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REDE/872: Angela Merkel bei der Auftaktveranstaltung zum Internationalen Jahr der Chemie, 9.2.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der deutschen Auftaktveranstaltung zum Internationalen Jahr der Chemie am 9. Februar 2011 in Berlin:


Sehr geehrter Herr Professor Dröscher,
liebe Organisatoren und Unterstützer des Forums Chemie,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine Damen und Herren,

ich glaube, ich darf sagen, dass hier in diesem Raum die Chemie stimmt. Das kann man nicht überall so sagen. Deshalb mache ich aus aktuellem Anlass eine kleine Vorbemerkung.

Wir haben uns nach siebenwöchigen Verhandlungen mit den Oppositionsparteien gestern als Koalition entschieden, heute den Vermittlungsausschuss anzurufen und unser Angebot für eine zukünftige Regelung der Hartz-IV-Sätze und der Bildungschancen für Kinder zu machen, denn wir sind in der Pflicht, ein Bundesverfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Das Angebot geht weit über die Umsetzung des eigentlichen Bundesverfassungsgerichtsurteils hinaus. Deshalb haben wir es als unsere Pflicht angesehen - gerade auch mit Blick auf die Millionen von Menschen, die auf zusätzliche Leistungen warten -, dieses Angebot dem Bundesrat zu unterbreiten. Wir wissen, dass wir im Bundesrat keine Mehrheit haben. Dennoch wollen wir dieses Angebot unterbreiten und jeden Einzelnen dazu auffordern, seine persönliche Entscheidung im Bundesrat zu fällen. Ich sage noch einmal: Wir wissen, dass wir keine Mehrheit haben, aber die Regierung ist verpflichtet, ein solches Angebot vorzulegen. Dem wollen wir dann auch öffentlich nachkommen. Das wird am Freitag sein.

Heute ist aber sozusagen Chemietag. Ich begrüße dazu vor allen Dingen auch die jungen Gäste. Denn Chemie braucht Zukunft - und Chemie hat Zukunft. 2011 ist das Internationale Jahr der Chemie. Das gibt uns die Gelegenheit, in diesem Jahr einmal darauf zu blicken, was die Rolle der Chemie in Deutschland ist, was damit geschieht und was wir tun müssen, um in der Zukunft mit dabei zu sein.

Deshalb begrüße ich sehr, dass sich ein breites Bündnis zum Forum Chemie zusammengeschlossen hat - von Chemikern über die Industrie bis hin zu der Gewerkschaft, die die Chemie vertritt. Namhafte Forschungsorganisationen und natürlich das Bundesforschungsministerium stehen der ganzen Sache zur Seite. Das heißt also: Wenn wir heute in Deutschland gemeinsam mit Ihnen den Startschuss für das Internationale Jahr der Chemie geben, dann hat das eine breite gesellschaftliche Wirkung, weil das eben nicht "nur" vom Forschungsministerium oder einer staatlichen Institution ausgeht, sondern weil dahinter die gesamte Schlagkraft der Chemie in Deutschland steht. Und diese ist glücklicherweise hoch.

Was ist das zentrale Anliegen? Ich begrüße sehr, dass das zentrale Anliegen vor allen Dingen der Dialog ist - der Dialog mit den Menschen im Lande, die ja manchmal ein etwas ambivalentes Verhältnis zur Chemie haben. Ich will jetzt nicht darüber sprechen, dass in unserem Körper ohne Chemie so gut wie nichts funktioniert. Ich will auch nicht darüber sprechen, ob Chemie gut oder böse ist. Denn das hängt immer sehr stark von der Dosis ab. Das ist eigentlich ein ganz einfacher Sachverhalt, der aber in Deutschland manchmal in Vergessenheit gerät. So ist etwa Salz nicht an sich gut oder an sich schlecht, sondern es kommt immer darauf an, in welcher Form es auftritt.

Wir wollen im Grunde also - und da bin ich gerne mit dabei - die Faszination der Chemie entdecken und die Bereitschaft, sich mit Chemie zu befassen, wecken. Nicht nur wir selber, sondern auch alles, was uns in unserem Alltag umgibt, steht naturgemäß in enger Beziehung zur Chemie. Viele Güter und Produkte sind nahezu selbstverständlich geworden. Leider ist es oft so, dass man das Selbstverständliche gar nicht mehr erklären kann, weil es einfach da ist. Vieles kann man sich aber doch noch zusammenreimen und erklären lassen.

