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REDE/767: Steinmeier in der Debatte zur Situation in Deutschland, 08.09.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, in der Debatte zur Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 8. September 2009 in Berlin:


Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!

In 19 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt. Auch wenn manche im Augenblick statt von der Wahl lieber vom Wetter reden, Herr Koppelin: Den Menschen ist klar - seien Sie gewiss -, dass wir vor schwierigen Jahren stehen, Jahren, die unser Land prägen und verändern werden, entweder zum Besseren oder zum Schlechteren. Es geht darum, ob wir bereit und in der Lage sind, die richtigen Lehren aus den Krisen zu ziehen, ob wir in der Lage sind, die soziale Balance in diesem Lande zu behalten, und ob wir uns auf den Weg hin zu einem wirklich nachhaltigen Wachstumsmodell machen.

Ich bin sicher, die Menschen werden ganz genau hinschauen, Herr Westerwelle, wer die richtigen Antworten auf die Fragen der Vergangenheit hat und wer eine klare Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll. Wer sich den notwendigen Lehren aus der Krise verweigert, der wird nicht mit seiner Politik scheitern, sondern der wird schon bei den Wahlen scheitern; das garantiere ich Ihnen.

Wir haben in den letzten Monaten auch Glück gehabt; das ist wahr. Aber dass die Krise die Menschen in Deutschland nicht mit aller Wucht getroffen hat, das alles ist doch nicht vom Himmel gefallen. Wir haben in Deutschland Brücken gebaut, die bisher einigermaßen getragen haben. Das ist doch nichts anderes, Herr Westerwelle, als das Ergebnis von Politik.

Trotz des Wahlkampfs sage ich: Das ist ein gemeinsamer Erfolg aller Beteiligten. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, während der letzten Rede im Deutschen Bundestag in dieser Legislaturperiode allen Abgeordneten, gleich welcher Partei, zu danken. Ich weiß, dass wir über vieles gestritten haben; auf einzelne Instrumente werde ich gleich eingehen. Ich weiß, dass wir in Ausschüssen und im Plenum gestritten haben, dass wir nach Kompromissen gesucht haben. Am Ende haben wir aber - auch das ist die Wahrheit - unter unglaublichem Zeitdruck im September und im Oktober vergangenen Jahres Entscheidungen gefällt, von denen ich überzeugt bin, dass sie den allermeisten Menschen in Deutschland auch weitergeholfen haben. Ich danke Ihnen dafür, dass das gelungen ist.

Ich darf noch einmal an die Diskussionen über den weit gespannten Rettungsschirm für die Banken erinnern, die wir zu Recht geführt haben. Der Rettungsschirm hat immerhin verhindert, dass es bei uns zu einem Zusammenbruch größerer Institute gekommen ist. Ich darf an den Streit erinnern, den wir darüber geführt haben, ob es ein Konjunkturprogramm geben soll und, wenn ja, in welchem Umfang. Wir haben das miteinander entschieden. Ich darf daran erinnern, dass wir für ein Investitionsprogramm für Städte und Gemeinden gekämpft haben. In all Ihren Orten zu Hause sind in den Sommerferien Schulen und Kindergärten saniert worden.

Ich stehe auch, Herr Westerwelle, für die Umweltprämie. Das sage ich Ihnen ganz offen. Es ist nämlich kein guter Ratschlag, den Menschen zu sagen: Wir haben noch schwierige Monate und Jahre vor uns, deshalb wäre es gut gewesen, die 250.000 Arbeitsplätze sofort preiszugeben. Das ist doch kein Ratschlag für eine Regierung und für ein Parlament: "auf besseres Wachstum hoffen".

Ich erwähne ausdrücklich die Diskussion um das Kurzarbeitergeld. Wir haben auf Vorschlag von Olaf Scholz hin nicht nur die Bezugsdauer verlängert, sondern wir haben es vor allen Dingen attraktiver gemacht. Zehntausende Unternehmen in Deutschland nutzen die Möglichkeit der Kurzarbeit.

All das zusammengenommen - ich will kein einzelnes Instrument zu weit hervorheben -, stelle ich fest: Dieser Mix von Instrumenten war es, der am Ende dazu geführt hat, dass bei uns nicht wie in Spanien die Arbeitslosigkeit von acht auf 18 Prozent gestiegen ist. Vielmehr haben wir den Anstieg von sieben auf acht Prozent begrenzen können, Herr Westerwelle. Dass uns das gelungen ist, ist das Ergebnis von Politik, und zwar, wie ich finde, richtiger Politik.

