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PARTEIEN/134: Jürgen Trittin - "Soziale Gerechtigkeit gehört bei den Grünen zum Grundkonsens" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013

Gespräch mit Jürgen Trittin
"Soziale Gerechtigkeit gehört bei den Grünen zum Grundkonsens"

Von Thomas Meyer



Jürgen Trittin, seit 2009 Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion und zuvor u.a. Bundesumweltminister, ist einer der beiden Spitzenkandidaten seiner Partei für die Bundestagswahl. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert er die Ursprünge des Sozialen in der grünen Programmatik, die Schnittmengen und Differenzen zwischen Grünen und SPD und warum beide Parteien im Herbst jeweils für sich kämpfen sollten.


NG/FH: Herr Trittin, die SPD begeht ihr 150-jähriges Jubiläum. Ein Punkt, der sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist die Frage nach den Abspaltungen von der SPD im Laufe ihrer Geschichte. Manche vertreten nun die Meinung, dass die Grünen in gewisser Weise auch eine Abspaltung von der SPD darstellen. Wahr ist zumindest, dass gar nicht so wenige jüngere Sozialdemokraten damals zu den Grünen gegangen sind. Ist in diesem Zuge etwas vom Erbe der alten Arbeiterbewegung in die Identität der Grünen mit eingegangen und bei den Grünen lebendig?

Jürgen Trittin: Ich sehe nicht, dass die Grünen eine Abspaltung der Sozialdemokratie wären. Es haben sicherlich manche Sozialdemokraten den Weg zu den Grünen gefunden, aber ebenso Konservative und ein ganz großer Teil von Linksradikalen oder Alt-Nach-68ern, die zuvor schon lange in Opposition zur SPD gestanden hatten.

Man kann aber sagen, dass Helmut Schmidt einer der Gründungsväter der Grünen war, weil sie sich explizit gegen ihn gegründet haben, denn die Mehrheit der Sozialdemokratie der damaligen Zeit war in zentralen Fragen wie der Raketen-Stationierung in Mitteleuropa und der Nutzung der Atomkraft gegen den Gründungsimpetus der Grünen.

Umgekehrt sind gerade die Teile, die aus der 68er-Bewegung gekommen sind und natürlich die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die in der Gründungszeit den Weg zu den Grünen gefunden haben, auch ein Produkt der historischen Öffnung der deutschen Gesellschaft, die mit dem Namen Willy Brandts verbunden ist. Das zeigt sich schon im ersten Wahlprogramm der Grünen. Die Grünen finden die Teilhabe möglichst aller Menschen am Wohlstand der Gesellschaft - das ist ja das Kerngebot einer sozialen Demokratie - richtig. Wo wir uns lange Zeit unterschieden haben, ist, dass der Gerechtigkeitsbegriff der Grünen immer generationenübergreifend gedacht und global durchbuchstabiert wurde. Man hat sich also schon sehr früh gedanklich aus dem nationalen Rahmen herausbewegt. Insofern gibt es Berührungen, Überschneidungen, aber auch eine andere Herangehensweise zwischen Grünen und SPD.


NG/FH: In den Programmen der Grünen tauchen die Begriffe "soziale Demokratie" und "soziale Grundrechte" auf. Sind diese Teil der grünen Identität? Steckt dahinter ein bestimmtes Verständnis von Demokratie? Oder bezieht sich das in der Hauptsache auf Sozialpolitik?

Trittin: Ein grundlegender Umbau der Industriegesellschaft unter den Bedingungen der Globalisierung führt notgedrungen zu zwei Geboten. Erstens: Jeder Umbau kennt Gewinner und Verlierer. Eine politische Akzeptanz bekommt man nur hin, wenn dieser Umbau sozial gerecht erfolgt, Menschen mitgenommen und gehört werden. Das ist Grundkonsens bei den Grünen. Die Frage nach der sozialen und demokratischen Verfasstheit einer Gesellschaft, die Bejahung des Sozialstaates und des demokratischen Prinzips ist essenziell für ökologische Politik.


NG/FH: Dieses grüne Verständnis von sozialer Demokratie und sozialer Politik wird in jüngeren Programmtexten der Grünen in einen Bezug zu sozialen Grundrechten gebracht. Diese werden aber in der Diskussion hierzulande eher selten thematisiert. Soziale Grundrechte sind ja eine Scheidemarke zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von Demokratie. Gilt für Sie: Keine Demokratie ohne soziale und wirtschaftliche Grundrechte?

