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WISSENSCHAFT/1248: Weltwissenspolitik - Expertenkulturen streiten um den globalen Verbraucherschutz (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Weltwissenspolitik
Beim Streit um den globalen Verbraucherschutz treffen Expertenkulturen aufeinander

von Holger Straßheim



Kurz gefasst: Lebensmittelbestrahlung ist international umstritten. Anhand dieser Konservierungsmethode lässt sich illustrieren, was hier als Weltwissenspolitik bezeichnet wird: Im globalen Verbraucher- und auch Umweltschutz rückt die Frage nach der Autorität von Experten in den Mittelpunkt grenzüberschreitender Kontroversen. Der deutsch-amerikanische Vergleich zeigt, dass dabei unterschiedliche Kulturen des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aufeinandertreffen. Die vergleichende Expertiseforschung geht den Ursachen und Folgen nach.

Als die amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) im April dieses Jahres die ionisierende Bestrahlung von Krustentieren erlaubte, entfachte sie damit erneut eine mehr als 50 Jahre währende Debatte. US-Konsumentengruppen wie Food & Water Watch und Public Citizen protestieren seit Langem gegen diese Technologie der Lebensmittelkonservierung, weil sie unerkannte Langzeitfolgen für den menschlichen Organismus befürchten. Michael T. Osterholm, Direktor des Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) an der University of Minnesota hält dies dagegen für den Ausdruck eines irrationalen "anti-science movement". Es bestehe ein wissenschaftlicher Konsens über die Unbedenklichkeit der Lebensmittelbestrahlung. Kritik behindere nur den gesundheitlichen Verbraucherschutz: "We could have saved so many lives."

Die Auseinandersetzung um die Bestrahlung von Lebensmitteln ist nicht auf die USA beschränkt. Sie wird mittlerweile auch international ausgetragen. An diesem Beispiel lässt sich illustrieren, was ich zugespitzt als Weltwissenspolitik bezeichnen möchte: Bei globalen Problemen wie im Klima- oder Verbraucherschutz rückt die Frage nach dem Verhältnis von Entscheidungs- und Interpretationsmacht, nach der öffentlichen Anerkennung von Expertise und der politischen Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Mittelpunkt grenzüberschreitender Kontroversen. Die von Michael Zürn und Matthias Ecker-Ehrhardt angestoßene Diskussion über die "Politisierung der Weltpolitik" wird seit Längerem auch in der Wissenschafts- und Expertiseforschung geführt. Anschaulich wird dies am Streitfall Lebensmittelbestrahlung.

Die Bestrahlung von Lebensmitteln ist in den USA eine verbreitete Praxis. Schon in den 1960er Jahren durften Mehl, Kartoffeln und Früchte einer begrenzten Dosis von Gamma-, Röntgen- oder Elektronenstrahlen ausgesetzt werden. Später wurde die Zulassung erweitert, unter anderem für Gemüse, Fleischprodukte, Eier, Fruchtsäfte und Fertignahrung. Ionisierende Strahlen töten gesundheitsgefährdende Mikroorganismen und Insekten ab, verlängern die Lagerzeiten von Lebensmitteln und verhindern ein frühzeitiges Keimen. Die FDA verlangt die Kennzeichnung bestrahlter Produkte durch das weltweit anerkannte Label Radura.

In Europa stellt sich die Situation völlig anders dar: Bis heute konnte sich die Europäische Union lediglich auf eine Positivliste für bestrahlte Lebensmittel einigen, die zurzeit ausschließlich "getrocknete aromatische Kräuter und Gewürze" enthält. In der entsprechenden Richtlinie aus dem Jahr 1999 wird betont, dass es sich um ein "empfindliches Thema der öffentlichen Diskussion" handelt. Sieben Mitgliedsstaaten haben ihre vor Inkrafttreten der Richtlinie bereits bestehenden Zulassungen beibehalten. So machen auf Veranlassung Frankreichs, Belgiens und der Niederlande gefrorene Froschschenkel den größten Anteil an bestrahlten Lebensmitteln in der EU aus. Insgesamt bleibt jedoch der jährliche Gesamtbestand an bestrahlten Lebensmitteln in Europa mit knapp 9.000 Tonnen weit hinter den USA mit mehr als 100.000 Tonnen (Stand 2010) zurück und ist gegenüber 2005 sogar gesunken. Deutschland verfügte 1958 - also zu dem Zeitpunkt, als in den USA Lebensmittelbestrahlung zugelassen wurde - aufgrund der ungeklärten Gesundheitsrisiken ein Verbot der Technologie. Im Jahr 2000 wurden die EU-Richtlinien zur Lebensmittelbestrahlung auch in deutsches Recht umgesetzt.