Es kann ja sein, dass wir in einzelnen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Das wird und muss auch so bleiben; denn das - Sie haben Recht - gehört zu einer parlamentarischen Demokratie. Aber was wichtiger ist - das muss man am letzten Sitzungstag der Legislaturperiode dieses Deutschen Bundestags vielleicht einmal festhalten -: Die politischen Institutionen in Deutschland - das ist nicht selbstverständlich - haben sich in der Krise bewährt. Deshalb darf ich mitten im Wahlkampf und trotz Ihrer Rede allen, die jetzt ausscheiden und daran in Zukunft nicht mehr mitwirken können, einen herzlichen Dank aussprechen.

Ich möchte besonders einen Kollegen hervorheben. Lieber Peter Struck, du warst so etwas wie der Hausmeier der Großen Koalition. Du warst derjenige, der immer gesagt hat: Die beiden großen Volksparteien haben 2005 keinen Wahlkampf für eine Große Koalition geführt, aber es war eben das Ergebnis des Wählervotums. Mit Blick auf die vergangenen vier Jahre sage ich im Unterschied zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wir haben das Beste daraus gemacht. Dass die Bilanz der Großen Koalition, dass die Bilanz dieser Regierung eine sozialdemokratische Handschrift trägt, ist ganz wesentlich das Verdienst von Peter Struck. Deshalb dir, lieber Peter, ganz herzlichen Dank.

Ich bleibe dabei: Unser politisches System hat sich in der wirtschaftlichen Krise bewährt. Eines ist mir und den meisten von Ihnen, denke ich, aber auch klar: Das Vertrauenskapital, das wir uns in den letzten Monaten - davon bin ich überzeugt - erarbeitet haben, darf jetzt nicht leichtfertig verspielt werden. Ich bin davon überzeugt, dass es weltweit eine Rückkehr der Politik geben wird. Der Glaube an die ungehemmten Marktkräfte ist erschüttert. Nur einige Großbanken - das gilt auch für Deutschland - glauben noch an die Selbstreinigungskräfte des Bankensektors und an erzielbare Renditen von über 25 Prozent. Und weil das so ist, muss die Politik gerade jetzt am Ball bleiben. Gerade jetzt brauchen wir eine mutige Politik, eine Politik mit Kompass und Richtung. Wer, wie mancher hier im Hause, Herr Westerwelle, bei dem Begriff Sozialstaat in erster Linie an bezahlte Faulheit denkt, der hat diesen Kompass eben nicht. Wer in einer solchen Situation, in der den meisten in Deutschland klar ist, was in den nächsten Monaten und Jahren auf uns zukommen wird, massive Steuersenkungen verspricht, täuscht die Wähler über das hinweg, was in diesem Land wirklich möglich ist. Und auch das kostet Vertrauen in Demokratie.

Eines darf ich Ihnen hier im Saal und darüber hinaus versichern: Mit meiner Partei, mit der SPD, wird es keinen Abbau des Sozialstaates geben. Mit der SPD bleibt es bei einem handlungsfähigen Staat. Damit kein Missverständnis über das Staatsverständnis der SPD aufkommt: Wenn ich von einem handlungsfähigen Staat spreche, dann meine ich nie einen Staat, der die Bürger von morgens bis abends bevormundet, sondern dann rede ich von einem Staat, der in der Lage ist, Beistand zu leisten. Und wie notwendig das ist, sehen wir doch gerade jetzt, in der Krise.

Ich bin fest davon überzeugt - das entspricht nicht dem Programm der FDP -, dass wir vor Jahren stehen, in denen der Rückzug des Staates nicht mehr auf dem Programm stehen wird. Ganz im Gegenteil: Was wir brauchen, ist nicht ein Rückzug des Staates, sondern die Rückkehr von Politik. Deshalb sage ich: Die Jahre, die vor uns liegen, werden entweder mutige Jahre der Gestaltung, oder es werden verlorene Jahre sein, Herr Westerwelle. Die letzten waren es nicht.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir das wirklich wollen, wenn wir die Kraft haben, wenn wir den Mut haben und wirklich einsteigen, den internationalen Finanzmärkten neue Regeln geben können. Sie erinnern sich: Peer Steinbrück und ich haben Anfang des Jahres Vorschläge dazu gemacht. Wir haben das, was wir für notwendig halten, auch auf den Tisch dieses Hauses gelegt. Peer, dir einen ausdrücklichen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz. Lass dich bitte nicht unterkriegen, nicht in Pittsburgh, nicht in Brüssel und erst recht nicht zu Hause.

