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FRIEDEN/1103: Einer gegen tausend - Kein Verlustgeschäft für Israel (SB)



Nach mehr als fünf Jahren ist der israelische Soldat Gilad Schalit im Rahmen eines Gefangenenaustauschs in seine Heimat zurückgekehrt. Die beispiellose internationale Aufmerksamkeit und Repräsentanz in den Medien unterstreicht die ideologische Überhöhung dieses hervorgehobenen Einzelschicksals zu einem Lehrstück von Herrschaftslogik und Suprematieanspruch. Verschwunden ist der Rekrut, der durch eine staatlich verordnete Wehrpflicht zum Dienst mit der Waffe gezwungen in den Krieg geschickt wird. Verschwunden der Panzersoldat, der als Teil eines repressiven Besatzungsregimes am Gazastreifen Posten steht und im Zweifelsfall Palästinenser tötet. Verschwunden der Gefangene, dessen Freilassung nicht zuletzt die eigene Regierung aus politischem Kalkül jahrelang verhindert hat. Übriggeblieben ist der verlorene Sohn, dessen Leiden zum Opfer verklärt den Feind der Barbarei bezichtigt und dessen Heimkehr die eigene Moral über alle Gipfel erhebt.

Weit davon entfernt, als politische oder militärische Niederlage Israels verbucht zu werden, ist das eklatante Mißverhältnis eines einzigen israelischen Soldaten, der gegen 1027 palästinensische Gefangene ausgetauscht wird, Ausdruck einer realpolitischen wie ideologischen Inwertsetzung. Wollte man die Behauptung ernstnehmen, daß alle massiven Angriffe der israelischen Streitkräfte auf den Gazastreifen seit 2006 nicht zuletzt der Befreiung Gilad Schalits geschuldet waren - was natürlich nicht der Fall war - rechnete sich dieser gegen schätzungsweise 5.000 getötete Palästinenser. Daß diese israelische Soldaten gefangennehmen, ist ein extremer Ausnahmefall. Umgekehrt befinden sich derzeit nach Angaben der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) rund 6.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen, darunter 219 ohne Angabe von Gründen in sogenannter Administrativhaft. [1] An potentieller Verhandlungsmasse fehlt es den israelischen Behörden nicht, zumal sie jederzeit über Nachschub gebieten können.

Gilad Schalits Heimkehr versetzte dem Vernehmen nach Israel in Feierstimmung. Überall im Land liefen Live-Bilder von der Freilassung, und an zahllosen Straßenecken hingen Willkommensschilder. Premierminister Benjamin Netanjahu diente sich zunächst den Eltern an: "Ich habe euch euer Kind zurückgebracht." Dann empfing er den Sohn mit den Worten: "Willkommen in Israel, Gilad. Wie gut, dass du zurückgekommen bist." Auch Verteidigungsminister Ehud Barak sowie Generalstabschef Benny Ganz waren bei der Zusammenkunft anwesend. Weltweit fand die Freilassung Schalits große Anteilnahme, was insbesondere für Deutschland galt. Kanzlerin Angela Merkel wünschte dem Heimgekehrten, daß "er sich von allem, was er erleiden musste, rasch erholt und in sein Leben zurückfindet". Bundespräsident Christian Wulff erklärte, Deutschland freue sich mit ganz Israel über die Heimkehr. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon drückte die Hoffnung aus, daß der israelisch-palästinensische Gefangenenaustausch den festgefahrenen Friedensbemühungen für den Nahen Osten neue Impulse geben möge. [2]

Wie sich deutsche Mainstreammedien in strammer Staatsräson an der Stärke Israels ergötzen und ihren Antiislamismus am Fall Gilad Schalits schärfen, mag ein Kommentar Richard Herzingers in der Welt am Sonntag dokumentieren [3]. Unter dem Titel "Israel beweist im Fall Schalit moralische Stärke" bezeichnet er die Rettung von Leben nach jüdischer Ethik als höchsten Wert. Durch den hohen Einsatz für den Soldaten Schalit bekenne sich Israel zu seiner Tradition:

Der zivilisatorische, humane Standard einer Gesellschaft lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, wie hoch sie den Wert des individuellen Menschenlebens einschätzt. So betrachtet, ist das zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas getroffene Abkommen über den Austausch des vor über fünf Jahren vom israelischen Territorium verschleppten israelischen Soldaten Gilad Schalit gegen 1027 gefangene palästinensische Terroristen ein Lehrstück. Es zeigt den fundamentalen Unterschied zwischen einer offenen, demokratischen Gesellschaft und einem zynischen kollektivistischen Unterdrückungssystem. Einer gegen tausend? Nach den nackten Zahlen sieht das wie ein schlimmes Verlustgeschäft für Israel aus.

Dies gelte um so mehr, als zahlreiche freigelassen Hamas-Kämpfer Mordanschläge auf dem Gewissen hätten und viele von ihnen ihren Kampf gegen die Zivilbevölkerung Israels wiederaufnehmen würden. Auch könnte sich die Hamas ermutigt fühlen, erneut israelische Soldaten zu entführen, obgleich dies in keiner Weise als Kriegshandlung gerechtfertigt werden könne, sondern schlichtweg einen kriminellen Akt darstelle. Ein Zeichen der Schwäche Israels sei der Austausch dennoch nicht, da das Schicksal des jungen Soldaten die Seele der israelischen Gesellschaft tief berührt habe. Die Mahnwache der Eltern nahe der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem sei seit zwei Jahren zu so etwas wie dem moralischen Zentrum, zum Stachel im Gewissen der Nation geworden:

Es gemahnte an ein tief in der religiösen und kulturellen Tradition des Judentums verankertes Gebot. "Pikuach Nefesh", die Verpflichtung zur Rettung von Leben, ist eines der höchsten Prinzipien jüdischer Ethik, das über allen religiösen Gesetzen und Vorschriften steht.

