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REDE/775: Dr. Heinz Riesenhuber - Konstituierende Sitzung des Bundestages, 27.10.2009 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Ansprache des Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages,
Dr. Heinz Riesenhuber, zur Eröffnung der konstituierenden Sitzung des
17. Deutschen Bundestages am 27. Oktober 2009 in Berlin


Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich begrüße Sie zur konstituierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestags.

Parlamentarischer Brauch ist es - das entspricht unserer Geschäftsordnung; ich kann die Paragrafen zitieren -, dass der Älteste die erste Sitzung des Bundestags eröffnet. Ich bin am Sonntag, dem 1. Dezember 1935, geboren. Wenn jemand von den Kollegen im Saal älter ist als ich, dann spreche er jetzt oder er schweige für immer.

Unser Präsident würde sagen: Ich höre und sehe keinen Widerspruch.

Meine Damen und Herren, damit rufe ich Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten.

Ich eröffne die erste Sitzung in der 17. Wahlperiode.

Ich begrüße den Herrn Bundespräsidenten. Wir freuen uns, Herr Bundespräsident, dass Sie wieder bei uns sind.

Ich begrüße herzlich die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Rita Süssmuth.

Sie haben uns mit Würde und Klugheit über die Jahre geführt - die Verbundenheit bleibt.

Ich habe die Freude, Botschafter und Missionschefs zahlreicher Staaten hier zu begrüßen. Sie alle sind herzlich willkommen - in der Verbundenheit der Gemeinschaft der Völker.

Ich darf einen einzigen Kollegen besonders begrüßen, weil er heute mit uns seinen Geburtstag feiert, die schönste Party, die man sich vorstellen kann. Es ist der Kollege Henning Otte, dem ich herzlich gratuliere.

Bis zur Beschlussfassung über die Geschäftsordnung, die sich der 17. Deutsche Bundestag nach der Wahl des Bundestagspräsidenten geben wird, verfahren wir nach den Regeln, die für den 16. Deutschen Bundestag gegolten haben.

Nach Absprache mit den Fraktionen benenne ich als vorläufige Schriftführerinnen und Schriftführer folgende Damen und Herren Abgeordnete: Jens Ackermann, Dorothee Bär, Doris Barnett, Cornelia Behm, Klaus Brähmig, Michael Brand, Angelika Brunkhorst, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Fuchtel, Diana Golze, Markus Grübel, Klaus Hagemann, Jürgen Herrmann, Josip Juratovic, Ute Koczy, Jens Koeppen, Dr. Rolf Koschorrek, Katrin Kunert, Sibylle Laurischk, Monika Lazar, Paul Lehrieder, Ingbert Liebing, Michael Link, Gabriele Lösekrug-Möller, Maria Michalk, Sibylle Pfeiffer, Daniela Raab, Marlene Rupprecht, Elisabeth Scharfenberg, Marianne Schieder, Dr. Harald Terpe, Florian Toncar, Alexander Ulrich, Josef Philip Winkler, Dr. Claudia Winterstein, Jörn Wunderlich und Sabine Zimmermann. - Damit haben wir den schwierigsten Teil geschafft.

Ich darf die Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel und Dr. Claudia Winterstein bitten, neben mir Platz zu nehmen. Während Hans-Joachim Fuchtel mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit näherkommt,

darf ich ihm meinen besonderen Dank für die 23 Jahre aussprechen, die er als Schriftführer dem Deutschen Bundestag gedient hat. Das ist eine einmalige Leistung. Geduld in den Debatten hat ihn ausgezeichnet. Jetzt geht er auf die Regierungsbank, um Deutschland für die nächsten 23 Jahre zu gestalten.

Damit haben wir den ersten Teil der Regularien erledigt. Ich möchte Sie nochmals begrüßen. Ich habe die Freude, jetzt einige Worte sagen zu dürfen. Die besondere Gnade dieses Moments ist, dass man sagen darf, was man schon immer sagen wollte.

In den USA beginnt man eine Rede mit einem Witz, in Japan mit einer Entschuldigung. Ich beginne mit einer Zusage: Ich werde diesmal das Mikrofon nicht verlassen - ich bin danach gefragt worden -, auch wenn es der Lebendigkeit der Rede abträglich sein könnte.

Ich begrüße die neuen Kollegen, die zu uns gekommen sind, und diejenigen, die viele Jahre mit uns gemeinsam gearbeitet haben. Ich begrüße Sie alle sehr herzlich im 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland, im 20. Jahr seit dem Fall der Mauer, im 10. Jahr, seit wir hier in Berlin, in unserer Hauptstadt, arbeiten. Ich begrüße Sie alle.