Wir können die Weichen in der Wirtschaft anders stellen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie anders stellen müssen: weg vom schnellen Geld, weg von einer Politik der Ausplünderung von Unternehmen und hin zu mehr Nachhaltigkeit. Wir können durch eine vernünftige Integrations- und Bildungspolitik erreichen, dass es in diesem Lande gut ausgebildete Menschen, die wir für die Arbeitsplätze von morgen brauchen, gibt. Darauf kommt es an und nicht auf eine vage Rückkehr in die alte Welt. Was ist das überhaupt, die alte Welt, in die manche zurückwollen? Das Deutschland Adenauers? Das Deutschland Erhards? Das Deutschland Helmut Kohls? Ich sage nur: Wenn man sich manches kleinkarierte Gezänk anhört, das im Augenblick zwischen der FDP und einzelnen Vertretern der CSU stattfindet, dann fühlt man sich jedenfalls atmosphärisch - so habe ich das in Erinnerung - in die letzten Kohl-Jahre zurückversetzt.

Ich habe - im Unterschied zu vielen anderen - gesagt, wie ich mir den Weg in die Zukunft dieses Landes vorstelle. Ich habe das Konzept dazu öffentlich zur Diskussion gestellt. Ich habe dargestellt, wo wir ansetzen müssen, um Arbeit, Arbeitsplätze und Wohlstand von morgen zu schaffen. Es geht um Energie- und Ressourceneffizienz. Wir sind inmitten einer großen, einer gewaltigen technologischen Umwälzung. Stichwort Effizienzrevolution: Niemand in der Welt ist besser aufgestellt als wir in Deutschland mit leistungsfähigen Großunternehmen, mit einem innovativen Mittelstand, mit hervorragenden Ingenieuren und Facharbeitern. Ich sage Ihnen: Wenn uns das gelingt, wenn wir den Mut und die Kraft haben, die Weichen jetzt richtig zu stellen, dann können wir Ausrüster der Welt von morgen sein. Ich füge hinzu: Wir müssen Ausrüster der Welt sein, wenn wir Arbeitsplätze und Menschen mit der dafür erforderlichen Qualifikation in ausreichender Zahl bei uns halten wollen.

Ich freue mich, dass über diese Vorschläge eine öffentliche Diskussion entstanden ist. Entgegen mancher Erwartung ärgere ich mich nicht; denn Kritik gab es nicht aus der Fachwelt, nicht aus der Wirtschaft, sondern allenfalls von der politischen Konkurrenz. Einige haben mir vorgehalten, das Ziel Vollbeschäftigung sei unredlich. Ich sage: Ich werde mich niemals mit Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande abfinden.

Noch viel wichtiger ist mir aufgrund meiner Erfahrung in der Politik: Wer sich keine anspruchsvollen, keine hohen Ziele setzt, wird immer hinter seinen Möglichkeiten bleiben. Deshalb sage ich: Nur wer die Dinge zusammen sieht, nur wer sieht, wie Bildung, Forschung, Arbeitsmarkt, Integration und Gleichstellung zusammenwirken und ineinandergreifen, wird in der Lage sein, in diesem Lande die Weichen richtig zu stellen. Wir sind es.

Ich nenne nur ganz kurz ein Beispiel zur Energiepolitik: Ich finde es richtig, dass wir uns im letzten Jahr aufgemacht haben, Vorreiter bei der Klimapolitik zu sein. Aber es geht nicht an, dass wir auf der einen Seite international Musterschüler sind und auf der anderen Seite im Wahljahr hier bei uns zu Hause Energiepolitik von gestern machen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wer jetzt ein Zurück zur Kernenergie proklamiert, der dreht die Energiewende zurück, der wird dafür sorgen, dass wir den Vorsprung, den wir im Augenblick bei der neuen Energietechnologie haben, sehr schnell wieder einbüßen. Er wird vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze, die wir in diesem Bereich so dringend brauchen, in Zukunft nicht mehr entstehen.

