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FRIEDEN/1113: Einmal Gaza und zurück - Fahrkarte für Krisenprofiteure (SB)




Einmal Gaza und zurück - für israelische Bomberpiloten ein vertrauter Befehl mit einer Gewähr auf sichere Rückkehr, die in der zivilen Luftfahrt kaum größer sein könnte. Was für die Adressaten der Bombenfracht Tod und Zerstörung bedeutet, ist laut dem Präsidenten Israels Ausdruck dessen, daß die Grenze des Erträglichen für sein Land erreicht sei. Shimon Peres ist sich mit US-Präsident Barack Obama einig darin, daß es sich bei den Angriffen auf Gaza um die Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung handle, Selbstverteidigung gegen einen Aggressor, der vermeintlichen ohne jeden Anlaß seine selbstgebauten Raketen auf israelisches Staatsgebiet herabregnen läßt. Daß die Grenze des Erträglichen für die Palästinenser seit langem überschritten ist, spielt beim vertrauten Herunterspielen des realen Gewaltverhältnisses zwischen den beiden Konfliktparteien keine Rolle. Es wird nicht danach gefragt, wie palästinensische Kinder unter den Luftangriffen aus Israel leiden, wie traumatisiert sie durch materielle Entbehrungen und alltägliche Gewalterfahrungen sind, wenn Politiker einmal mehr fordern, beide Seiten sollten von der Gewalt Abstand nehmen, und dies in den Medien mit dem Begriff "Gewaltspirale", also einen Automatismus ohne eindeutig zu benennende Urheber, eben nicht erklärt wird.

Die Steigerung des sozialen Krieges, der gegen die Bevölkerung Gazas geführt wird, zu einem militärischen Angriff aus der Luft und von See aus erfolgte in einer Gemengelage, in der Verhandlungsangebote der Hamas zugunsten eines informellen Waffenstillstands mit Übergriffen beider Seiten einhergingen.Die in Gaza regierende Hamas macht auf diese Weise ebenso Politik wie die Regierung Israels, allerdings verfügt sie über weit weniger Mittel, ihre Argumente auf unwiderlegbare Weise durchzusetzen. Sie kann lediglich versuchen, der Übermacht der israelischen Streitkräften ein Fanal der Empörung entgegenzustellen. Doch die Disproportionalität der Gewalt fällt kaum ins Gewicht, wenn die überlegene Seite über beste Referenzen verfügt und diese wirksam einzusetzen versteht. Wenn die Indizien dafür zutreffen, daß mit der gezielten Ermordung des Hamas-Funktionärs Ahmed Jabari ein Unterhändler beseitigt wurde, der bei Verhandlungen mit der israelischen Regierung eine maßgebliche Rolle gespielt haben und daran beteiligt gewesen sein soll, einen dauerhaften Waffenstillstand zu etablieren, dann hätte die Regierung Netanjahu nicht nur einen erfolgreichen Zug gemacht, sondern das ganze Schachbrett umgestürzt.

Schon der Gazakrieg 2008/2009 hat gezeigt, wie fest die israelische Regierung in eine internationale Gemeinschaft eingebettet ist, die nur ein Sechstel der Weltbevölkerung repräsentieren mag, aber dominanten Einfluß auf die Agenturen globaladministrativer Entscheidungsgewalt ausübt. Seitdem habe sich die Bedingungen des regionalen Umfelds mit dem Erstarken der Moslembruderschaft, aus der die Hamas hervorgegangen ist, in Ägypten und anderen arabischen Staaten nur scheinbar zu Ungunsten Israels ausgewirkt. Diese in mehreren Parlamenten sitzende und die Regierung in Kairo stellende politische Kraft ist heute weit weniger zu souveränem Handeln in der Lage, als ihr kometenhafter Aufstieg vermuten läßt. Wie der mit Hilfe der NATO bewirkte Regimewechsel in Libyen und der immer mehr zur bunten Revolution degenerierte Aufstand in Syrien zeigen, agieren die Vertreter des politischen Islam eher im Schlepptau der NATO-Staaten, als daß es umgekehrt wäre. Heute sind sie weit mehr als zur Zeit ihrer massiven Unterdrückung in politische Zwänge eingebunden und mit Rücksichtnahmen beschäftigt, die sie in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken.