Die Chemiebranche selbst ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Bundesrepublik Deutschland. Ich will nur daran erinnern: Wir haben in Deutschland immerhin das weltgrößte Chemieunternehmen, die BASF. Darauf können wir stolz sein. Wir haben aber auch viele, viele kleine, mittelständische und andere große Unternehmen. Daher brauchen wir junge Menschen, die von Chemie begeistert sind und die dann auch ihren Berufswunsch in diesem Bereich in Erfüllung gehen lassen.

Dialog, das bedeutet natürlich auch, kritische Fragen zu stellen. Ich glaube, gerade auch in der Chemie ist es eine gute Tradition, dass Soziale Marktwirtschaft in besonderer Weise gelebt wird. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen, sprich: Betriebsräte und Gewerkschaften, haben nicht nur immer wieder in herausragender Weise bewiesen, dass sie den Alltag sehr gut miteinander meistern. Die Chemie-Tarifverträge sind oft auch Ausdruck einer weiten Voraussicht. Wenn ich daran denke, dass Weiterbildung und lebenslanges Lernen eine große Rolle spielen, und wenn ich daran denke, dass die demografischen Komponenten eine Rolle spielen, dann kann ich sagen, dass das alles Ausdruck einer wirklich gelebten gesellschaftlichen Verantwortung ist - nicht nur von Unternehmern, sondern auch von Arbeitnehmern. Die Sicherheit und die Qualität unserer chemischen Produktion wären wahrscheinlich gar nicht zu gewährleisten, wenn nicht alle mitdenken würden und wenn der Arbeitnehmer vor Ort nicht auch immer jemand wäre, der neue Ideen hat, die er einspeisen kann.

Zukunft hat also in der Chemie Tradition. Das ist nicht einfach nur das heutige Veranstaltungsmotto, sondern das ist auch ein Thema, das immer auf der Tagesordnung steht. Sie konzentrieren sich jetzt aus der Aktualität heraus nicht auf alle Facetten der Chemie - da könnte man ja wirklich Vieles machen -, sondern Sie konzentrieren sich ein bisschen auf das Thema Energie und Chemie. Deshalb will ich noch einmal hervorheben, welchen herausragenden Beitrag zum Klimaschutz die Chemie bereits geleistet hat und natürlich auch in Zukunft leisten wird. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Der Politik ist sehr wohl bewusst, dass hundertprozentige Wirkungsgrade nicht zu übertreffen sind. Jedenfalls hat es das in der Welt noch nicht gegeben. Auch das Perpetuum mobile ist noch nicht erfunden worden. Bei allem, was wir von der Chemie erwarten, erwarten wir nicht, dass Ihnen dies in naher Zukunft gelingt. Sie müssen also nur ziemlich dicht an die 100 Prozent herankommen, sie aber nicht übertreffen.

Wir haben, was den Klimaschutz anbelangt - das muss ich wirklich sagen, weil ich es mir immer wieder selber angeschaut habe -, faszinierende Materialentwicklungen, zum Beispiel bei den Dämmmaterialien für Isolierungen in Häusern. Wer sich einmal ein Haus baut, der kann sich sicherlich auf diese und auch auf weitere Entwicklungen berufen. Wenn man sich einmal anschaut, wie viel Energieeinsparung heute durch vernünftige Dämmung und durch vernünftige Fenster in einem Haus möglich ist, der weiß, dass man auf dem Wärmemarkt auf diesem Gebiet die allergrößten Einsparpotenziale hat. Das, was am Anfang so aussieht, als müsse man eine zusätzliche Ausgabe tätigen, erweist sich am Ende als ein zusätzlicher Gewinn.

Es gibt auch, was zukünftige Fahrzeuge anbelangt, ganz neue Klebetechnologien. Ich habe mir neulich bei Dow Chemical in Schkopau angeschaut, dass man inzwischen Materialien miteinander verkleben kann, die man früher überhaupt nicht für vereinbar gehalten hätte. Wenn solche Materialen einmal zusammengeklebt worden sind, bekommt man sie auch nicht mehr so schnell auseinander. Wenn es dann um Elektroautos mit vollkommen neuen Werkstoffen geht, werden diese Klebetechnologien eine große Rolle spielen. Auch die ganze Nanotechnologie - zum Beispiel im Bereich der Lacke - ist faszinierend. Mein Traum ist ja, dass eines Tages der Autolack eine einzige Solarzelle ist und die Autos dann sozusagen ohne Aufladung fahren können; aber das ist noch nicht ganz so weit gediehen.