Eine letzte Bemerkung mit Blick auf den vergangenen Samstag: Wer den Atomkonsens von 2000 infrage stellt, reißt einen alten gesellschaftlichen Großkonflikt in diesem Lande wieder auf. Frau Merkel, Sie kennen das noch aus den 90er Jahren: volle Zwischenlager, verstrahlte Castoren und kein Ausweg in der Energiepolitik. Das ist jedenfalls nicht die Energiepolitik, die unser Land braucht. Deshalb sage ich mit Sigmar Gabriels Worten: Es muss beim Ausstieg aus der Atomenergie bleiben.

Wenn ich von Weichenstellungen rede, dann geht es um Arbeit und Umwelt, aber auch um Löhne und Gehälter. Es muss in diesem Hause doch ein gemeinsamer Grundsatz sein, dass Menschen, die arbeiten, von ihrem Lohn auch vernünftig leben können müssen. Das ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern - das ist mir mindestens genauso wichtig; das sage ich mit großer Ernsthaftigkeit - das ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Denn unser deutsches Wirtschaftsmodell wird nur dann nachhaltig sein, wenn wir einen starken Export haben; dafür arbeite ich. Wir dürfen uns aber nicht nur auf den Export stützen, sondern müssen gleichzeitig auch für eine starke Binnennachfrage sorgen. Anders funktioniert das nicht. Das ist nicht nur ein sozialdemokratischer Wachstumstraum, sondern das, worüber ich rede, ist auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Deshalb brauchen wir in unserem Land anständige Löhne.

Wer anständige Löhne will, der muss auch den zweiten Schritt tun und sagen: Da Löhne Angelegenheiten der Tarifvertragsparteien sind, brauchen wir auch starke Gewerkschaften, die darüber verhandeln. Wie Sie wissen, bin ich viel unterwegs, und ich weiß, dass dieser Ratschlag nicht überall angenommen wird. Wir alle waren vor kurzem in Thüringen unterwegs, in einem Land, in dem gerade noch 20 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden sind. Durch solche Entwicklungen wird eine Spirale nach unten in Gang gesetzt. All das hat schon stattgefunden. Aber ich frage Sie: Wie soll denn jemand, der mit 3,75 Euro pro Stunde abgespeist wird, bei der Arbeit Einsatz zeigen? Das ist nicht nur in Thüringen, aber auch dort ein Thema. Deshalb brauchen wir flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne. - Wir sind in dieser Frage ein Stück vorangekommen, aber nicht weit genug. Ich kämpfe vor allen Dingen dafür, dass das, was wir erreicht haben, nicht rückabgewickelt wird. Darum geht es.

Die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts - das sage ich nicht einfach nur so daher - wird das Thema Bildung sein. Sie werden bestimmt sagen: Das sagt jeder. Das ist wahr, das sagen alle. Bildung ist die Schlüsselaufgabe, der wir uns stellen müssen. Gelingt es uns, in diesem Bereich Fortschritte zu machen, wird uns auch das nächste Jahrzehnt gelingen, mit ordentlichem Wachstum und zum Vorteil unserer Gesellschaft. Wenn wir aber nichts tun, wenn wir die Weichen falsch oder gar nicht stellen, dann haben wir im nächsten Jahrzehnt beides: auf der einen Seite einen Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren und auf der anderen Seite trotzdem eine hohe Arbeitslosigkeit. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Deshalb müssen wir die Weichen beim Thema Bildung richtig stellen.

An dieser Stelle widerspricht noch keiner. Aber die meisten werden unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Konsequenzen das hat. Ich sage: Bildung kostet Geld, und wir dürfen uns in den nächsten Jahren nicht künstlich arm machen. Wer es mit der Bildung ernst meint, der muss auch bereit sein, dafür Geld auszugeben. Dafür muss aber auch Geld eingenommen werden.

Ich weiß, dass es im Wahlkampf nicht ganz einfach ist, Vorschläge zu machen, woher das dafür benötigte Geld kommen soll; auch wir haben intern lange über diese Frage diskutiert. Wir sind allerdings der Meinung: Wenn wir beim Thema Bildung ernst genommen werden wollen, dann müssen wir auch sagen, woher das Geld kommen soll. Ich habe die Einführung eines zweiprozentigen Aufschlags auf den Spitzensteuersatz, den Bildungssoli, vorgeschlagen. Das wäre verträglich. Ich habe mit vielen Wirtschaftsvertretern Gespräche geführt. Man hat mir gesagt: Wenn ihr wirklich sicherstellen könnt, dass das Geld, das dadurch reinkommt, für die Bildung verwandt wird, dann bin ich bereit, das zu zahlen. - Ich sage: Wenn wir das machen, dann geht jeder Cent davon in die Bildungspolitik, dahin, wo er dringend gebraucht wird.