Welchen Kontrast bietet ein solches Wertesystem zu den Maximen einer (Un-) Kultur, die den "Märtyrertod" als oberstes Ideal namentlich für junge Männer propagiert und sich nicht scheut, sie im Namen einer Religion als "Selbstmordattentäter" zu missbrauchen! Nichts hat diesen Gegensatz so bösartig auf den Punkt gebracht wie die islamistische Parole: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod." Die israelische Gesellschaft verlangt im Gegensatz dazu von ihren jungen Soldaten nicht, zu Märtyrern für eine höhere, heilige Sache zu werden.

Israel, dem zahllose Kritiker in aller Welt unablässig Kriegslüsternheit unterstellen, ist ungeachtet jahrzehntelanger militärischer Bedrohung und kriegerischer Verwicklung ein im Kern seines Selbstverständnisses zutiefst ziviles Gemeinwesen geblieben, dem martialischer Blut- und Opferkult fremd ist.

Es ist ein Land, das sein Überleben gleichwohl nur durch die ständige militärische Verteidigungsbereitschaft aller seiner Bürger sichern kann. Indem die israelische Öffentlichkeit in das Gesicht eines jungen Soldaten wie dem schmächtigen, schüchtern wirkenden Gilad Schalit nicht den eisernen Heroismus einer Kampfmaschine hineinzulesen versucht, sondern in ihm den nach Hilfe rufenden, solidarischer Anteilnahme bedürftigen Mitmenschen erkennt, bekräftigt sie eindrucksvoll, dabei jeder Tendenz zu militaristischer Verhärtung weiterhin widerstehen zu wollen.

Das Bekenntnis zu seinen zentralen ethischen Werten auch in Extremsituationen stärke Israel auf lange Sicht mehr, als es kurzfristig durch die Freilassung zu allem entschlossener Todfeinde geschwächt werden könnte, schlußfolgert Herzinger mit sicherem Gespür für den propagandaträchtigen Ertrag der Freilassung Gilad Schalits.

Sollte dem Kommentator tatsächlich entgangen sein, daß sich das kleine und "zutiefst zivile Gemeinwesen" Israel dank milliardenschwerer US-amerikanischer Unterstützung zur viertgrößten und zudem atomar bewaffneten Militärmacht der Welt aufgerüstet hat? Daß seine Streitkräfte wie in kaum einem anderen Staatswesen eng mit der Gesellschaft verflochten sind? Daß bei allen zu beklagenden Anschlagsopfern in Israel die seit Bestehen des Staates unterdrückten Palästinenser einen ungleich höheren Blutzoll entrichten, von der dauerhaften Verhinderung ihrer menschenwürdigen Existenz ganz zu schweigen?

Natürlich ist das Herzinger voll und ganz bewußt, rechtfertigt er doch die Herrschaft der "offenen, demokratischen Gesellschaft" über das "zynische kollektivistische Unterdrückungssystem". Den in Verteidigungsbereitschaft wachenden israelischen Soldaten kontrastiert er mit dem islamistischen Terroristen, der kein Kriegsgegner, sondern ein gemeiner Verbrecher sei. Der Kommentator verortet den von ihm postulierten fundamentalen Unterschied tief in den religiös-kulturellen Wurzeln: Hier das im Judentum verankerte Gebot zur Rettung von Leben, dort der bösartige Blut- und Opferkult der islamistischen "(Un-) Kultur". Daß die Rettung von Leben im Fall des Soldaten Gilad Schalit höchster Ausdruck jüdischer Ethik sei, scheint nach Herzingers Auffassung palästinensisches Leben selbstverständlich nicht einzuschließen.

Wie er abschließend erörtert, gebe es im Lande durchaus berechtigte kritische Argumente gegen ein weitgehendes Zugeständnis an eine "offen antisemitische Terrororganisation". Moralisch besonders schwer wiege dabei das Urteil der Angehörigen von Terroropfern, die ertragen müssen, daß die Mörder der gerechten Strafe entgehen. Möglich sei das übrigens nur, weil Israel von seiner Gründung an die Todesstrafe nicht kenne: Nur im einzigen Ausnahmefall des NS-Massenmörders Adolf Eichmann sei sie angewandt worden. Hier scheint der Kommentator geflissentlich zu übersehen, daß gezielte Tötungen seit Jahren zur Praxis der israelischen Streitkräfte gehören, die bei der Durchführung ihrer Anschläge überdies kaum einen Unterschied zwischen Zielobjekten und Unbeteiligten machen. Da die Opfer in aller Regel Palästinenser sind, können solche Einwände Herzingers Weltsicht nicht erschüttern.

Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2011/10-05/001.php

[2] http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE79H0DM20111018

[3] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article13662638/Israel-beweist-im-Fall-Schalit-moralische-Staerke.html

18. Oktober 2011