Wir haben gemeinsam den Auftrag, den Nutzen des deutschen Volks zu mehren, Schaden von ihm zu wenden und nach unserem Gewissen zu entscheiden. Wir werden uns in Debatten streiten. Wir werden in den Ausschüssen arbeiten. Aber eines war uns immer gemeinsam: die Achtung vor jedem Kollegen und seiner Meinung, die Bereitschaft zum sachlichen Argument, die Fähigkeit, Kompromisse zu prüfen, die Entschlossenheit, zu entscheiden und dann voranzuschreiten. So wollen wir es auch in einer schwierigen Zeit halten.

In schwierigen Zeiten - sagt Sir Karl Popper - ist Optimismus Pflicht. Ermutigend ist, dass den Deutschen die Zuversicht nicht abhanden gekommen ist. Wir haben in diesem Jahr in kurzer Zeit sehr harte Entscheidungen sehr schnell treffen müssen. Im Zusammenspiel zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung haben wir Entscheidungen getroffen, die auch nach weiteren Monaten der Krise Bestand haben.

Jetzt werden wir hier neue Rahmenbedingungen setzen müssen, Rahmenbedingungen, die dazu beitragen, dass uns eine solche Krise nicht mehr passiert. Wir müssen sie setzen, bevor die Bereitschaft und die Entschlossenheit dazu allzu sehr abschlaffen. Da gibt es Maßnahmen, die vorgeschlagen und diskutiert worden sind. Dabei geht es um die Aufsicht der Banken, die Eigenkapitalunterlegung bei deren Geschäften, die Mittelfristigkeit und die Langfristigkeit der Managergehälter, die Frage einer europäischen Ratingagentur. Zu diesen und vielen anderen Fragen hat die Bundesregierung gesprochen, dazu haben die G 20 diskutiert. Sie haben erste Entscheidungen getroffen. Dies ist der Beginn einer Diskussion, die über die einzelnen Punkte hinausreicht; denn wir müssen uns weltweit einigen. Die Märkte wirken weltweit, und deshalb muss auch der Rahmen für die Märkte weltweit sein.

Dies ist nicht selbstverständlich. Amerika und England denken anders über Finanzmärkte als wir. Deutschland denkt anders, Frankreich denkt anders. Aus diesen verschiedenen Vorstellungen von Wirtschaft und Finanzen einen weltweit gültigen Rahmen zu bauen, das bedarf einer sehr grundsätzlichen Diskussion; denn das, was hier entstehen kann, ist eine Marktordnung in der Welt, die, wenn es gelingt, dauerhaft ist. Ob es gelingt, weiß man erst später. In Anlehnung an Vergil ist zu sagen: "Novus ab integro saeculorum nascitur ordo" - eine neue Ordnung entsteht aus den Tiefen der Zeit. Das kann man erst sagen, wenn es vorbei ist. Erst dann weiß man, ob es gelungen ist.

In diese Diskussion werden wir einzubringen haben, was wir in der sozialen Marktwirtschaft und mit der sozialen Marktwirtschaft gelernt haben: die Partnerschaft der Tarifpartner, den Rahmen, in dem der Tüchtige tüchtig sein kann, weil er Freiraum hat, in dem er das Geld erarbeitet, mit dem wir denen helfen können, die Hilfe brauchen. Das ist die Idee der sozialen Marktwirtschaft. In dieser Verantwortung für das Ganze, für die Gemeinschaft zu arbeiten, das wird die Aufgabe der kommenden Jahre sein. Wir werden hier für das, was unsere Gesellschaft und unsere Gemeinschaft bestimmt hat, zu arbeiten haben.

Dabei wird es wichtig sein, dass wir ein hohes Maß an Freiheit bewahren können. Der Rahmen muss fest sein, aber der Freiraum muss reichen. Damit dies gelingt, wäre es natürlich eine gute Sache, wenn auch die anderen, die Banken und die Unternehmen, von sich aus Entscheidungen treffen würden, die für dauerhafte Stabilität sorgen. Die Ethik reicht immer weiter als das Gesetz.