Befürworter der Strahlenkonservierung berufen sich auf zahlreiche internationale Studien: So hatte bereits 1981 eine gemeinsame Kommission von Experten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, der Internationalen Atomenergiebehörde und der Weltgesundheitsorganisation Lebensmittelbestrahlung bis zu einer Grenze von 10 Kilogray (kGy) für toxikologisch unbedenklich erklärt. Kritiker weisen jedoch auf ungeklärte Vorfälle von Katzenlähmung in Australien hin, die mutmaßlich durch stark bestrahltes Tierfutter verursacht wurden. In einer 2011 durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in Auftrag gegebenen Untersuchung bestätigen die Experten zwar die Unbedenklichkeit ionisierender Strahlung im Rahmen bestimmter Höchstgrenzen. Sie verweisen jedoch darauf, dass langfristige Schädigungen am Menschen abschließend nicht beurteilt werden können. Empfohlen wird daher die Verwendung von Lebensmittelbestrahlung ausschließlich im Zusammenhang mit einem integrierten Programm der Risikoabschätzung und -überwachung.

Diese Zurückhaltung hat in den USA vielfach Unverständnis ausgelöst. Jüngst haben die Autoren bei einer durch das US-Agrarministerium beim agrarpolitischen Think Tank CAST (Council for Agricultural Science and Technology) in Auftrag gegebenen Studie die globale Bedeutung des Streits um die Lebensmittelbestrahlung unterstrichen. Angesichts des überwältigenden Konsenses in der Wissenschaft über die Unbedenklichkeit sei die EU-Positivliste ein Fall von Besitzstandswahrung (grandfathering). Den Autoren geht es insbesondere um das dahinterstehende Grundverständnis der Rolle der Wissenschaft angesichts von Unsicherheiten. Mit ihrer Kritik zielen sie auf das Vorsorgeprinzip, das in der EU und den Mitgliedstaaten auch für Lebensmittelsicherheit gilt. Es erzwingt vorbeugendes Handeln, wenn ein Schaden für Mensch oder Umwelt aufgrund von unsicherem oder unvollständigem Wissen nicht auszuschließen ist. Das Vorsorgeprinzip wirke paralysierend, argumentiert auch Cass Sunstein, Rechtswissenschaftler an der Harvard University und ehemaliger Direktor des Office of Information and Regulatory Affairs (OIRA), weil aus einer Risikoaversion heraus der Status quo einem rationalen und wissenschaftsbasierten Entscheiden vorgezogen werde.

Die öffentliche Skepsis gegenüber der Bestrahlung von Lebensmitteln könne man mit der Angst vor pasteurisierter Milch zu Beginn des letzten Jahrhunderts vergleichen, schreiben die Autoren der CAST-Studie. Den Befürchtungen gegenüber der "kalten Pasteurisierung" durch Lebensmittelbestrahlung sei nun auch in Europa durch wissenschaftliche Aufklärung zu begegnen.

Vergleichende Forschungen am WZB zeigen, dass in der Kontroverse um die Globalisierung des Verbraucherschutzes neben ökonomischen Interessen auch gegensätzliche Expertenkulturen aufeinandertreffen. Gemeint sind damit kollektive Auffassungen darüber, wie Prozeduren der Politikberatung ablaufen sollen, welche Kompetenzen Experten und Expertengremien zukommen und auf welchen Wegen wissenschaftliche Erkenntnisse politische Aufmerksamkeit gewinnen - oder umgekehrt politische Problemstellungen Eingang in wissenschaftliche Debatten finden. Solche Expertenkulturen, in der Forschung auch als Wissensordnungen bezeichnet, bestimmen die Art und Weise, mit der in Gemeinwesen Geltungsbehauptungen erhoben werden können. Sie strukturieren die Zuschreibung von Entscheidungs- und Interpretationsmacht und wirken sich damit auf das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aus.

Im Vergleich zwischen Deutschland und den USA treten die Unterschiede besonders deutlich hervor. Unterschiedliche Expertenkulturen erklären zumindest zum Teil, warum die mit Lebensmittelbestrahlung, mit Gentechnologie oder Klimawandel verbundenen Unsicherheiten in Deutschland anders wahrgenommen und damit auch anders reguliert werden als in den Vereinigten Staaten. Dort gilt Expertise als besonders glaubwürdig und auch politisch bedeutsam, wenn sie sich auf quantifizierbare Evidenzen und Erkenntnisse (sound science) berufen kann. Der Expertenstatus wird vor allem aufgrund wissenschaftlicher Professionalität zugeschrieben. Diese szientistischen Prinzipien spiegeln sich in der Organisation der Ressortforschungseinrichtungen und Wissenschaftsbehörden wider. In der FDA mit ihren mehr als 13.000 Mitarbeitern verbinden sich weitreichende Regulierungskompetenzen mit wissenschaftlicher Reputation. Die pluralistische Zusammensetzung von Beratungsgremien, die ausgedehnte Think-Tank-Landschaft und der Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen wie etwa der Union of Concerned Scientists sind ein weiterer Ausdruck einer Expertenkultur, in der angesichts von Unsicherheiten vor allem Fakten zählen und Verantwortlichkeiten notfalls im Nachhinein gerichtlich ausgefochten werden müssen.

