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SICHERHEIT/052: Obamas nukleare Glaubwürdigkeitslücke (Joseph Gerson)


Obamas nukleare Glaubwürdigkeitslücke

Von Joseph Gerson [1] - 7. März 2010


Vor einem Monat warnte Bob Herbert in einem Artikel, den er für die New York Times über die Wirtschaft und die Eskalation des Krieges in Afghanistan verfaßte, Präsident Obama, er sei im Begriff, eine "Glaubwürdigkeitslücke" zu schaffen. Zur Zeit veranlassen die Vorabwerbung, die dem nuklearstrategischen Planungskonzept, der "Nuclear Posture Review", des Präsidenten den Weg ebnen soll, und die verzögerten Verhandlungen mit Rußland über den Start-I-Folgevertrag Menschen weltweit dazu, auf ihre Weise "Was habt Ihr denn nun eigentlich Substantielles zu bieten?" zu fragen.

Die Politik und die Taten der Regierung unterlaufen ernstlich ihre Verpflichtung zur Nichtverbreitung von Atomwaffen sowie ihr Versprechen, sich für die Schaffung einer "Welt ohne Atomwaffen" einzusetzen.

Zunächst zum Hintergrund: Genau vor 40 Jahren trat der Atomwaffensperrvertrag in Kraft. Er ruht auf drei Säulen: Abgesehen von Israel, Indien und Pakistan haben die (zu jenem Zeitpunkt) Nicht-Atommächte darauf verzichtet, jemals dem atomaren Club beizutreten. Im Gegenzug wurde ihnen in Artikel IV das Recht auf die erforderliche Atomtechnologie für die friedliche Nutzung garantiert (eine schwerwiegende Schwachstelle des Vertrags) und in Artikel VI, daß die Atommächte in "redlicher Absicht" Verhandlungen zur vollständigen Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale führen werden.

Unglücklicherweise haben die Atommächte, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten. Wie der frühere stellvertretende Verteidigungsminister und CIA-Direktor John Deutch es einst ausdrückte: "Die Vereinigten Staaten hatten nie die Absicht, noch haben sie diese jetzt, Artikel VI umzusetzen. Das ist nur etwas, das man sagen muß, um auf einer Konferenz die gewünschten Ergebnisse zu erzielen." Diese Auffassung und noch dazu die Tatsache, daß US-Präsidenten mindestens 40 Mal im Verlauf internationaler Krisen und Kriege einen Atomkrieg vorbereitet oder damit gedroht haben, einen solchen zu initiieren (das letzte Mal im Vorfeld der Irak-Invasion 2003 und in Zusammenhang mit den Drohungen gegen den Iran, "alle Optionen" lägen "auf dem Tisch"), waren die treibende Kraft für die Weiterverbreitung von Atomwaffen.

Eine der Katastrophen, die die Bush-Regierung über die Vereinigten Staaten und die Welt gebracht hat, war die Sabotierung der Atomwaffensperrvertragskonferenz 2005 (NPT Review Conference). Die Überprüfungskonferenz, die alle fünf Jahre von den Vereinten Nationen abgehalten wird, gibt den Staaten der Welt die Gelegenheit, eingehendere Inspektionen zu fordern und so die Kontrolle über die Atomanlagen der Welt zu erlangen, um Nichtatomstaaten daran zu hindern, Atommächte zu werden. Sie ermöglicht zudem der großen Mehrheit der Nationen der Welt, auf Umsetzung des Artikels VI zu drängen. Während ihrer acht Jahre währenden Amtszeit hat es die Bush/Cheney-Regierung nicht fertiggebracht, auch nur einen der 13 auf der Sperrvertragskonferenz im Jahr 2000 vereinbarten Abrüstungsschritte umzusetzen und weigerte sich im Taumel ihrer "Romantik der Kaltschnäuzigkeit" - in diesem Fall in dem Glauben, die USA könne die Nichtweitergabe militärisch durchsetzen -, einer Tagesordnung für die Überprüfungskonferenz 2005 zuzustimmen, bis diese halb durch war, und verhinderten dann, daß die Konferenz zu einem Beschluß kommen konnte.

