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REDE/757: Merkel zum 60. Gründungsjahr der Deutschen Journalistenschule, 29.06.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Festakt zum
60. Gründungsjahr der Deutschen Journalistenschule am 29. Juni 2009 in München


Sehr geehrter Herr Brenner,
Herr Schwarzkopf,
Herr Staatsminister,
Frau Landtagspräsidentin,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren,

mit dem Wahlkampf kann es schon einmal gar nichts zu tun haben, dass ich hierher gekommen bin. Das wäre dumm ausgesucht, denn Sie sind ja alle unbestechlich. Ich habe natürlich auch darüber nachgedacht, warum ich die gegenüber meinem Vorgänger etwas aufwendigere Variante wähle, um Ihnen mitzuteilen, dass ich in dieser Frage, was die Wichtigkeit des Journalismus anbelangt, der gleichen Meinung bin. Ihnen dies jetzt mitzuteilen, ist sicherlich nicht der Grund; auch nicht, dass der Regierungssprecher selbst Absolvent dieser Schule ist. Es ist auch nicht der Grund - obwohl man bei näherer Befassung mit dieser Schule doch lange darüber nachdenken kann -, dass ich einen Studiengang gewählt habe, der auch mit einem Diplom endete, der sich aber umgekehrt proportional zur Ausbildung an dieser Deutschen Journalistenschule verhielt. Zumindest in der DDR wurden Physikstudenten immer gesucht, aber man musste dann eine ganz schwere Diplomprüfung machen. Bei Ihnen ist es umgekehrt: Die Aufnahmeprüfung scheint das Dramatische zu sein. Aber ich glaube nicht, dass meine Überzeugungskraft ausreicht, um Physikprofessoren zu erklären, dass allein die Aufnahme zum Studium schon einen guten Physiker garantiert. Die Welt ist halt vielfältig.

Ich bin heute hierher gekommen, um "60 Jahre Deutsche Journalistenschule" zu würdigen - eine Journalistenschule, die knapp vor der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde und damit ein Teil dieser Republik geworden ist - und um noch einmal Revue passieren zu lassen, wenn wir in diesen Tagen über "60 Jahre Bundesrepublik" nachdenken, was in dieser Zeit eigentlich alles gelungen ist, was an Weichenstellungen vorgenommen wurde in einer doch sehr schwierigen Zeit. Es gab damals Zerstörung in den Städten, Zerstörung in den Köpfen und trotzdem Menschen, die Weitsicht hatten, vieles auf sich genommen und vieles gegründet haben.

Diese Journalistenschule hat eigentlich einen Teil dessen, was unser Grundgesetz ausmacht, nämlich die freiheitlich-demokratische Staatsordnung, vorweggenommen. Sie hat durch ihre Gründung darauf aufmerksam gemacht, dass Unabhängigkeit der Medien konstitutiver Bestandteil unserer Ordnung ist. Das war nach der nationalsozialistischen Diktatur und nach einer unglaublichen Medienmanipulation natürlich ein Paukenschlag, es war eine Antwort auf den Hunger nach seriöser Information, nach Wahrheit, nach glaubwürdiger Meinungsbildung und nach neuen Standpunkten. Deshalb war die Gründung der Deutschen Journalistenschule ein wahrer Meilenstein der deutschen Mediengeschichte. Das Grundrecht der Freiheit der Berichterstattung konnte auch gerade durch diesen Meilenstein wieder Geltung erlangen. Deshalb ist die Deutsche Journalistenschule ein gutes Stück Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Ich gratuliere Ihnen dazu und weiß, dass ich in einer Zeit spreche, in der vieles von dem, was uns lieb und teuer geworden ist, durchaus wieder in eine Krise geraten kann. Wir leben in einem Jahr, in dem die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Deutschland vor unglaubliche Herausforderungen stellt. Das hat etwas mit Entwicklungen auf den Finanzmärkten zu tun, die letztlich nur möglich waren, weil es das Internet, Computer, die Informationsgesellschaft und die technischen Voraussetzungen dafür gibt. Eine solche Finanzmarktkrise wäre in diesem Umfang ohne diese technischen Möglichkeiten nicht möglich gewesen. Die Digitalisierung und das Internet haben unsere Welt verändert. Diese Veränderung trifft Sie, diejenigen, die mit den Medien zu tun haben, natürlich auch in ganz herausragender Weise.

