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FRIEDEN/1106: Günter Grass im blinden Fleck des deutschen Imperialismus (SB)




Als Günter Grass den Überfall der NATO auf Jugoslawien guthieß, war die Welt noch in Ordnung. Die Fürsprache des angesehenen Schriftstellers für den humanitären Interventionismus war Balsam für die damals noch "brennenden" rot-grünen Seelen. Heute, da die Rauchschwaden über der Asche am realpolitischen Vollzug entzündeter Gemüter längst verweht sind und rot-grüne Politiker die schwarz-gelbe Bundesregierung in Sachen Bellizismus rechts überholen, herrscht nicht einmal mehr Bedarf an affirmativen Intellektuellen. Wer wollte noch ins Horn gegen den Iran erhobener Kriegsdrohungen stoßen, wenn dies im Grundton einer Freiheitslyrik erfolgt, mit der sich die Gauck und Broder schmücken? Wer wollte sich entblöden, durch das Heulen mit einer Meute, die Widerspruch nicht sanktionieren muß, weil er auf Höhe ihres Hegemonialanspruchs nicht existiert, die eigene Bedeutung so inflationär zu entwerten, daß sie im Schatten der Nichtbeachtung immer noch besser aufgehoben ist?

Um so greller ist das Schlaglicht, in das ein prominenter Name wie der von Günter Grass getaucht wird, wenn er eine seit langem überfällige Debatte eröffnet. Ein politisches Gedicht gegen die Kollaboration deutscher Bundesregierungen - darunter auch die rot-grüne unter Kanzler Schröder und Außenminister Fischer - und deutscher Rüstungsschmieden mit israelischen Kriegsplanern, denen die militärische Drohung mit Atomwaffen eine in ihrer strategischen Bedeutung kaum zu überschätzende Trumpfkarte an die Hand gibt, ist nicht etwa spektakulär, weil niemand von dieser Zusammenarbeit wüßte. Es macht viel mehr deshalb Furore, weil eine Stimme vom Gewicht des Literaturnobelpreisträgers eine öffentliche Rechtfertigung dieser Praxis erzwingt, der man sich bislang nicht befleißigen mußte, weil sich die Meinungsführer in Politik und Gesellschaft daran hielten, das Thema nicht an die große Glocke zu hängen.

Dieser in allgemeiner Anerkennung der deutschen, von Bundeskanzlerin Merkel hinsichtlich des Verhältnisses zu Israel ausdrücklich bekräftigten Staatsräson seit Jahren aufrechterhaltene Konsens deckt eine machtpolitische Praxis höchst gefährlicher Art. Die Militärstrategen der israelischen Regierung könnten versucht sein, diesen Trumpf auszuspielen, weil ein Angriffskrieg gegen den Iran mit konventionellen Mitteln auch bei dem beschränkten Ziel der Zerstörung iranischer Atomanlagen sehr lange dauern kann und keineswegs vom Erfolg gekrönt sein muß. Da eine solche Aggression nach Ansicht vieler Experten ohnehin dazu konzipiert wäre, die USA und womöglich die NATO in diesen Krieg hineinzuziehen, ist die Einlösung der atomaren Option sicherlich eine eher theoretische Möglichkeit. Doch allein ihr Gewicht in den Planspielen einer Regierung, die einen sogenannten Präventivschlag offen in Erwägung zieht, hebt die Disparität der regionalen Kräfteverhältnisse auf eine Ebene der Eskalation, deren Folgewirkungen desto weniger zu kontrollieren sind, je größer das eingesetzte Drohpotential ist.

Obwohl Günter Grass die Möglichkeit eines atomaren Erstschlags Israels beim Namen nennt, hat er das Bedrohungsszenario nicht vollständig ausgeleuchtet. Die größere Gefahr für jede Bevölkerung, die von der israelischen Regierung ins Visier genommen wird, besteht in der durch die Lieferung deutscher U-Boote freigesetzten Zweitschlagkapazität. Was mit der Möglichkeit wirksamer Abschreckung gerechtfertigt wird, kann ebensogut als ultimative Erpressungspolitik und Vernichtungsdrohung eingesetzt werden. Indem die hochentwickelten, besonders geräuscharmen und für langfristige Fahrten ohne zwischenzeitliches Auftauchen ausgelegten Spitzenprodukte waffentechnischer Ingenieursleistung aus Deutschland vor eine Küste fahren und von dort aus große Städte ins Visier nehmen können, verhelfen sie israelischen Strategen zur offensiven Negation souveräner Handlungsfähigkeit anderer Staaten. Dies gilt im übrigen auch für das Abfeuern konventioneller Lenkwaffen von diesen Trägersystemen, denen die iranischen Streitkräfte nichts entgegenzusetzen hätten.