Nun geht diese Legislaturperiode zu Ende, und Gesetze werden nicht mehr gemacht. Dennoch tragen wir noch ein paar Tage gemeinsam die Regierungsverantwortung. Frau Merkel, Sie werden zusammen mit Peer Steinbrück die Bundesregierung auf dem G20-Gipfel vertreten. Sie haben erklärt, dass Sie sich für strenge Regeln für die internationalen Finanzmärkte einsetzen wollen. Ich versichere Ihnen: Meine und unsere Unterstützung haben Sie dabei. Glaubwürdig wird die deutsche Öffentlichkeit diese Position aber nur dann finden, wenn wir das, was wir international fordern, auch zu Hause tun.

Unser Oberlateiner kommt gleich noch. Hic Rhodus, hic salta, würde er wahrscheinlich sagen. Aber ich muss anfügen, dass es mit der CDU/CSU leider über viele Monate hinweg nicht möglich war, die steuerliche Absetzbarkeit von Abfindungen, die sich nicht nur auf die festen, sondern auch auf die variablen Bestandteile von Gehältern beziehen, einzuschränken. Es war auch nicht möglich, den Boni-Wahnsinn ernsthaft zu begrenzen. Wir hatten vorgeschlagen, den festen und den flexiblen Gehaltsbestandteil in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Das ist uns leider nicht gelungen. So bleibt es eine Aufgabe für die kommenden internationalen Verabredungen. Peer Steinbrück wird in Pittsburgh dafür kämpfen. Ich möchte Sie, Frau Bundeskanzlerin, bitten, ihn darin mit Nachdruck zu unterstützen.

19 Tage sind es noch bis zur Bundestagswahl. Ich bin so gespannt wie Sie alle. Sie wissen, dass wir bis zum letzten Tag gespannt bleiben werden, weil sich die Menschen offenbar immer später entscheiden und weil man in einem Parlament mit vermutlich sechs Parteien immer schlechter voraussagen kann, in welchen Konstellationen und Koalitionen es nach der Wahl weitergeht, welches Bündnis regieren wird. Deutschland braucht jedenfalls - darum geht es mir nur - in den nächsten vier Jahren eine Regierung, die von dem Willen, zu gestalten, beseelt ist; eine Regierung, die mit aller Kraft die Arbeitslosigkeit bekämpft; eine Regierung, die Arbeit zu fairen Bedingungen und anständigen Löhnen organisiert; eine Regierung, die mehr Geld in Zukunftsbranchen, in Forschung und Bildung steckt; eine Regierung, unter der alle Kinder faire Chancen bekommen; eine Regierung, die Solidarität und soziale Sicherheit nicht zur Disposition stellt. Das ist das Regierungsbündnis, für das ich kämpfe und für das ich mir am 27. September eine Mehrheit wünsche.

Ich wünsche meinem Land, dass ihm eine andere Regierung erspart bleibt, eine Regierung nämlich, die sich mit weniger zufriedengibt; eine Regierung, die den Staat arm macht; eine Regierung, die das Gesundheitswesen lieber privatisieren als stabilisieren will; eine Regierung, die den Kündigungsschutz schwächen will; eine Regierung, die die Mitbestimmung als Folklore abtut. Ich wünsche mir, dass das an unserem Land vorbeigeht.

Aber mir geht es wie Ihnen: Die Wählerinnen und Wähler werden ihr Urteil sprechen. Ich kann Ihnen versichern: Dieses Urteil wird anders ausfallen, als sich das manche hier wünschen. Ich bin fest davon überzeugt: Dieses Land, Deutschland, ist ein sozialdemokratisches Land, und es gibt nur eine Sozialdemokratische Partei. Deshalb werden sich Ihre Blütenträume von Schwarz-Gelb nicht erfüllen. Das war 2002 nicht so, das war 2005 nicht so, und das wird 2009 wieder nichts.

Herr Westerwelle, es geht um unser Land - da haben Sie Recht -, aber es geht nicht um Sie.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 93-5 vom 08.09.2009
Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,
in der Debatte zur Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag
am 8. September 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009