im Ganzen gesehen der Identitätskern ihrer Vorstellungswelt unverletzt bleibt. Im Mehr-Parteien-System gilt, vielleicht nicht mehr, aber sichtbarer als zuvor, die erzdemokratische Einsicht Leonard Nelsons, dass der Kompromiss die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden ist - so lange freilich, wie es dabei nicht allein um Macht und Ämter geht, sondern um politische Zwecke.

Das Fazit für die SPD: Es ist politisch vernünftig - und im Übrigen auch ohne Alternative - die FDP zu attackieren, wo sie für wirtschaftsliberale Exzesse steht, gegebenenfalls aber auch, wenn bessere Alternativen nicht möglich sind, mit ihr zu kooperieren. Trotz ihrer momentanen Ein-Mann-Verfassung ist auch die FDP kein Monolith. In ihr könnten sich unter veränderten Bedingungen durchaus auch wieder Erinnerungen an die erfolgreichen Zeiten im Zeichen eines sozialeren Liberalismus regen.


Thomas Meyer (* 1943) ist Professor (em.) für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Soeben im VS Verlag erschienen: Was ist Demokratie? und Soziale Demokratie. Eine Einführung.
thomas.meyer@fes.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 49-52
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2009