Hubert Burda hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Erfindung und Entwicklung des Internets für die gesamte Gesellschaft sicherlich eine ähnlich revolutionäre Auswirkung haben werden wie die Erfindung des Buchdrucks. Das wird sich durch alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft hindurchziehen. Wir können heute vielleicht noch nicht genau absehen - ich würde es mir jedenfalls nicht zutrauen -, in welcher Art und Weise dies unser Leben insgesamt verändern wird. Aber es gibt unglaublich positive Seiten dieser Veränderung. Wir sind im Grunde in der Lage, jede Information über jeden Teil der Welt und über jeden Teil unserer Geschichte unmittelbar abzurufen. Das ist eine der günstigen Voraussetzungen dafür, dass wir lernen, global zu denken. Wir sind gerade mitten dabei. Das wird die nächsten Generationen ganz anders als uns prägen. Man wird von den zukünftigen Generationen erwarten, dass sie die Betrachtungswinkel Afrikas, Amerikas und Europas auch ein Stück weit parallel verfügbar haben, um die Welt verstehen zu können.

Aber das stellt uns natürlich auch insgesamt vor große Herausforderungen. Wenn man nämlich alles sofort abrufen kann, ist nicht mehr sicher, was man noch als dauerhaft verfügbares Wissen in seinem Kopf hat. Als wir die ersten kleinen Computer, Tafelwerke und dergleichen im Physikstudium hatten, hatten wir einen Mathematikprofessor des Fachbereichs Analysis, der von Zeit zu Zeit aufstampfte und sagte: Wenn Sie immer alles nachgucken wollen, was haben Sie dann im Kopf; und wenn Sie nichts im Kopf haben, womit wollen Sie eigentlich denken? Das hat sich mir sehr eingeprägt: Wenn man nichts im Kopf hat, kann man nicht denken. Und was man im Kopf hat, kann man nicht miteinander verknüpfen und macht dann im Grunde sinnlose oder nur noch physisch sinnvolle "Spaziergänge", die ansonsten keinen weiteren Erkenntnisgewinn mit sich bringen. Ich will die Frage gleich beantworten: Ich glaube, auch im Zeitalter des Internets sollte man manches permanent verfügbar haben, damit man sich sozusagen noch neue Dinge erschließen kann.

Sie sind auch damit konfrontiert, dass Sie als Journalisten alles an Informationen bekommen können. Sie haben allerdings auch eine Menge Konkurrenz in Form von Bloggern und Leserreportern bekommen, die alles schon einmal beschrieben haben. So müssen Sie nun natürlich darum kämpfen, Qualitätsjournalismus irgendwie von der Alltagsberichterstattung eines XY abzugrenzen. Die Frage stellt sich: Braucht man dann überhaupt noch Qualitätsjournalismus? Ich wäre nicht hierher gekommen, wenn ich nicht "Ja, natürlich" sagen würde. Ich bin im Übrigen sogar davon überzeugt - das wird Sie nicht verwundern -, weil die Frage der Gewichtung, der Qualifizierung all dieser Informationen vielleicht sogar mehr als früher von Bedeutung ist, weil vielleicht mindestens so sehr wie früher die Information selbst und ihre Kommentierung wieder auseinandergehalten werden sollten, aber auch, weil Kommentierung und damit auch Richtungssetzung in dieser so unendlichen Vielfalt von Informationen natürlich unabdingbar für die Meinungsbildung sind.

Sie sind dabei natürlich dennoch verschiedenen Pressionen ausgesetzt. Sie müssen heute viel mehr als früher überblicken und wissen, weil Ihnen nichts entgehen darf. Die Gefahr, dass man den ganzen Tag nur mit Informationsfindung beschäftigt ist und gar keine Zeit mehr hat, das übereinander zu stapeln, ist also, glaube ich, groß. Sie sind einem unglaublichen Zeitdruck ausgesetzt, der permanent zugenommen hat - sogar dramatisch, wenn ich mir allein die letzten 20 Jahre anschaue. Ich erinnere mich noch daran, als sich die CDU mit der Spendenaffäre zu beschäftigen hatte. Damals war noch nicht alles im Internet verfügbar, sondern man ging dann - das ist jetzt gerade zehn Jahre her - zu einem Bahnhof in Berlin, wo es an einer Stelle die "Süddeutsche Zeitung" vom nächsten Tag gab. Dann hat man wenigstens schon gewusst, worauf man sich einstellen musste. Es gab nur eine Zeitung, die nach dem Eintreffen der "Süddeutschen Zeitung" noch in der Lage war, den Andruck vorzunehmen. Das war die Zeitung "Die Welt", die in Berlin postiert war. Mit ihren Journalisten musste man dann sprechen, damit man die Meinungsbildung durch das, was die "Süddeutsche Zeitung" geschrieben hatte, am nächsten Tag noch irgendwo im Blatt hat.