Im Kontrast dazu ist Expertise in Deutschland durch die Tradition des Korporatismus gekennzeichnet. Die Zusammensetzung von Beiräten und Kommissionen folgt dem Grundgedanken, dass im Umgang mit unsicherem Wissen die Perspektiven relevanter gesellschaftlicher Gruppen und deren kollektive Aushandlung bei der Beurteilung von Geltungsbehauptungen im Vordergrund stehen müssen. Demnach bestimmt sich auch der Expertenstatus selbst nicht notwendigerweise nur anhand von Kriterien wissenschaftlicher Professionalität, sondern durch institutionelle Zugehörigkeit und die Anforderungen einer paritätischen Repräsentation gesellschaftlicher Interessen.

Hinzu kommt, dass Ressortforschungseinrichtungen in Deutschland nicht annähernd jene Selbstständigkeit genießen wie ähnliche Einrichtungen in den USA. Sie unterliegen der Weisungsbefugnis der Ministerien und können sich nur jenseits der Fachaufsicht ministerialfreie Räume erobern. Sheila Jasanoff, im Juli und August Gastwissenschaftlerin der WZB-Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik, bringt es folgendermaßen auf den Punkt: Dem auf wissenschaftliche Objektivierung zielenden "view from nowhere" in den USA stehe in Deutschland der institutionell eingebettete, alle relevanten gesellschaftlichen Perspektiven potenziell gegeneinander abwägende "view from everywhere" gegenüber.

Unsere Forschungen zeigen allerdings, dass Expertenkulturen keine statischen Gebilde sind. Unter dem Druck globaler Probleme wie im Verbraucher- oder Klimaschutz entstehen in allen von uns untersuchten Ländern vermehrt Leitlinien und Standards, in denen die Formen der Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft überprüft und re-reguliert werden. Damit gerät jedoch die Frage nach der Rolle politischer Expertise verstärkt in den Blickwinkel öffentlicher Auseinandersetzungen. So hat Präsident Obama 2009 in seinem Memorandum zur "Scientific Integrity" die amerikanischen Wissenschaftsbehörden angewiesen, Regeln und Prozeduren zur Sicherung öffentlicher Transparenz und zur Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in wissenschaftsbasiertes Entscheiden zu entwickeln. Ähnliche Diskussionen können wir auch in deutschen und britischen Wissenschaftsbehörden beobachten (siehe auch den Beitrag [der Originalpublikation] von Rebecca-Lea Korinek, S. 46-49).

Wenn im Bemühen um einen globalen Verbraucherschutz auf die rationalisierende Kraft wissenschaftlicher Evidenzen gesetzt wird, muss das angesichts dieser Befunde skeptisch stimmen. Klar wird auch, dass es bei Initiativen wie etwa dem Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) nicht allein um Fragen der Lebensmittelsicherheit und Umweltpolitik geht, sondern grundsätzlich um Weltwissenspolitik, das heißt um die globale Durchsetzung bestimmter Standards politischer Expertise und die Schwächung des Vorsorgeprinzips. Offensichtlich bestehen jedoch zwischen Ländern erhebliche kulturelle und institutionelle Unterschiede im Blick darauf, wie Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in der Bewältigung von Unsicherheiten zusammenwirken sollen. Jasanoff hat daher jüngst den Begriff der "epistemischen Subsidiarität" ins Spiel gebracht und angeregt, Möglichkeiten der Vereinbarkeit verschiedener Expertenkulturen auf globaler Ebene auszuloten, ohne dabei von vornherein auf eine einseitige Harmonisierung zu setzen. Die vergleichende Expertiseforschung kann diese Bemühungen unterstützen, indem sie Unterschiede und Annäherungen über Länder und Politikfelder hinweg aufzeigt und zum Ausgangspunkt für die Reflexion über eine globale Wissensordnung macht.


Holger Straßheim leitet das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt "Studying the Changing Orders of Political Expertise (SCOPE)" in der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit in Kooperation mit der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zur amerikanischen Arbeitsmarkt- und Konsumentenpolitik forschte er zuletzt als Visiting Fellow am Program on Science, Technology and Society der Harvard Kennedy School.
holger.strassheim@wzb.eu


Literatur

Dickson, James S.: "Radiation Meets Food". In: Physics Today, 2012, Vol. 65, No. 2, pp. 66-67. Online: DOI: http://dx.doi.org/10.1063/ PT.3.1449.

Jasanoff, Sheila: "Epistemic Subsidiarity - Coexistence, Cosmopolitanism, Constitutionalism". In: European Journal of Risk Regulation, 2/2013, pp. 133-141.

Jung, Arlena/Korinek, Rebecca-Lea/Straßheim, Holger: "Embedded Expertise: A Conceptual Framework for Reconstructing Knowledge Orders, Their Transformation and Local Specificities". In: Innovation: The European Journal of Social Sciences, 2014, Vol. 4, published online 08 April. DOI: http://dx.doi.org/10.1080/13511610.2014. 892425.

Straßheim, Holger/Kettunen, Pekka: "When Does Evidence-based Policy Turn into Policy-based Evidence? Configurations, Contexts and Mechanisms". In: Evidence & Policy, 2014, Vol. 10, No. 2, pp. 259-277.

Zürn, Michael/Ecker-Ehrhardt, Matthias (Hg.): Die Politisierung der Weltpolitik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 43-45
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2014