Der Sachverhalt ist so eindeutig wie seine politische Brisanz explosiv ... und eine diskursive Leerstelle im politischen Bewußtsein der Bundesbürger. Günter Grass hat einen Vorstoß gewagt, der zweifellos zu seinen Lasten geht. Sein Lamento über den gegen ihn unvermeidlich erhobenen Antisemitismusvorwurf allerdings ist übertrieben. Es ist schlicht eine Sache entschiedener Positionierung und persönlichen Mutes, auf unmißverständliche Weise zu herrschenden Gewaltverhältnissen Stellung zu beziehen. Wo den kommunistischen Kellerkindern der alten BRD Knast drohte, muß ein Bürger mit humanistischem Anspruch, der gegen den Strom schwimmt, lediglich die Schädigung seines Rufes fürchten, was sogar befreiende Qualität haben kann. Was Grass meint, schon lange getan haben zu müssen, scheiterte nicht an den Urhebern dieses Anwurfs, sondern an der Sorge um sein Ansehen, waren die vorgebrachten Argumente gegen die atomare Aufrüstung Israels doch früher nicht minder valide.

So ist der gegen Günter Grass erhobene Vorwurf des Antisemitismus haltlos nur im Verständnis des nackten Judenhasses. Wo gegen nämliche Staatsräson verstoßen und der Hegemonialanspruch der NATO-Staaten im Nahen und Mittleren Osten unterminiert wird, trifft er durchaus. Das von Grass empfundene Dilemma, für eine seinem moralischen Credo gemäße Stellungnahme ins gesellschaftliche Abseits gerückt zu werden, ist einem zweckrationalen Bedeutungswandel des Antisemitismusvorwurfs geschuldet, mit Hilfe dessen Antimilitarismus und Antikapitalismus unter Gesinnungsverdacht gestellt werden können. Womit politische Außenseiter der Linken seit langem traktiert werden, rückt nun ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, weil ein großer Name zur Verteidigung der von ihm angegriffenen Kriegslogik demontiert werden kann.

Wie kann die Kritik an einer Waffenexportpolitik, die dem erklärten Ziel, keine latenten kriegerischen Konflikte anzuheizen, zuwiderhandelt, mit dem schwerwiegenden Verdacht belegt werden, in ihr artikuliere sich ein in der Konsequenz eliminatorischer Rassenhaß? Wieso muß sich ein Autor, der Israel als Heimstatt der Opfer deutscher Vernichtungspolitik in Schrift und Tat stets gewürdigt hat, dafür rechtfertigen, daß er Kriegsdrohungen der Regierung dieses Staates für bare Münze nimmt? Wieso wird das wohl wirksamste politische Stigma, mit dem das Ansehen eines im NS-Staat aufgewachsenen und als Jugendlicher noch zur Waffen-SS gehörigen Literaten beschädigt werden kann, aufgeboten, wenn dieser die einseitige Anprangerung des Irans als Aggressor auf die Füße einer Konfrontation stellt, an der mindestens zwei Parteien beteiligt sind?

Grass hat nicht nur die Bereitschaft der israelischen Regierung zum Führen eines Krieges kritisiert, der die israelische Bevölkerung weit mehr gefährdete, als es die dem Iran und palästinensischen Fraktionen unterstellte Vernichtungsabsicht in Anbetracht US-amerikanischer und europäischer Schutzgarantien jemals könnte. Er hat die Kollaboration Deutschlands mit einem Israel zur Sprache gebracht, auf dessen militärische Schlagkraft schon in den 1960er Jahren viele Bundesbürger die Verwandlung deutscher Niederlagen in blitzkriegartig errungene Siege der "freien Welt" projizierten. Er hat den Anspruch aller Bundesregierungen seit Kanzler Kohl, in Sicht auf die deutschen Verbrechen der Vergangenheit eine Politik des Friedens zu praktizieren, selbst wenn diese mit humanitären Bomben und Granaten daherkommt, mit der Anprangerung der Lieferung ausgesprochener Offensivwaffen in ein Konfliktgebiet erschüttert. Und er hat daran erinnert, daß die Bundesrepublik in einem solchen Krieg kaum abseits stehen könnte, was vielleicht das schwerwiegendste Vergehen seiner Stellungnahme ist.

5.‍ ‍April 2012