Ich finde es sehr ermutigend, dass wir in diesen Tagen lesen können, dass ein großes Automobilunternehmen die Vorstandsgehälter begrenzt hat: nach dem Maß der Entwicklung der Einkommen der Mitarbeiter. In dem Maße, in dem die Unternehmen Verantwortung übernehmen, wächst die Freiheit für das Ganze. Diese Freiheit brauchen wir; denn in dieser Zeit, in der wir große Aufgaben haben, können wir die Zukunft nur mit Innovation schaffen. Innovation gedeiht und Kreativität entwickelt sich nur im Raum der Freiheit. Deshalb sind auf der einen Seite die Planwirtschaften weitgehend untergegangen, und deshalb bauen wir auf der anderen Seite Bürokratien ab. Das entspringt nicht nur dem Willen, Kosten zu sparen, sondern auch dem Willen, dass die Leute, die die Arbeit tun, sich auf ihre Arbeit konzentrieren können und sich nicht auf die Vorschriften konzentrieren müssen. Je selbstverständlicher diese Ethik wird, umso leichter wird das werden.

Die Innovation kann unsere Zukunft sichern, allerdings nur im Wettbewerb, in einer offenen Welt. Wir wollten diese offene Welt. Wir stehen im Wettstreit mit technisch starken Nationen, mit Nationen, die sehr viel geringere Löhne zahlen. Wir können in diesem Wettstreit nur überleben, wenn wir besser und schneller als andere neue Problemlösungen entwickeln, wenn wir schon vor dem Kunden wissen, was der Kunde eigentlich will. Das ist zwar nicht Sache des Bundestages, aber der Bundestag muss mit die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Unternehmer, die Forscher und die Manager Zukunft gestalten können.

Wir sind in einer Lage, wo das Neue uns mit großer Kraft zuwächst. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle fünf Jahre - dies kann noch schneller werden -, und es wird weltweit geteilt. Die weltweite Gemeinschaft, die Wissensgesellschaft bietet jedem offenen Zugriff auf alles, wenn er alles, was er hat, mit einbringt. Es ist eine Gesellschaft, die aus Wissen lebt, die mit Wissen wächst, die mit Wissen verantwortlich umzugehen versteht, in der Wissen überall und jederzeit für jeden zugänglich ist.

Es ist die Welt der Quanten, die wir langsam verstehen lernen - von der Vision des Quantencomputers bis zur Nanotechnologie, wo im Allerkleinsten die Materie andere Eigenschaften hat. Es ist die Welt der Gene, die neue Möglichkeiten schafft. Nur ein Viertel der Krankheiten, die wir kennen, können wir an der Wurzel fassen. Gentechnologie eröffnet die Chance, dass wir Krankheiten heilen, dass wir menschliches Leid lindern, dass wir gleichzeitig aus Wissen neue Märkte, neue Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum schaffen.

Es ist die Welt der Computer, die schon jetzt unseren Alltag beherrscht. Die Leistung der Chips verdoppelt sich alle 18 Monate, und es halbiert sich ihr Preis. Daraus entstehen Internet und Unterhaltungselektronik. Daraus entsteht eine Fülle von Möglichkeiten in Chemie und im Maschinenbau. Daraus entsteht eine Fülle von Möglichkeiten im Automobilbau. Daraus entstehen lauter Arbeitsplätze, die für unsere Zukunft wichtig sind, in einem Bereich, wo Deutschland immer stark war. Deutschland war selten in den Spitzentechnologien vorne, aber als Meister der Systeme wurden aus den einzelnen Techniken neue Produkte geschaffen.

Der Chip ist Silizium, und Silizium ist Sand - und Sand ist reichlich vorhanden. Und dazu braucht man noch Intelligenz. Intelligenz, so sagt man uns, ist beliebig vorhanden. In der Praxis findet man gelegentlich Knappheiten.

Aber sie wächst nach; es bleibt Hoffnung. Insofern haben wir hier die Chance eines Wachstums des guten Gewissens, das die Wirklichkeit ändert und Zukunft für alle schafft.

Dass diese Welt gelingt, hängt davon ab, ob wir die Menschen haben, die sie gestalten, die Freude daran haben und die ihre Chance darin sehen. Wir werden uns über vieles streiten, und wir haben uns über vieles gestritten - manchmal mit intensiver Herzlichkeit. Aber wir sind uns doch wohl weitestgehend darin einig, dass Bildung und Forschung in diesen Jahren hohe Priorität haben. Dafür braucht es nicht allein Geld - das auch -, sondern auch Konzepte und unsere Bereitschaft, denen, die hier gestalten, die Freude daran nicht zu nehmen. Wir haben in diesen Jahren in einer Welt im Wandel die Schulen umzubauen und aufzubauen. Wir haben gute Schulen, und seit PISA sind sie noch besser geworden; aber wir wissen, dass wir noch mehr erreichen können.

