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SICHERHEIT/044: Atomwaffen und Neue Weltordnung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Nukleare Anarchie oder globale Null?
Atomwaffen und Neue Weltordnung

Von Oliver Thränert


Immer neue Atomprogramme gefährden die Weltordnung. Die derzeit geltende nukleare Ordnung, die den Zugang zu Kernwaffen begrenzt, befindet sich in einer tiefen Krise. Um sie zu meistern, bedarf es nuklearer Abrüstung. Eine "Globale Null", wie von US-Präsident Obama angestrebt, sollte das Fernziel sein. Die Abschaffung aller Kernwaffen erfordert aber ihrerseits eine neue Weltordnung, um Verstöße gegen ein dann geltendes Atomwaffenverbot ahnden zu können.

Während seiner Prager Rede vom 5. April 2009 hat US-Präsident Obama in eindringlichen Worten die Gefahr beschrieben, die von nuklearen Waffen ausgeht. Immer mehr Länder und sogar Terroristen könnten sich Zugang zu dieser stärksten aller Waffen verschaffen. Diesen Trend als unumkehrbar hinzunehmen bedeute in letzter Konsequenz - so Obama - den künftigen Einsatz von Kernwaffen als unvermeidbar zu akzeptieren. Amerika sei dazu nicht bereit. Daher strebe Washington die Abschaffung aller Atomwaffen weltweit an. Dies ist ein revolutionäres Projekt, das eine Vielzahl von Fragen aufwirft, die direkt mit der internationalen Ordnung verknüpft sind.


Die nukleare Ordnung des Kalten Krieges

Am Ende des Zweiten Weltkrieges besaßen lediglich die USA Atomwaffen. Doch schon 1948 führte Stalins Sowjetunion ihre erste Kernwaffenexplosion durch. In den folgenden 40 Jahren häuften diese beiden Kontrahenten des Kalten Krieges immer mehr Atomwaffen an. Sie waren die bestimmenden Größen der damaligen Weltordnung. Trotz aller Konflikte waren sie sich in einem Punkt einig: Der Zugang zu Atomwaffen sollte so weit als möglich begrenzt bleiben, um ihre Sonderstellung abzusichern.

So schufen die beiden Großen eine nukleare Ordnung, die lediglich noch drei weiteren Staaten den Besitz von Kernwaffen erlaubte: Großbritannien und Frankreich auf westlicher Seite, die aber beide mehr oder minder in atomaren Fragen von Washington abhängig blieben; sowie auf östlicher Seite China, das von Moskau zunächst Unterstützung erhielt, sich dann aber von seinem einstigen kommunistischen Partner abwandte. Mit dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 gelang es den beiden Supermächten, Schritt für Schritt alle anderen Staaten von einem Verzicht auf Atomwaffen zu überzeugen. Nur Indien, Pakistan und Israel blieben dem Abkommen fern.

Diese nukleare Ordnung weist ein durchaus tragfähiges Fundament auf. Die meisten Länder wollen in ihrer jeweiligen Region destabilisierende Rüstungswettläufe verhindern. Sie haben daher ein Interesse daran, dass ihre Nachbarn wie sie selbst auf Atomwaffen verzichten. Wichtige Partner der USA wie Deutschland und Japan entschieden sich aus guten politischen Gründen gegen eigene Atomwaffen und schlüpften stattdessen unter den amerikanischen Nuklearschirm. Zudem wurde den Vertragsmitgliedern der ungehinderte Zugang zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zugesichert. Schließlich versprachen die vom Vertrag als solche anerkannten fünf Atomwaffenstaaten, also die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China, sich um die nukleare Abrüstung zu kümmern.


Nukleare Ordnung in der Krise

Doch schon bald begann die nukleare Ordnung zu bröckeln. Zunächst entwickelte Israel heimlich Atomwaffen, um sich in einer feindlichen Umgebung eine letzte Rückversicherung zu schaffen. Bis heute gab keine israelische Regierung den Kernwaffenbesitz zu. Seinen arabischen Nachbarn jedoch bleibt Israels Atompolitik ein Dorn im Auge. Immer wieder nehmen sie diesen Umstand als Beweis westlicher Doppelmoral, werden sie doch selbst aufgefordert, bei ihrem Atomwaffenverzicht zu bleiben.