Das Scheitern der Überprüfungskonferenz brachte den Atomwaffensperrvertrag und damit das Nichtverbreitungsgebot in Gefahr und erhöhte auf diese Weise die atomare Bedrohung für die Vereinigten Staaten und andere Nationen. Führungspersönlichkeiten von George Shultz und Henry Kissinger bis zu Präsidentschaftskandidaten wie Barack Obama, John Edwards und Bill Richardson reagierten mit dem Versuch, Anrecht und Einfluß der USA bei der Atomwaffensperrvertragskonferenz im Mai wiederherzustellen, indem sie eine merkliche Reduktion des US-Atomwaffenarsenals und eine erneute Absichtsbestätigung der USA verlangten, ihre Verpflichtungen nach Artikel VI einzuhalten.

Seit seiner Wahl - insbesondere aufgrund seiner Rede in Prag und im letzten September vor den Vereinten Nationen - hat Präsident Obama in der Welt die Hoffnung genährt, daß wir uns unter seiner Führung endlich von dem atomaren Damoklesschwert befreien könnten. Jetzt scheint es, als habe er Hintergedanken. Und da die für April anberaumte nukleare Sicherheitskonferenz des Präsidenten den Schwerpunkt auf Nichtverbreitung und nicht auf Abrüstung oder Abschaffung legt, fragen sich Analysten, Amtsträger und Aktivisten in den Vereinigten Staaten und weltweit, ob Obama wohl dem scheinheiligen Doppelstandard der letzten vier Jahrzehnte treu bleibt.

In seiner Ansprache an der National Defence University [2] ist Vizepräsident Biden bereits davon ausgegangen, viele, die sich der Abrüstung und der Abschaffung des weltweiten Atomwaffenarsenals verschrieben haben, würden die Atompolitik der Regierung kritisch sehen, und er hatte Recht. Genauso wie in vielen anderen Fragen hat Präsident Obama seine Worte nicht wahrgemacht.

Der Haushalt von Präsident Obama fordert eine Ausgabenerhöhung von 10% zur Sicherung der "Zuverlässigkeit" des Atomwaffenarsenals und weitere zwei Milliarden Dollar für die Modernisierung und den Ausbau der Atomwaffeninfrastruktur - mehr Geld für die Waffenlaboratorien eingeschlossen -, um die Fähigkeit des Landes zu verstärken, über künftige Jahrzehnte hinweg Atomwaffen zu entwerfen, entwickeln und instandzuhalten.

An anderer Stelle sind die Verhandlungen zum Start-I-Folgeabkommen ins Stocken geraten, weil die USA, unter Verletzung der Zusicherung von Präsident George H.W. Bush gegenüber Michail Gorbatschow, die NATO würde nicht einen Zentimeter näher an Moskau heranrücken, mit der Installation der sogenannten "Raketenwabwehr" in der Tschechischen Republik, Polen und Rumänien fortfährt. Rußland betrachtet sie als Schild zur Verstärkung der Erstschlagwaffen Washingtons.

Schlimmer noch, das Nuklearstrategiekonzept wird wie angekündigt die Erstschlagoption erneuern, was andere Staaten dazu veranlaßt, entweder ihre atomaren Arsenale zu behalten oder zu entwickeln, um einen möglichen US-Angriff abzuwehren. Und das wird diplomatisch kaum durch die Festlegung in der neuen Nuklearstrategie aufgehoben, einen Teil des nicht in Bereitschaft befindlichen Atomarsenals zu verschrotten und auf den Bau einer neuen Generation von Kernwaffen zu verzichten, die fälschlicherweise als "Reliable Replacement Warheads" ('verläßliche' Atomsprengköpfe) bezeichnet werden.