In der Föderalismusreform haben wir den Ländern die Zuständigkeiten für die Bildung weitgehend zugeschrieben. Sie wetteifern um das beste Schulsystem und um die besten Chancen. Den Universitäten haben wir durch einen Wettbewerb um Exzellenz, der über zehn Jahre angelegt worden ist, den Ehrgeiz vermittelt, die Besten zu sein und von jedem anderen zu lernen. Der Forschung haben wir langfristig steigende Mittel zugesagt.

Was wir hier machen, ist eine Investition dafür, dass wir stärker sind, wenn wir aus der Krise herauskommen. Wir brauchen diese Stärke. Es gibt Aufgaben über das Tagesgeschäft hinaus, die langfristig sind und in unterschiedlichen Bereichen angegangen werden müssen. Die Menschen werden älter. Das ist ein Erfolg der Medizin. Das ist ein Erfolg der Arbeitsbedingungen, die besser geworden sind. Das ist ein Erfolg der Sozialsysteme. Das ist also eine erfreuliche Sache und kein Problem. Das Problem liegt darin, dass wir nicht rechtzeitig so viele Kinder gezeugt haben, wie wir es hätten tun sollen.

Was hier und jetzt anzugehen ist, ist, dass wir in dieser Gesellschaft, die altert, die Kreativität bewahren und das dritte Lebensalter nicht als ein Zu-Ende-Leben des Lebens verstehen, sondern als neuen Raum der Gestaltung mit einer Freiheit, die man über das ganze frühere Leben nicht hatte. Man kann wählen; das gilt sowohl für die Freizeit, das Ehrenamt und, wenn man es will und kann, die Arbeit. Dies so zu organisieren, dass die Menschen diese Chance ergreifen, dass sie mitgestalten und aktiv dabei sind, ist eine unserer großen Aufgaben.

Es ist eine Frage der Integration der Menschen, die in unserem Land leben und die ihren alten Kulturen verbunden sind. Wir respektieren diese Kulturen. Aber wir wollen, dass sie als Bürger dieses Landes die Chance haben, umfassend mitzugestalten, ihren Beruf und ihr Leben zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen und sich als Teil unserer Gemeinschaft zu fühlen. Auch hier ist uns vieles gelungen; als Beispiele nenne ich die Offenheit der Vereine und das Miteinander mit den Kollegen am Arbeitsplatz. Es darf aber nicht geschehen, dass sich in einzelnen Bereichen unserer Gesellschaft Kulturen entwickeln, die keinen Kontakt zu unserer Wirklichkeit haben.

Wir dürfen unsere Verantwortung für die Schönheit und den Reichtum der Natur nicht vergessen. In diesem Bereich haben wir trotz schwieriger Bedingungen Erfolge gehabt; das macht Mut. Wer redet heute noch vom Waldsterben? Wenn man fröhlich durch die Wälder geht und sieht, dass sie grün sind und die Bäume gedeihen, dann kann man durchaus sagen: Gemessen an den Themen, über die vor 30 Jahren diskutiert wurde, haben wir eine neue und erfreuliche Welt geschaffen.

Damals war die Rede davon, dass die Flüsse umkippen und unsere Seen bald tot sein werden. Ich erinnere mich: Als ich vor 30 Jahren an einem schönen Sommertag am Main spazieren ging, war der Fluss ziemlich braun, das Wasser stank, und die Fische trieben mit weißen Bäuchen zu Tal.

Die Mitglieder meines Anglervereins haben mir gesagt, dass es im Main heute 40 unterschiedliche Fischsorten gibt und dass die Fische sich vermehren. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie glücklich sind.

Wie sie schmecken, ist noch Gegenstand von Diskussionen. Vom Standpunkt der Fische aus betrachtet ist das aber durchaus sekundär.

Indem wir klug auf die Ursachen der Probleme reagiert haben, haben wir Lösungen gefunden, und diese Lösungen haben unserer Welt geholfen. Sie haben auch unseren Unternehmen geholfen, die die Wirklichkeit mit neuen Techniken gestaltet haben.

Das sind nur einige der langfristigen Herausforderungen. Wir bewältigen sie nur, wenn wir in den unterschiedlichen Verantwortungsbereichen hier im Deutschen Bundestag gemeinsam daran arbeiten. Wir bewältigen sie nur, wenn wir auch diejenigen, die in Wirtschaft und Wissenschaft in Verantwortlichkeit stehen, im gleichen Geiste dafür gewinnen.