Trittin: Bestandteil der sozialen Grundrechte ist ja das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft, verstanden als Teilhabe nicht nur am politischen Prozess, sondern auch am Wohlstand, am gesellschaftlichen Leben und an Arbeit. Für uns ist das nicht nur eine Frage, ob wir zur UN-Charta für soziale Grundrechte stehen, sondern eine Grundüberzeugung.


NG/FH: Spielt dabei für Sie auch das Konzept der Wirtschaftsdemokratie eine Rolle?

Trittin: Unsere Betonung von Partizipation beinhaltet die Partizipation im gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Die Regulierung der Unternehmenstätigkeit reicht nicht, es kommt auf die Qualität der Regulierung an. Unsere Erfahrung ist, dass Mitbestimmung nicht zu einer schlechteren Wirtschaftsführung, sondern zu einer besseren führt.


NG/FH: Worin liegen die Hauptunterschiede zwischen Ihrem Verständnis von Sozialpolitik und sozialer Demokratie und dem von SPD und Linkspartei?

Trittin: Bürgerliche und politische Rechte können ohne ein gewisses Maß an sozialem Rückhalt nur schlecht wahrgenommen werden. Grundsätzlich teilen wir daher die Einsicht, dass es keine Demokratie geben kann ohne soziale Sicherheit. Unsere Sozialpolitik hat aufgrund der Herkunft in sozialen Bewegungen und des basisdemokratischen Impulses immer stärker auf selbstorganisierte Strukturen gesetzt. Und ich halte unsere Sozialpolitik für inklusiver, da sie nicht nur auf klassische Arbeitnehmermilieus gerichtet ist sondern auch auf Minderheiten, andere Lebensstile, Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, abgehängte Milieus. Aber über diese Unterschiede hinweg könnten heute auf der praktischen Ebene Sozialdemokraten und Grüne in vielen Bereichen gut gemeinsam Politik machen.

Unterschiede gibt es sicher im Bereich der Modernisierung der Industriegesellschaft. Grüne wollten von Anfang an einen Umbau, eine Transformation der Industriegesellschaft und wir betrachten uns als mitten in dieser Transformation. Das ist das was wir in diesem Wahlkampf mit dem Begriff des grünen Wandels fassen. Da hat sich die SPD in den letzten zwei, drei Jahrzehnten allerdings mächtig auf uns zubewegt. Und auch die Grünen haben ihre Vorstellungen weiterentwickelt. Vor 20, 30 Jahren hätte man bei den Grünen noch fundamental gegen den Industrialismus gewettert. Heute bekennen wir uns ausdrücklich zu den industriellen Kernen unserer Wirtschaft, aber wir sprechen davon, dass wir unsere Industriestandorte ökokogisch modernisieren müssen. Wir haben dafür folgendes Bild entworfen: "Der Blaumann muss grün werden".

Uns wird gelegentlich von wirren Kommentatoren vorgeworfen, die neuen Konservativen zu sein. Das ist natürlich Unsinn. Wir sind eine Partei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung, die immer noch eine sehr starke Veränderungsbotschaft in die Gesellschaft trägt. Man kann uns aber vielleicht in der einen oder anderen Hinsicht als wertkonservativ beschreiben. Ökologische Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, internationale Solidarität, Bürger- und Menschenrechts-Orientierung - all das sind Werte, für die wir kämpfen. Wir waren und sind aber nicht strukturkonservativ.


NG/FH: Ist also das Prinzip der sozialen Demokratie heute Teil der grünen Identität?

Trittin: Also, in meiner Diplomarbeit über Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen der Partei Die Grünen bin ich schon damals zu dem Ergebnis gekommen, dass die Grünen im Kern ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen eine linke Partei sind, was man ja auch am Gründungskonsens von Karlsruhe [Gründungsparteitag der Grünen 1980, d. Red.] und späteren Wahlprogrammen erkennt.


NG/FH: Dafür standen speziell Sie ja immer in gewisser Weise, aber sicher nicht alle bei den Grünen.