Nachdem Indien bereits 1974 eine als friedlich bezeichnete Atomexplosion durchgeführt hatte, entwickelte sich zwischen Delhi und seinem Rivalen Pakistan eine nukleare Dynamik, die 1998 in Atomwaffentests beider Länder mündete. Daher existieren heute drei Kernwaffenbesitzer außerhalb des NVV. Auf Betreiben der USA ist Indien inzwischen sogar quasi durch die Hintertür als Kernwaffenmacht anerkannt worden. Es bekommt trotz seines Atomwaffenbesitzes außerhalb der NVV-Regularien internationale Unterstützung für sein ziviles Atomprogramm. Doch die Nichtkernwaffenstaaten waren von fünf Kernwaffenmächten innerhalb des NVV ausgegangen, die zudem Abrüstungsverpflichtungen unterliegen, nicht aber von weiteren drei Nuklearstaaten außerhalb des Vertrages. Hinzu kommt der Sonderfall Nordkorea, das im Oktober 2006 sowie im Mai 2009 Atomsprengsätze zündete. Sein vorangegangener Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag wird aus verfahrenstechnischen Gründen nicht von allen Vertragsstaaten anerkannt.

Viele Nichtkernwaffenstaaten sind zudem mit den Abrüstungsbemühungen der Kernwaffenstaaten unzufrieden. Sie lehnen daher zusätzliche Bürden wie intensivere Überwachungsmethoden ab, die sicherstellen sollen, dass friedliche Atomprogramme nicht militärisch missbraucht werden, solange keine weitergehenden Abrüstungsschritte erfolgt sind.

Vor dem Hintergrund dieser Krise fordert nun Iran, ein Vertragsmitglied, das nukleare Nichtverbreitungsregime heraus. Zwar konnte die Internationale Atomenergiebehörde bislang noch keine Beweise für ein iranisches Atomwaffenprogramm feststellen. Doch umgekehrt ist es aufgrund des jahrelangen intransparenten Verhaltens Teherans auch nicht möglich, ein iranisches Atomwaffenprojekt zweifelsfrei auszuschließen. Die überwiegende Mehrheit der internationalen Experten vertritt die Ansicht, die gesamte Anlage des iranischen Vorhabens, das so gefährliche Technologien wie Urananreicherung und Schwerwasserreaktoren beinhaltet - beide zum Bau von Bomben sehr gut geeignet - weise daraufhin, dass es Iran nicht nur um die friedliche Nutzung der Kernenergie geht. Hinzu kommt Teherans umfangreiches Raketenprogramm, das ohne eine gleichzeitige Absicht zum Bau von Atomwaffen kaum Sinn macht. Teheran könnte, ist es erst einmal im Besitz der ultimativen Waffe, eine hegemoniale Rolle im Nahen Osten anstreben. Einem solchen iranischen Vormachtstreben werden Länder wie Saudi-Arabien, Ägypten und auch die Türkei nicht tatenlos zusehen. Friedliche Atomprogramme legen sie bereits auf. Vielleicht handelt es sich dabei lediglich um das Vorspiel für eigene Waffenprojekte. Sollte dieser Fall eintreten, wäre die nukleare Ordnung dahin. Denn im Falle einer nuklearen Aufrüstung in Nahost wären wohl alle Dämme gebrochen; der vertraglich verbriefte Verzicht auf Atomwaffen würde nichts mehr gelten.

Eine solche Entwicklung wäre insofern bedrohlich, als sich Atomwaffenbesitzer militärischen Strafmaßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft entziehen können. Insofern geht es nicht nur um die nukleare Ordnung, sondern um internationale Ordnung generell. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Bevor Saddam Hussein im Sommer 1990 Kuwait überfiel und besetzte, hatte der irakische Herrscher ebenfalls an einem Nuklearwaffenprogramm gebastelt, dieses aber noch nicht zu Ende geführt. Der UN-Sicherheitsrat autorisierte eine internationale Koalition, angeführt von den USA, Kuwait mit militärischen Mitteln zu befreien. Diese Intervention wäre kaum zu Stande gekommen, hätte Saddam damals bereits über einsatzfähige Atomwaffen verfügt. Nach abgeschlossener Intervention fanden die Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde tatsächlich heraus, dass Saddam wohl nur noch zwei Jahre vom erfolgreichen Abschluss seines Kernwaffenprojektes entfernt gewesen war.