Damit bin ich beim Thema Elektromobilität, denn jenseits der Außenhaut des Autos braucht man vielleicht doch noch ein paar Batterien. Auch da ist natürlich die Chemie von ganz außerordentlicher Bedeutung. Die Batterie von morgen ist ohne Chemie mit Sicherheit nicht zu machen - die von heute übrigens auch nicht. Speichertechnologien sind vielleicht das größte Abenteuer auf der To-do-Liste der Chemie, denn wer gute Speichertechnologien erfindet, hat einen ziemlich guten Markt für sich gewonnen. Die simple und bekannte Form des Pumpspeicherwerks ist ja eher am Wasser angesiedelt. Das ist zwar auch ein chemisches Molekül, aber bei den Speichertechnologien, die mir vorschweben, geht es um anderes.

Eines der größten Themen, die wir auf der Welt haben, ist angesichts von sieben Milliarden Menschen, die in diesem Jahr auf der Welt leben werden, mit Sicherheit das Thema Wasser und Wasseraufbereitung. Wir in Deutschland haben mit diesem Thema nicht so viel zu tun wie andere Länder. Aber wenn man sich zum Beispiel die Probleme in China anschaut, das 1,3 Milliarden Einwohner und sehr, sehr knappe Wasserressourcen hat, wenn man sich die Situation in Afrika anschaut, wenn man sich zum Teil sogar die Situation in kleineren europäischen Ländern wie Malta anschaut, wo zum Beispiel die Wasseraufbereitung aus Salzwasser ein Riesenthema ist, dann weiß man, was das bedeutet.

Neben Wasserversorgung und Ernährung haben wir auch das Thema Pharmaforschung - also das Thema Gesundheit des Menschen und Chemie. Das ist natürlich überhaupt nicht voneinander zu trennen. Glücklicherweise hat Deutschland hierbei vieles dazugelernt. Als ich 1994 Umweltministerin wurde, war zum Beispiel die Frage nach gentechnisch hergestelltem Insulin ein großes Thema. Wir haben fast den Zug der Zeit verschlafen, weil wir lange über Genehmigungsfragen gesessen haben. Dann haben wir gerade noch so den Anschluss gehalten.

Heute steht es wieder in vielen Dingen - ich denke an Enzymforschung und anderes - auf der Kippe, ob wir bei Zukunftstechnologien noch mitmachen. Ich sage ganz deutlich: Deutschland muss innovativ sein. Wenn wir in unseren tradierten Branchen nicht den Anschluss an Neuigkeiten und Innovationen finden, dann wird es um unseren Wohlstand sehr schlecht bestellt sein. Denn wir haben gerade auch bei neuen Technologien nicht immer die Nase vorn. Ich habe kürzlich bei den deutsch-spanischen Regierungskonsultationen eine Übersicht gesehen: Unter den 15 größten Internetunternehmen dieser Erde ist kein einziges europäisches. Das heißt, wir müssen wenigstens in den Bereichen vorne mit dabei sein, in denen wir schon in der Vergangenheit unsere Stärken entwickelt haben. Die Welt wartet nicht auf uns - so viel ist sicher. Wir müssen mit Neugierde dabei sein.

Wir haben mit Freude gesehen, dass sich die Chemiebranche mit ihren 400.000 Beschäftigten in dieser schwierigen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch massiven Einfluss auf den Export hatte, gut geschlagen hat. Es waren keine einfachen Zeiten im vergangenen und vorvergangenen Jahr. Aber mit der Kombination aus guten Angeboten wie Kurzarbeit und der großen Bereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf flexible Instrumente wie Arbeitszeitkonten und so weiter zurückzugreifen, haben wir es geschafft. Darauf können wir stolz sein.

