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FRIEDEN/1058: Barack Obama justiert die Zieloptik der US-Atomwaffen (SB)



Die vor einem Jahr von Barack Obama in Aussicht gestellte "Welt ohne Atomwaffen" war von Anfang an als bestenfalls langfristig zu verwirklichende Perspektive gedacht, die sich der Aufrechterhaltung der strategischen Schlagkraft der US-Streitkräfte nachzuordnen habe. Mit der nun vorgestellten neuen Nukleardoktrin hat der US-Präsident zwar einige geringfügige Zugeständnisse in Richtung einer atomaren Deeskalation gemacht, diese jedoch durch eine Verschärfung der Einsatzdoktrin praktisch aufgehoben. Damit eröffnet er den europäischen Verbündeten die Möglichkeit, seine Politik als friedensfördernd zu loben, während er unvermindert zum Krieg rüstet.

Ohnehin wird gerne vergessen, daß der Nichtverbreitungsvertrag die über Atomwaffen verfügenden Staaten prinzipiell zur vollständigen Abrüstung verpflichtet. Obamas in Prag gemachte Ankündigung, dieses Ziel anzustreben, entspricht mithin den vertraglichen Verpflichtungen, die sein Land eingegangen ist, um andere Staaten von der atomaren Aufrüstung abzuhalten. Dieses Ziel haben die atomar bewaffneten USA im Fall des Iraks mit kriegerischen Mitteln verfolgt, ohne selbst der Abrüstungsforderung des Atomwaffensperrvertrags zu entsprechen.

Wenn Obama sein Land nun erneut zum Sachwalter der globalen Nichtverbreitungspolitik erklärt, indem er die nukleare Erstschlagoption auf Länder begrenzt, die sich angeblich nicht an die Regeln des Nichtverbreitungsvertrags halten, dann bekämpft er Feuer, indem er Öl hineingießt. Die spezifisch an den Iran adressierte Ausnahme vom Verzicht auf den atomaren Ersteinsatz ist als konkrete Kampfansage an die Regierung in Teheran zu verstehen. Sie fungiert in einem angeblich der Deeskalation gewidmeten Konzept auf antagonistische Weise als Beleg dafür, daß der Verzicht auf nukleare Präventivangriffe unter dem Vorbehalt derjenigen Macht steht, die zu derartigen Aggressionsakten in allererster Linie in der Lage ist. Diese im Nichtverbreitungsvertrag nicht vorgesehene Ermächtigung unterstellt dessen Zweck den hegemonialen Absichten des militärisch stärksten Staates. So wird aus einem internationalen Vertragswerk, dessen Unterzeichner vom Grundsatz gleichberechtigter Völkerrechtssubjekte ausgehen, nach der Devise "might makes right" ein machtpolitisches Werkzeug eines einzigen Staats und seiner Verbündeten.

Die neue Nukleardoktrin läßt gegenüber dem vielfach kritisierten Nuclear Posture Review, so ihr offizieller Titel, von 2002 eine gezieltere Ausrichtung der dort postulierten strategischen Schlagkraft erkennen. So hat die Regierung George W. Bushs mit der erklärten Absicht, Atomwaffen gegen Ziele, die gegen nichtatomare Waffen resistent sind, als Vergeltung für einen Angriff mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen und für den Fall "überraschender militärischer Ereignisse" einzusetzen, ein breites Dispositiv für den Atomkrieg geschaffen. Es wurde durch die namentliche Nennung von Rußland, China, dem Irak, Iran, Nordkorea, Syrien und Libyen als potentielle Angriffsziele zudem als konkrete Bedrohung dieser Staaten verstanden.

Obama hat hier zwar einiges zurückgenommen, jedoch durch die Erklärung, daß ein Verstoß gegen den Nichtverbreitungsvertrag bereits einen atomaren Angriff legitimiere, eine neue Qualität der offensiven Durchsetzung geostragischer Ziele eingeführt. Da der Iran allen Erkenntnissen nach nicht atomar rüstet, sondern schlimmstenfalls das Potential, dies zu tun, entwickelt, muß seine Regierung die namentliche Nennung zusammen mit dem atomar bewaffneten Nordkorea als Steigerung der Bedrohung durch die USA verstehen. Das gilt um so mehr, als atomar bewaffnete Staaten wie Israel, Indien und Pakistan, die den Atomwaffensperrvertrag niemals unterzeichnet haben, von dieser Bedrohung ausgenommen bleiben. Nordkorea, das den Nichtverbreitungsvertrag nach den dafür vorgesehenen Regularien aufgekündigt hat und damit über den gleichen Status wie atomar gerüstete Nichtunterzeichnerstaaten verfügt, wird dieses Privileg nicht gewährt. Auch deshalb ist die von Washington in Anspruch genommene Sachwalterschaft für die globale Nichtverbreitungspolitik als Legitimation eigener strategischer Ziele und nicht als prinzipieller Versuch, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, erkennbar.

US-Verteidigungsminister Robert Gates hat die Iran und Nordkorea betreffende Ausnahmeregelung in einem Atemzug mit der gegen nichtstaatliche Akteure, die versuchen könnten, sich Atomwaffen zu beschaffen, beibehaltenen Erstschlagoption genannt. Damit hat er die USA nicht nur zum atomar bewaffneten Weltpolizisten erklärt, sondern auch zum Richter über den Rechtsstatus anderer Staaten. Es bleibt den Interessen der US-Regierung überlassen, wen sie zum Paria der Weltgemeinschaft erklärt und wen sie als inoffizielle Atommacht akzeptiert.

Der Aufrechterhaltung dieser folgenschweren Definitionsmacht gegenüber ist die von Obama erwirkte Einstellung der Entwicklung neuer Atomsprengköpfe ein geringfügiges Zugeständnis. Die atomare Schlagkraft der US-Streitkräfte ist so hoch entwickelt, daß ihr operatives und abschreckendes Potential noch für viele Jahrzehnte gesichert ist. Auch täuscht der beschwichtigende Tenor der Berichterstattung, laut dem der US-Präsident durch die politischen Gegner im Kongreß zu dieser verwässerten Form seiner Abrüstungsinitiative genötigt worden wäre, lediglich über die wie selbstverständlich akzeptierte Vormachtstellung der USA hinweg. Diese drückt sich nicht zuletzt darin aus, daß die Projektionsfähigkeit und Zerstörungsgewalt der konventionell bewaffneten Streitkräfte der US-Regierung allemal für die alltäglichen Erfordernisse der Washingtoner Machtpolitik ausreichen.

Wenn unter den europäischen NATO-Verbündeten nun Stimmen laut werden, laut denen die neue Nukleardoktrin die von den USA gewährten Schutzgarantien schwäche, dann schafft der vermeintliche Abrüstungsschritt sogar noch Vorwände für die Durchsetzung eigener Aufrüstungsabsichten. Was immer an Obamas Nukleardoktrin abgefeiert wird, läßt die Menschen, die konkrete Gründe haben, sich vor der Militärmaschinerie der USA und der NATO-Staaten zu fürchten, im Regen wenn nicht drohenden nuklearen Fallouts, dann der großkalibrigen Munition der Maschinenwaffen, der heimtückischen Bomblets der Streubomben oder der aus heiterem Himmel über die Menschen hereinbrechenden Vernichtungsgewalt per Drohnen abgefeuerter Raketen stehen.

7. April 2010