Diese Sache ist natürlich inzwischen unendlich viel komplizierter geworden; das wissen Sie. Wir müssen uns als Politiker mehr beeilen, aber Sie sich eben auch. Manchmal ist die Kommentierung der gerade gedruckten Zeitung im Internet schon vorhanden und man befindet sich sozusagen in einem rollenden Informationszufluss, was uns wiederum die Zeit raubt, mitten in der Woche noch einen guten Kommentar oder eine tolle "Seite drei" zu lesen. Man legt sich das dann alles für das Wochenende hin - und damit hat "DIE ZEIT" eine völlig unerwartete Konkurrenz bekommen.

Auf jeden Fall ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass wir gemeinsam daran arbeiten, Qualitätsjournalismus zu haben, und dies natürlich sowohl im Fernsehen als auch in den gedruckten Medien, die im Augenblick einer besonderen Herausforderung ausgesetzt sind. Die Frage, wie sich Internet, Zeitungen, Privatrundfunk und -fernsehen sowie öffentlich-rechtlicher Rundfunk und öffentlich-rechtliches Fernsehen sozusagen miteinander in eine neue Balance bringen lassen, gehört zu den spannendsten Fragen, die es überhaupt gibt. Die Kochsendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und das Politische bei RTL - das geht ja noch. Aber bei den Frauenzeitschriften und dem Internetangebot des ZDF gibt es dann manchmal doch schon erhebliche Sorgenfalten. Ganz gefährlich wird es oder würde es werden, wenn man sagte, dass sich die Regionalzeitungen eine eigene Berichterstattung eigentlich nicht mehr leisten könnten und deshalb der permanenten Informationsunterstützung durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen bedürften. Das fände ich ein bisschen komisch. So können wir das nicht machen. Dafür waren die Rundfunkgebühren nicht gedacht. Wir müssen dabei schon auf eine bestimmte Trennung achten.

Das alles ruckelt sich hin, aber dahinter stehen Marktzugänge. Dahinter steht natürlich auch die Frage: Wie sieht das in Zukunft aus? Deshalb glaube ich, dass wir - ich sage bewusst "wir" - gemeinsam über die Frage nachdenken sollten - hier war gerade vom "Medienführerschein" die Rede; ich wusste nicht, ob damit die Journalisten angesprochen waren, aber ich habe mir dann erarbeitet, dass es um den Kunden ging -, wie wir die Medienkompetenz der jungen Leute, wie das heutzutage so schön heißt, stärken können. Das ist natürlich eine der anspruchsvollen Fragen. Dazu ist es, würde ich sagen, als erstes notwendig - wenn ich von Eltern höre, die Kinder haben, die ja schon früh im internetfähigen Alter sind -, dass die Eltern sozusagen mit den Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder mithalten. Das ist ein fast ausgeschlossenes Unterfangen, zumindest ein sehr anspruchsvolles, aber ein für eine alternde Gesellschaft auch wichtiges, weil es natürlich dem Gegenstand des lebenslangen Lernens auf ganz unauffällige Art und Weise Rückenwind verschafft, ohne dass wir uns staatlicherseits darum kümmern müssen. Insofern kann ich auch die Großeltern immer nur dazu ermutigen, sich an den Kenntnisstand der 13- und 14-Jährigen zu halten. Das belebt und schafft neue Einblicke.

Nun stellt sich die Frage, wie wir es schaffen, die Freude am Lesen zu erhalten, wenn es diese unendlichen Möglichkeiten des Internets gibt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob uns das in der Tiefe und Breite gelingen wird, wie wir das vor 60 Jahren noch gesehen haben. Aber wir sollten es zumindest gemeinsam versuchen. Es gibt viele wichtige Dinge - Zeitungen an der Schule oder junge Menschen zur eigenen Berichterstattung zu animieren -, aber die Konkurrenz durch die und der Wettbewerb mit den neuen Medien ist groß. Man weiß auch immer nicht ganz genau, ob man selbst schon veraltet ist, wenn man so sehr darauf beharrt, oder ob man eben doch etwas Wichtiges schützt. Aber ich glaube, ohne Lesefähigkeit wird es auch in Zukunft nicht gehen. Insofern sollten wir uns nicht nur voll auf den Bildschirm verlassen.