Trittin: Nach 30 Jahren Grüne im Bundestag ist es erstaunlich, dass man mit Blick auf das Programm von damals feststellen kann: Es gibt da einen Bogen - in der Anfangszeit haben die Grünen das Soziale sehr deutlich betont. Das lag auch an der Präsenz von Kräften aus dem Linksradikalismus. Dann sind die Grünen, wie übrigens auch die Sozialdemokratie, die ja mal New Labor ganz toll fand...


NG/FH: ...Teile der Sozialdemokratie...

Trittin: ...ja gut, Teile, dann sind die Grünen durch eine Phase gegangen, in der man bis links der Mitte geglaubt hat, dass es doch besser wäre, mehr Dinge dem Markt zu überantworten. Danach sind die Grünen wieder zu dem zurückgekehrt, was Kernbestandteil ihrer Programmatik ist: Der Staat muss den Rahmen so setzen, dass der Markt überhaupt funktionieren kann. Markt ohne Regulierungsrahmen zerstört seine eigenen Voraussetzungen und führt zivilisatorisch in die Verrohung.


NG/FH: Haben diejenigen, die aus dem Linksradikalismus zu den Grünen kamen, ein Stück der Identität der alten Arbeiterbewegung mitgebracht oder haben sie diese sozusagen am Eingang beiseitegelegt und ganz neu angefangen?

Trittin: Das ist unterschiedlich und kommt darauf an, aus welcher Tradition der einzelne kam. Einige haben den Schritt als eine totale Verwandlung gesehen. Diejenigen, die eher aus dem undogmatischeren Lager kamen wie etwa dem Sozialistischen Büro, haben diese Tradition lange hochgehalten. Die ersten Programme für eine Transformation der Gesellschaft sind alle von Leuten aus diesen Milieus geschrieben worden. Es gab erhebliche Unterschiede je nach Gruppenzugehörigkeit. Die arbeitertümelnden Hardcore-K-Gruppen-Vertreter haben sich sehr schnell in Richtung ökolibertär bzw. ökoliberal entwickelt. Sie gehörten später im Wesentlichen nicht mehr zum linken Flügel der Grünen, sondern eher zu den Realos.


NG/FH: Zeigen diese Impulse Nachwirkungen bis heute oder hat sich das im Laufe der vielen Jahre seit Gründung der Grünen verflüchtigt?

Trittin: Eine linke Partei sind wir immer noch. Alle Bestrebungen die Grünen zur reinen Partei der Mitte zu machen, "nicht rechts, nicht links, sondern vorn", überall anschlussfähige Ökos ohne Verankerung in egalitär und emanzipatorisch geprägten Weltanschauungstraditionen, all diese Versuche sind gescheitert. Sie waren einmal stärker, haben aber nie die Mehrheit der Partei repräsentiert. Das gilt aber ja auch für die ganze Gesellschaft. Mit dem Ende des Neoliberalismus und spätestens nach der Lehman-Pleite sind viele der Dinge, die lange Zeit en vogue waren, als falsch und fragwürdig erkannt worden.


NG/FH: Zum Schluss eine Strategiefrage: Es gibt einerseits zwischen Rot und Grün große programmatische Übereinstimmungen, gerade im Bereich der sozialen Gerechtigkeit. Andererseits ist es regelrecht verpönt, von einem rot-grünen Projekt zu sprechen. Was ist daran eigentlich so abseitig?

Trittin: Ich bin aus zwei Gründen gegen die Proklamation eines rot-grünen Projekts. Das Eine ist die Erfahrung: Man ist damals in die erste bundesweite Regierungsbeteiligung hineingegangen und konnte die wirklichen Widersprüche, die es zwischen beiden Parteien gegeben hatte, nicht klar benennen. Man hat falsch harmonisiert. Und als guter Linker weiß ich, dass man das nicht tun sollte. Das Zweite ist etwas Pragmatisches: Wenn Sie nicht wollen, dass der IG-BCE-Kollege in der Lausitz wegen der doofen Grünen bei der Wahl zu Hause bleibt und wenn Sie nicht wollen, dass der Öko, weil er den Steinbrück nicht mag, sagt: "Dann gehe ich gar nicht hin", dann ist es hilfreich, wenn jeder erst einmal für sich kämpft. Desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zusammen reicht.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013, S. 52-56
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck (&dagger)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2013