Aber wir erleben jetzt nach der Krise auch, dass die Karten auf der Welt neu gemischt sind und dass asiatische Länder wie China sehr kräftig aus dieser Krise hervorgegangen sind und nicht weniger selbstbewusst sind, wenn es um die Frage geht: Wer bestimmt die Innovationen der Zukunft? Wir erleben im Augenblick im Grunde einen Sprung der Schwellenländer von Wissensimporteuren, die von uns gelernt haben, hin zu Wissensproduzenten, die etwas selbst Schritt für Schritt erlernen. Das heißt für uns nichts anderes, als dass wir schneller wieder etwas Neues können müssen, damit wir also Dinge können, die nicht alle anderen auch können.

Wir müssen offen für Neues sein. Das ist vielleicht eine der spannendsten gesellschaftspolitischen Fragen für uns, denn wir sind ein Land, das einen großen demografischen Wandel durchmacht. Das heißt, wir werden im Durchschnitt tendenziell älter. Wir waren vor 20 Jahren in Deutschland im Durchschnitt 35 Jahre alt. Jetzt sind wir 42 Jahre alt. In 20 Jahren werden wir 47 Jahre alt sein. Und wenn jeder die Entwicklungen der Zukunft nur noch aus der Perspektive betrachtet, wie lange etwas noch für das eigene Leben gilt, dann wird es sehr, sehr schwierig, die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft überhaupt herzustellen. Zum Beispiel fragen bei Protesten gegen große Infrastrukturprojekte einige Leute manchmal: Warum soll ich mit 70 eigentlich noch 15 Jahre lang zugucken, wie meine Stadt aufgerissen wird? Was habe ich davon? - Wenn wir solche Fragen stellen, dann haben wir schon halb verloren. Denn wir profitieren auch im Augenblick von Menschen, die vor 15 oder 30 oder 40 Jahren gesagt haben: Wir klotzen ran, wir glauben an die Zukunft, wir wollen innovativ sein. Wir brauchen also ein Stück gemeinschaftliche Anstrengung - und genau das symbolisiert ja auch Ihr Forum Chemie. Ich sage ganz deutlich: Politik kann das flankieren, Politik kann das unterstützen, aber Politik kann das nicht hervorrufen.

Es gibt den schönen Satz: Politik lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann. Wenn Menschen nicht neugierig sind, wenn Menschen nichts erfinden wollen, wenn Menschen nicht das Risiko eingehen wollen, einen neuen Weg zu beschreiten, dann kann das auch nicht per Gesetz verordnet werden. Man kann natürlich geschickt Anreize setzen. Ich glaube, unsere politische Entscheidung, trotz Haushaltskonsolidierung in vier Jahren zwölf Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung auszugeben, war richtig. Die Hightech-Strategie, die in intensiver Zusammenarbeit mit den Forschungsorganisationen und der Wirtschaft weiterentwickelt wird, ist richtig. Wir haben Wege gefunden, uns nicht in die Tasche zu lügen, sondern für jede Branche zu hinterfragen: Wo sind wir stark und wo müssen wir stärker werden? Auf dieser Basis kann man die entsprechenden Dinge voranbringen. Wir haben einen Hochschulpakt geschlossen, weil wir glauben, dass gute Bildung, gute Ausbildung die Voraussetzung dafür ist.

Gute Studienbedingungen sind notwendig und sicherlich auch durch die Exzellenzinitiative und den Hochschulpakt ermöglicht worden. Die Chemiefakultäten sind nicht überlaufen, aber sie hatten auch schon schlechtere Zeiten. Deshalb ist das Werben für die Chemiker der Zukunft Teil des gemeinsamen Eintretens für die sogenannten MINT-Berufe, also mathematische, ingenieurwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und technische Berufe. Ich darf jedem jungen Menschen sagen: Wenn Sie sich für einen solchen Berufszweig entscheiden, dann haben Sie unglaublich gute Arbeitschancen. Ich weiß, dass die Facharbeiterausbildung nicht einfach ist. Die Tätigkeit als Chemikant ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Manch einer verzieht zwar ein bisschen das Gesicht, wenn er zum Beispiel an die Arbeitszeiten denkt - Schichtarbeit und so weiter -, aber man muss auch sagen dürfen, dass man in diesem Bereich gutes Geld verdient. In diesem Beruf trägt man eine hohe Verantwortung, dieser Beruf macht auch viel Spaß.