Die Alternative: "Globale Null"

Angesichts des drohenden Zerfalls der nuklearen Ordnung hat sich - von Amerika ausgehend - eine inzwischen immer breitere internationale Bewegung mit einem radikalen Gegenprogramm aufgemacht. "Globale Null" lautet das Motto. Dieses Vorhaben wird nicht nur von US-Präsident Obama unterstützt, sondern auch vom britischen Premier Gordon Brown. Selbst der russische Präsident Medwedew hat sich anlässlich seines ersten Treffens mit Obama zu diesem Fernziel bekannt. Doch bevor die "Globale Null" Wirklichkeit werden kann, muss eine Vielzahl von Hindernissen überwunden werden. Im Kern setzt die "Globale Null" eine neue Weltordnung voraus.

In einer atomwaffenfreien Welt könnte eine Nation heimlich Atomwaffen herstellen und anschließend allen anderen Ländern ihren Willen aufzwingen. Daraus könnte ein erneutes, sehr schnelles nukleares Wettrüsten entstehen, in dessen Verlauf der Einsatz von Kernwaffen wahrscheinlicher wäre als derzeit. Um eine solche bedrohliche Entwicklung zu verhindern, müsste jedes Land eingehende Inspektionen zulassen. Auch Diktaturen und autoritäre Regime müssten internationalen Inspektoren nahezu überall Zugang gewähren.

Was aber, wenn einem Land ein Verstoß gegen das vollständige Atomwaffenverbot nachgewiesen würde? Wie könnte es dafür zur Verantwortung gezogen werden? Das höchste Gremium der derzeit geltenden Weltordnung, der UN-Sicherheitsrat, müsste sich dem Fall annehmen. Doch die bisherigen Erfahrungen mit Fällen, in denen mutmaßliche Verstöße gegen die nukleare Nichtverbreitungsnorm auf der Tagesordnung standen, sind nicht sehr ermutigend. Im Fall Iran hat der Sicherheitsrat bereits mehrere Resolutionen verabschiedet, die gegen Teheran gerichtete Sanktionen enthalten. Doch Iran änderte seinen Atomkurs bislang nicht. Es zeigte sich, wie schwierig es ist, im Sicherheitsrat zu einer Beschlussfassung zu kommen. Letztlich wurde zwar Einigkeit demonstriert, zugleich verwässerten aber Kompromisse die verabschiedeten Resolutionen. Konkurrierende machtpolitische sowie wirtschafts- und energiepolitische Interessen der Sicherheitsratsmitglieder verhinderten wirkungsvollere Maßnahmen.

Besonders problematisch wäre es, wenn ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates beim heimlichen Atomwaffenbau erwischt würde. Es könnte gegen jeglichen Beschluss des höchsten internationalen Gremiums sein Veto einlegen. Mithin hätten die ständigen Sicherheitsratsmitglieder in einer Welt ohne Kernwaffen einen zentralen Vorteil: Sie wüssten, dass sie nuklear wieder aufrüsten könnten, ohne dafür von der höchsten internationalen Autorität legal zur Verantwortung gezogen werden zu können. In der Konsequenz müssten daher nicht nur die Atomwaffen abgeschafft werden, sondern auch das Vetorecht im Sicherheitsrat. Zugleich müsste der Sicherheitsrat zu einem effektiveren Instrument geformt werden, so dass ein entschlossenes Vorgehen gegen Regelverletzer möglich würde.

Die alte nukleare Ordnung droht zu zerfallen. Dies hätte schwerwiegende Konsequenzen für die derzeitige Weltordnung. Eine neue nukleare Ordnung, die Atomwaffen komplett verbietet, setzt aber umgekehrt eine neue internationale Ordnung im Sinne einer Reform des Sicherheitsrates voraus. Wer die Welt künftig friedlicher machen will, muss sich also zugleich um beides kümmern: Abrüstung und internationale Ordnung.


Oliver Thränert (* 1959) ist Senior Fellow für Nonproliferation und Rüstungskontrolle beim Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin und derzeit Gastforscher an der ETH Zürich.
oliver.thraenert@swp-berlin.org


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Sonne statt Reagan ohne Rüstung leben! Ob West ob Ost auf Raketen muss Rost!" Joseph Beuys' Single zur Unterstützung der Anti-Atomwaffenbewegung aus dem Jahr 1982.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 28 - 31
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2009