Das bedeutet: Wir müssen in diesen Fragen der Kompetenz etwas tun, wir müssen - das wird nach meiner festen Überzeugung auch die Lehrpläne an Schulen verändern - gemeinsam lernen, wie wir in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten Orientierung geben, weil sich Menschen, die alles gleichzeitig tun könnten, vielleicht zum Schluss gar nicht mehr entscheiden können, was sie sich davon aussuchen sollen. Es ist, glaube ich, die wichtigste Aufgabe in unserer heutigen Gesellschaft, Menschen nicht nur zu Betrachtern oder zu Menschen zu machen, die sich innerhalb eines ganz kleinen Kreises austauschen, sondern Menschen auch immer wieder dazu zu animieren, ihre eigene Endlichkeit durch das eigene Tun mitzuerleben.

Es ist so, wenn ich vor dem Fernseher sitze und ein Fußballspiel verfolge - hier war heute schon von Podolski die Rede -, dass ich die Kommentierung als simpel empfinde. Meistens ist sie nicht gut, selten eine Sternstunde. Wenn ich dann selbst anfange, meine Beine voreinander zu setzen, bin ich natürlich extrem unangenehm überrascht, wie weit meine Fähigkeiten von den Träumen und Wünschen, die ich in andere hineinprojiziere, entfernt sind. Deshalb ist es ganz wichtig, dass Medien in Zukunft Menschen um ihrer selbst willen immer wieder dazu animieren, sich selbst irgendwo zu engagieren, damit sie sich für etwas entscheiden müssen und damit auch in der Lage sind, eine Meinungsbildung für sich zu vollziehen, dafür Unterstützung zu suchen und damit auch zu mündigen Leserinnen und Lesern oder Zuschauerinnen und Zuschauern zu werden.

60 Jahre Deutsche Journalistenschule - die Frage, was zum 70., 80. oder 90. Geburtstag sein wird, lässt sich wohl nicht so sicher beantworten wie die Frage, wie man vom nullten Jahrestag bis zum 60. gekommen ist. Deshalb spreche ich neben meinen Glückwünschen die Zusage aus, dass wir seitens der Regierung in vielen Gemeinschaftsprojekten unterstützend tätig sein werden, sowohl beim "Netz für Kinder" als auch bei Initiativen für Printmedien und bei der Schulung von Medienfähigkeiten und natürlich auch dabei, dass Sie sich mit diesen grandiosen Veränderungen offensiv auseinandersetzen und die Medienwelt der Zukunft mitgestalten.

So, wie jetzt in dieser internationalen Wirtschaftskrise die Karten auf der Welt neu gemischt werden, so kann Deutschland zwar zur Freude der Kommunen Rechtsansprüche auf Kindergartenplätze gesetzlich regeln und vieles andere festschreiben, aber Deutschland kann nicht festschreiben, dass wir ein lebendiges, mobiles, neugieriges und damit ein in der Welt als kreativ angesehenes Land bleiben. In dieser Wirtschaftskrise wird sich zeigen, ob wir das schaffen. Ich glaube, wir können das. Genau dazu wird auch gehören, dass die Medien Deutschland auf diesem Weg unterstützen. Wir wollen nämlich nicht, dass unser Land eines Tages im Wesentlichen als Museumslandschaft ein Reiseziel sein wird, sondern wir wollen aktive Akteure in dieser Welt sein, die so spannend ist, die wir heute besser überblicken können als diejenigen, die vor 60 Jahren hier angefangen haben. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass das Leben auf dieser Welt menschlicher wird.

In diesem Sinne sage ich herzlichen Dank für Ihre Arbeit und herzlichen Glückwunsch. Strengen Sie sich an, damit nach mir auch noch Leute zu Jubiläen kommen können. Aber erst einmal freue ich mich, dass ich persönlich und physisch hier bin.


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Quelle:
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Festakt zum
60. Gründungsjahr der Deutschen Journalistenschule am 29. Juni 2009 in München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009