Eine gute Ausbildung ist also wichtig. Und ich wiederhole meine Bitte an die Wirtschaft: Versuchen Sie - trotz des wirtschaftlichen Auf und Ab -, eine beständige Einstellungspraxis zu erreichen. Denn wenn sich einmal in der jungen Generation herumspricht, dass man ein knüppelhartes Studium machen muss und anschließend schlechtere Berufschancen hat als andere, dann ist das ausgesprochen niederschmetternd. Dann dauert es weitere fünf Jahre, bis man das, was sich unter den Jüngeren herumgesprochen hat, wieder wettmachen kann. Ich glaube schon, dass man sagen kann, dass die Ausbildung anspruchsvoll ist und das eigene Denken fördert. Manch einer hat vielleicht die Sorge, dass die Ausbildung zu schwierig ist. Aber man sollte ruhig ein bisschen Mut haben.

Zum Internationalen Jahr der Chemie haben Sie - also das Forum Chemie - den Wettbewerb "Formel EIns" ins Leben gerufen. Ich werde den Gewinnern nachher gratulieren und schauen, was genau sie geschafft haben, ob es um besonders schnelle chemische Reaktionen geht oder um anderes. Die Naturwissenschaftlerin Marie Curie soll einmal gesagt haben: "Ein Gelehrter in einem Laboratorium ist nicht nur ein Techniker, er steht auch vor den Naturvorgängen wie ein Kind vor einer Märchenwelt." Das macht die Faszination aus: Man ist immer wieder mit etwas konfrontiert, was man bis jetzt noch nicht kannte. Ich darf an dieser Stelle sagen: Als ich von der Wissenschaft in die Politik wechselte, war bei diesem Wechsel das Markanteste, dass ich in meiner neuen Aufgabe ziemlich häufig dasselbe wiederholen sollte. In meinem früheren Beruf als Physikerin galt das als Todsünde. Niemals das Gleiche erzählen, das ist die Aufgabe der Wissenschaft. Ansonsten hätte man den ganzen Tag lang nichts getan. In der Politik ist Wiederholung sozusagen eine Voraussetzung für das Gelingen und das Umsetzen politischer Botschaften.

In 2011 findet der 100. Jahrestag der Verleihung des Chemie-Nobelpreises an Marie Curie statt. Sie war für mich als Kind ein unglaublich großes Vorbild. Sie hat sich aus Warschau kommend in Paris durchgebissen und bekam 1911 für die Entdeckung der Elemente Radium und Polonium den Chemie-Nobelpreis. Sie hatte vorher schon den Physik-Nobelpreis bekommen. Es gibt überhaupt nur vier Menschen, die mehr als einen Nobelpreis bekommen haben. Darunter ist sie die einzige Frau. Das entspricht immerhin einer Quote von 25 Prozent. Das übertrifft vieles, was wir heute sonst in der Realität finden.

Vielleicht kann Marie Curie auch für andere Mädchen - es gibt ja jedes Jahr den Girls' Day - ein Vorbild sein, wenn es um Naturwissenschaften geht. Den alten Schülerspruch "Chemie ist, wenn es raucht und stinkt. Physik ist, wenn es nie gelingt." sollte man jedenfalls schnell vergessen. Das darf man Physikerinnen auch nie sagen. Meine chemischen Experimente endeten bei Methan - das war überschaubar, was die chemische Formel anbelangte. Trotzdem konnte man damit ganz interessante Sachen machen.

Ich glaube, dass Chemie heute nicht mehr stinkt, sondern umweltfreundlich und sicher ist. Auf diesem Gebiet wird unheimlich viel für unsere Gesellschaft gemacht. Deshalb wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg. Ich werde das Ganze gerne begleiten. Denn die Faszination der Naturwissenschaften und die Neugierde auf etwas, das wir noch nicht kennen, ist die Triebkraft für viele unserer gesellschaftlichen Entwicklungen. Danke an alle, die dabei mitgemacht haben, Danke an alle, die ihre Kraft noch einsetzen werden. Ich sage immer: Im 21. Jahrhundert ist die Zeit das knappste Gut. Und wer seine Zeit dieser gesellschaftlichen Aufgabe widmet, der tut etwas Gutes. Deshalb bin ich heute gerne bei Ihnen.

Herzlichen Dank für Ihr Engagement.


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Quelle:
Bulletin Nr. 19-2 vom 12.02.2011
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei der deutschen Auftaktveranstaltung
zum Internationalen Jahr der Chemie am 9. Februar 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2011