Eine Stärke des Deutschen Bundestages ist seine große Vielfalt. Ihm gehören Menschen aus unterschiedlichen Altersstufen an. Die Altersspanne beträgt mehr als ein halbes Jahrhundert; auch ich trage meinen bescheidenen Teil dazu bei. Hier sind Männer und Frauen aus ganz unterschiedlichen Berufen und mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen vertreten. Jeder von ihnen hat eine Stimme, jeder hat sein Wort - das Wort ist das Einzige, was der Parlamentarier hat - , und so entsteht aus den Beiträgen der Einzelnen eine Arbeit am Ganzen.

Allerdings gibt es einige Gruppen, von denen man sich wünschen würde, dass sie hier in noch größerer Zahl vertreten sind. Die Zahl der Betriebsräte hier im Bundestag ist nicht mehr so gewaltig. Die Zahl der Selbstständigen, der Unternehmer, der Manager, die Zahl der Naturwissenschaftler ist ziemlich mäßig. Aber wenn hier einmal ein Naturwissenschaftler ist, kann es durchaus sein, dass er oder sie zu den höchsten Staatsämtern aufsteigt. Das ist durchaus erfreulich.

Entscheidend wird sein, dass wir, jeder Einzelne von uns, das Gespräch suchen, das Gespräch aufbauen, im Formellen - in Enquete-Kommissionen, in Anhörungen -, aber auch in Einzelgesprächen mit den vielen Gruppen. Das gilt aber auch für die andere Seite. Unternehmer frage ich immer: Kennen Sie eigentlich Ihre Abgeordneten, und zwar nicht nur die, die Ihnen persönlich nahestehen? Wann haben Sie Ihren Abgeordneten zum letzten Mal geknuddelt?

Da ist die Landschaft relativ kahl. Es ist wichtig, hier die Kultur aufzubauen, dass das Gespräch so wird, dass Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen zusammenwirken.

Die Kulturen bei uns funktionieren in sich ziemlich gut. Die Übergänge sind eher mäßig, sie sind zu gering. Das scheint übrigens ein altes deutsches Problem zu sein. Goethe, ein berühmter Dichter aus meiner Heimat, hat in den Xenien geschrieben:

Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß dieses Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.

Wenn wir so begrenzen, sind wir in Schwierigkeiten. In einer komplexen Welt richtig zu entscheiden, gelingt nur dann, wenn sich diese Komplexität in unserem Gespräch widerspiegelt.

So gehen wir in diese Periode in einer durchaus schwierigen Zeit mit der Bereitschaft, zu entscheiden, und mit Zuversicht. Gott hat uns nicht den Geist der Verzagtheit gegeben, schreibt Paulus an Timotheus, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Über die Liebe will ich jetzt nichts sagen; das ist ein sehr privater Raum.

Heute früh hat uns Prälat Jüsten in einfachen Worten mitgeteilt, was dies für die Verantwortung eines Politikers vor der Welt bedeutet. Hierzu will ich also nicht sprechen.

Mit Kraft und Besonnenheit so an die Wirklichkeit heranzugehen, dass Kraft und Zuversicht auch bei anderen wachsen, das ist unsere Aufgabe. Wir können nur einen Teil dessen, was in Deutschland entschieden werden muss, gestalten. Den anderen Möglichkeiten zu geben für Freiheit, für Mut und Unternehmungsgeist, dass sie mit Gestaltungskraft in die Zukunft schreiten, dass sie ihre Verantwortung für eine verletzliche Welt verstehen, dass sie nicht alles vom Staat erwarten, sondern sehr viel auch von sich selbst, das ist die Aufgabe, mit der wir in diese Periode hineingehen.

Daran werden wir arbeiten. Ob es gelingt, weiß man nie; aber die Zuversicht bleibt, dass wir, wenn wir alle - jeder an seinem Platz - ehrlich und offen miteinander im Streit und dann in der Entscheidung an die Arbeit gehen, die Zukunft für unser Land ausbauen werden, so wie wir es als Auftrag vom deutschen Volk bekommen haben.

Ich bedanke mich bei Ihnen.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 107-1 vom 27.10.2009
Ansprache des Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages,
Dr. Heinz Riesenhuber, zur Eröffnung der konstituierenden Sitzung des
17. Deutschen Bundestages am 27. Oktober 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2009