Genauso wie Wallstreetspekulanten auf Kosten der Menschen hierzulande und anderswo ihre beschränkten Eigeninteressen verfolgt haben, gefährden Monopolinteressen, die zur Zeit des Kalten Krieges Macht und Privilegien angehäuft haben, unsere Sicherheit und die der ganzen Welt, weil sie in Washington D.C. unausgesetzt das atomare Heft in der Hand halten.

Was ist zu tun? Wie es mit Bewegungen für Bürgerrechte, Frauenrechte, der 1980er Atomwaffen-Freeze-Bewegung und anderen Bewegungen für Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit der Fall war, ist die Macht des Volkes nötig, um sich durchzusetzen. Und die entsprechende Bewegung befindet sich im Aufbau.

In der breitesten öffentlichen Mobilisierung zur Abschaffung der Atomwaffen seit über einem Jahrzehnt bereiten sich mehr als 250 US- und internationale Organisationen darauf vor, der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags in diesem Mai eine deutliche Botschaft zu schicken: Präsident Obama, kommen Sie der Verpflichtung der USA in Artikel VI nach. Wir wollen die Abschaffung noch zu unseren Lebzeiten. Tausende Menschen aus dem ganzen Land und aus der ganzen Welt werden mit mehreren Millionen Petitions-Unterschriften in der Hand - angeführt von der größten Delegation überlebender Atombombenopfer, die je die USA besucht hat, mit 2000 aus Japan anreisenden Aktivisten - am 2. Mai zum Internationalen Aktionstag für eine atomfreie Zukunft in New York anreisen. In den folgenden Wochen, werden wir Druck auf die Überprüfungskonferenz ausüben und Pläne für den längeren Kampf schmieden, um dieser grundsätzlichen Bedrohung des Lebens ein Ende zu machen.

Joseph Gerson ist Abrüstungsexperte des American Friends Service Committee [3], Co-Organisator des Internationalen Planungskomitees zur Atomwaffensperrvertrags-Überprüfungskonferenz 2010 [4], und Autor von "Empire and the Bomb: How the US Uses Nuclear Weapons to Dominate the World" [5].

Weitere Informationen über die Aktivitäten des Internationalen Planungskomitees zur Atomwaffensperrvertrags-Überprüfungskonferenz 2010 siehe www.peaceandjusticenow.org


Anmerkungen der SB-Redaktion:

[1] Schattenblick-Interview mit Joseph Gerson:
Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT
INTERVIEW/012: US-Antikriegsaktivist Joseph Gerson (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0012.html
Zusammenfassung seiner Rede auf der Konferenz der NATO-Gegner:
Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT
BERICHT/014: Konferenz der NATO-Gegner bei Strasbourg, 3. April 2009 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber014.html

[2] National Defence University - Führendes Ausbildungszentrum im Bereich nationale und internationale Sicherheit, bildet militärische und zivile Führungskräfte aus dem In- und Ausland aus, Hauptsitz Fort Lesley J. McNair in Washington, D.C.

[3] Quäker-Friedensorganisation (AFSC) in New England, USA, für die Joseph Gerson seit 1976 arbeitet

[4] 2010 NPT Review Conference International Planning Committee

[5] übers.: "Das Empire und die Bombe: Wie die USA Atomwaffen zur Herrschaft über die Welt einsetzt"


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Der englische Originaltext ist einsehbar unter:
Obama's Nuclear Credibility Gap, by Joseph Gerson
Published on Sunday, March 7, 2010 by CommonDreams.org
http://www.commondreams.org/view/2010/03/07


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Quelle:
"Obama's Nuclear Credibility Gap" / "Obamas nukleare Glaubwürdigkeitslücke
von Joseph Gerson, American Friends Service Committee
Internet: www.afsc.org
mit freundlicher Genehmigung des Autors
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010