Dies gilt insbesondere für den unvollendeten sozialen Aufstand, der 2011 losbrach und den Zorn der Jugend über die Machenschaften der Eliten und Oligarchen zum Ausdruck brachte. Indem die einflußreichen Kräfte in der ägyptischen Muslimbruderschaft den sozialen Charakter der Revolte hintertrieben haben und islamistische Organisationen in Tunesien, Libyen, Syrien und der Türkei als Sachwalter einer neuen Bourgeoisie ein Erscheinung treten, haben sie sich gegen das Aufbegehren der urbanen und proletarischen Jugend gestellt. Um ihre neugewonnene Macht nicht zu gefährden, gehen sie echte wie auch Zweckbündnissen ein, die sie in der sozialen Konfrontation auf der Seite der jeweils Herrschenden verorten.

Die Hamas hat mit der Entscheidung, sich von der syrischen Regierung abzuwenden, obwohl sie von dieser unterstützt wurde, auch wenn dies aus dem Interesse heraus erfolgte, einen Faustpfand für Verhandlungen mit der israelischen Regierung in der Hand zu haben, auf ein Pferd von unberechenbarer Gangart gesetzt. Je deutlicher sich zeigen wird, daß der Aufstand in Syrien von Kräften übernommen wurde, die den Interessen der USA und EU dienen, die Israel wiederum bei allen Differenzen weit näher stehen als irgendeiner arabischen Bewegung, desto mehr wird sie an Ansehen bei der palästinensischen Bevölkerung verlieren. Im komplexen Szenario der politischen Zwistigkeiten und Abhängigkeiten, das die einander überlappenden Klassenkämpfe, zwischenstaatlichen Konflikte und konfessionellen wie ethnischen Divergenzen durchwebt, ist der Manövrierraum für die Repräsentanten unterlegener Gruppen sehr eng geworden. Das aktive Eintreten Saudi-Arabiens und Katars für die arabische Konterrevolution einerseits und die Gegnerschaft zum Iran andererseits, die drohende Ausweitung des Krieges in Syrien auf den Libanon, die Neutralisierung des Irak und das offensive Hegemonialstreben der Türkei haben im Nahen und Mittleren Osten eine von tiefen Bruchlinien und explosiven Frontstellungen bestimmte Krisenkonstellation etabliert, die durch das soziale Elend seiner Bevölkerungen um so unkalkulierbarer wird.

Die israelische Regierung hat daher freie Bahn nicht nur in Gaza, sondern darf sich auch für einen möglichen Übergriff auf den Iran Unterstützung aus den USA und der EU erhoffen. Auch deren Probleme drängen in Richtung Krieg. Wenn dieser dazu dient, die eigenen Bevölkerungen trotz begründeten Mißmuts über ihre soziale Misere hinter sich zu scharen und zudem bewirkt, daß der soziale Aufstand in der Armutsregion zwischen Marokko und Iran vollends in Waffengängen unter nationalen und religiösen Vorzeichen erstickt wird, dann bietet es sich an, die ultimative Karte zu spielen und auf einen vorteilhaften Neubeginn zu hoffen. Die Zerwürfnisse im Nahen und Mittleren Osten drängen auf eine Lösung, die, weil Klassen, Ethnien und Konfessionen systematisch und langfristig gegeneinander ausgespielt wurden, um so unausweichlicher gewaltsamer Art sein könnte. Den Zündfunken an die Lunte desjenigen Konflikts zu legen, der wie kein anderer für die postkoloniale Disparität der Region steht, könnte die Funktion eines Katalysators für Ereignisse haben, deren innere Logik erst im Rückblick auf die Dynamik einander verstärkender Erschütterungen ersichtlich würde.

Sich in dieser Situation für die Palästinenser zu verwenden ist noch unergiebiger für die Erfolgsratio westlicher Administrationen, als es ohnehin stets war. Sich auf die Seite des Stärkeren zu stellen und an einem Ausgang der Entwicklung zu arbeiten, der neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet, erscheint da weit attraktiver als eine ohnehin verloren gegebene Sache auszufechten. Die neuen arabischen Regierungen werden froh und dankbar sein, sich in dieser Situation als unentbehrlich für die NATO-Staaten zu erweisen und auch der israelischen Regierung die Reverenz zu erweisen, die ihr als deren Statthalter in der Region zusteht.

15. November 2012