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FRIEDEN/1037: Von einem israelischen Baustopp kann keine Rede sein (SB)



Wenngleich Frieden für die Palästinenser angesichts des Massakers der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen zweifellos der wünschenswertere Zustand ist, trifft für sie doch in ganz besonderem Maße die Erkenntnis zu, daß es sich bei dem Gegensatzpaar von Krieg und Frieden um zwei einander ablösende Verlaufsformen der Herrschaftssicherung handelt. Frieden ist nach Maßgabe palästinensischer Alltagserfahrung mitnichten eine positiv konnotierte Situation, sondern vielmehr eine Existenz im Schatten israelischer Suprematie, der die Drangsalierung der Palästinenser mit einer fortgesetzt erweiterten Palette administrativer Verfügung aller Art zur zweiten Natur geworden ist.

In diesem Kontext ist die vielzitierte Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen keineswegs das, was die drei Worte zu besagen scheinen. Der seit mehr als sechzig Jahren aufrechterhaltene Ausnahmezustand eines völkerrechtswidrigen Besatzungsregimes hat den Nahostkonflikt gleichsam in Stein gemeißelt, wobei Israel keinen Zweifel daran läßt, daß es nichts zu verhandeln gibt, was den Namen Kompromiß verdient, während zugleich die Verhandlungsoption als ewig unerreichbare Karotte vor die Nase des unterworfenen Geschöpfs im Geschirr gehalten wird.

Wie die Geschichte dieses Konflikts zeigt, haben alle bedeutsamen Abkommen unter dem Strich zu einer deutlich schlechteren Position der Palästinenser geführt. Diese wurden zu einem Verzicht genötigt, den ihre Führung um der Einigung willen unterzeichnet hat. Während die palästinensische Seite auf ein niedrigeres Niveau gedrückt wurde, brach Israel seine Zusagen unter einem Vorwand. Ob die israelische Regierung behauptet, es gebe auf der anderen Seite keinen Verhandlungspartner, oder eine existierende Instanz wie eine gewählte Regierung schlichtweg nicht akzeptiert oder ausnahmsweise Verhandlungsbereitschaft an den Tag legt, läuft aus dasselbe hinaus: Die Unterwerfung der Palästinenser unter Einsatz wechselnder Mittel.

In diesem Metier erweist sich Premier Benjamin Netanjahu als Meister seines Fachs, der die Verhältnisse tagtäglich auf den Kopf stellt und das Rudel der Verbündeten mit strategischem Gespür so erfolgreich aussteuert, als sei er der Leitwolf. Muß man sich noch wundern, wenn die israelische Regierung den zehnmonatigen Baustopp unterläuft, auf den sie sich erst vor wenigen Tagen verpflichtet hat? Wie die Neue Zürcher Zeitung (03.12.09) unter Berufung auf das israelische Radio berichtet, seien weitere 84 Wohneinheiten im besetzten Westjordanland genehmigt worden.

Da von dem Baustopp öffentliche Gebäude wie Schulen, Kindergärten und Synagogen sowie 300 Wohneinheiten, auf deren Bau sich Israel gegen die Proteste der Palästinenser bereits mit der Obama-Administration verständigt hatte, ausgenommen sind und die Regierung signalisiert hat, daß das sogenannte natürliche Wachstum keineswegs eingeschränkt werde, ließ sich folgern, daß es sich genaugenommen überhaupt nicht um ein Ende des Ausbaus handelt. Netanjahu hat eine weitere Farce inszeniert, die vorgeblich ein Zugeständnis an die Forderungen Obamas darstellt. Damit nicht genug, trumpft er zugleich mit der Behauptung auf, er habe einen historischen Schritt getan, weshalb nun die Palästinenser an der Reihe seien, substantielle Zugeständnisse zu machen.

Um welches Ausmaß an Verzerrung und Verdrehung der Realität durch eine unablässig rotierende Propagandamaschinerie es sich handelt, unterstreicht ein Blick auf die Verhältnisse in Ostjerusalem, das explizit vom angeblichen Baustopp ausgenommen ist. Wie eine Sprecherin des Innenministeriums mitgeteilt hat, wurde binnen Jahresfrist 4.577 Bewohnern aufgrund der bestehenden Regelungen das Aufenthaltsrecht entzogen. Einer Zusammenstellung der Tageszeitung Ha'aretz zufolge sind seit Beginn der israelischen Besetzung des Ostteils der Stadt im Juni 1967 bis zum Jahr 2007 insgesamt 8.558 Palästinenser auf diese Weise ausgebürgert worden.

Umgekehrt haben sich im Zuge der international nicht anerkannten Besetzung Ostjerusalems durch Israel inzwischen 200.000 jüdische Siedler im Ostteil der Stadt niedergelassen, der zudem durch Siedlungsbauten vom Westjordanland abgeschnitten wird. Israel setzt seinen Anspruch auf ganz Jerusalem fortgesetzt um, weshalb nicht nur die Palästinenser um ihre künftige Hauptstadt bangen, sondern die gesamte arabische und muslimische Welt um ihre heiligen Stätten fürchten muß.

An administrativen Kunstgriffen, die Verdrängung der Palästinenser aus Ostjerusalem und den Zustrom jüdischer Siedler zu legitimieren, herrscht kein Mangel. Familienclans, die seit Generationen im Ostteil der Stadt leben, werden unter dem Vorwand aus ihren Häusern vertrieben, ihr Aufenthalt sei rechtswidrig. Auch verlangen die Behörden einen ständigen Aufenthalt im Ostteil der Stadt. Wer länger als sieben Jahre nicht in Israel lebt oder eine andere Staatsbürgerschaft annimmt, verliert das Aufenthaltsrecht.

Die Regierung Netanjahu hat insbesondere die Okkupation Ostjerusalems massiv verschärft und häufig jede Forderung der Amerikaner nach einem Siedlungsstopp sofort mit weiteren Baugenehmigungen im und um den Osten der Stadt beantwortet. Weit davon entfernt, in die Defensive zu geraten, hat die rechtskonservative israelische Administration dank Netanjahu demonstriert, daß Barack Obama nicht der einzige ist, der die Verhältnisse mit schillernden rhetorischen Seifenblasen als ihr Gegenteil darzustellen versteht. Obamas Siedlungsstopp, den man in Washington längst preisgegeben hat, verbindet sich mit Netanjahus Siedlungsstopp, der keiner ist, zum Schulterschluß der Umdeutung und Degradierung palästinensischer Wirklichkeit.

4. Dezember 2009