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HEGEMONIE/1606: Desertec aus "sicherheitspolitischer" Sicht (SB)



In der Debatte um das Für und Wider des energiepolitischen Großprojekts Desertec bleiben die geostrategischen Fragen erstaunlich unterbelichtet. Zwar wird darauf verwiesen, daß es sich um eine Form extensiver Bewirtschaftung handelt, mit denen die Bewohner der betroffenen Regionen nicht unbedingt einverstanden sein müssen, daß man sich mit einem Engagement in politisch instabilen Staaten in schwer kalkulierbare Abhängigkeiten begebe und daß man zudem despotischen Regimes zuarbeite, die den demokratischen und menschenrechtlichen Standards der EU nicht genügen. Gleichzeitig werden Stimmen laut, die das Projekt als eine Art entwicklungspolitischen und demokratiefördernden Stimulus verkaufen, ja die es als Weg zur Lösung des Problems afrikanischer Armutsflüchtlinge betrachten.

Der Blick auf die sozialen und politischen Unwägbarkeiten der Länder, in denen die Sonnenenergie genutzt werden soll, läßt ahnen, daß eine auf expansiver Erschließung neuer Ressourcen basierende Energiesicherheit nicht nur außenpolitischer Voraussetzungen bedarf, die überhaupt Planungssicherheit gewährleisten, sondern daß sie selbst Bedingungen schafft, die in dieser Form zuvor nicht existierten und mit denen neue politische Sachzwänge respektive Handlungsvorwände in die Welt gesetzt werden.

Betrachtet man den projektierten Großraum, der für die Erzeugung von Sonnenenergie in nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten vorgesehen ist und der in der PR-Kampagne des Desertec-Konsortiums als EUMENA-Region - Europa, Middle East, North Africa - bezeichnet wird, dann fällt sofort auf, daß er dem westlichen Teil des Broader Middle East entspricht, mit dem die G8-Staaten 2004 ihren Expansionsraum markierten. Dessen Neuordnung nach Maßgabe eigener ökonomischer und politischer Vorstellungen war erklärtes Ziel der US-Regierung unter George W. Bush, wurde aber auch von einem entsprechenden Entwurf der EU flankiert. Im wesentlichen hat sich an diesem Vorhaben bis heute nichts geändert, nur firmieren die Bestrebungen, Hegemonie über Nordafrika wie den Nahen und Mittleren Osten zu erlangen, heute unter weniger großmächtigen Titeln wie etwa dem der Union für das Mittelmeer der EU oder der Istanbul Cooperation Initiative (ICI) der NATO.

Letztere ist aus dem Mediterranean Dialogue (MD) der NATO hervorgegangen, in den 1994 Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Mauretanien, Marokko und Tunesien eingebunden wurden. Die Beziehungen zu diesen Staaten wurden auf dem NATO-Gipfel 2004 in Istanbul vertieft und auf die arabischen Anrainer des Persischen Golfs erweitert. Auf Basis der ICI werden gemeinsame Manöver durchgeführt und die technischen und logistischen Voraussetzungen der Zusammenarbeit zwischen NATO und ihr nicht zugehörigen Staaten verbessert. Parallel dazu sind fast alle Mittelmeeranrainer in Partnership-for-Peace(PfP)-Programme, mit denen eventuellen Beitrittskandidaten der Weg ins Militärbündnis geebnet wird, integriert. Schon diese Erweiterungsstrukturen verraten, daß die NATO, zu deren zentralen Aufträgen die Gewährleistung des Ressourcennachschubs und der Energiesicherheit ihrer Mitgliedstaaten zählt, bei jedem größeren wirtschaftlichen Engagement in der Region mit Argusaugen darüber wachen wird, daß die Interessen ihrer führenden Regierungen gewahrt bleiben. Komplettiert wird die geostrategische Aufstellung der NATO durch die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), deren Anspruch auf Power Projection mit eigenständigen EU-Militäreinsätzen in Afrika untermauert wird.

Die aus dem Barcelona-Prozeß hervorgegangene, vor einem Jahr gegründete Union für das Mittelmeer wiederum gibt sich deutlich ziviler, kann und will den neokolonialistischen Impetus ihrer Zielsetzung jedoch keineswegs verbergen. So erklärte Frankreichs Präsident Nicholas Sarkozy, der das Partnerschaftsprojekt wesentlich vorantrieb, schon vor fast zwei Jahren bei einer Rede in Marokko vollmundig:

"Über das Mittelmeer wird Europa seiner Stimme wieder Gehör verschaffen. (...) Über das Mittelmeer werden Europa und Afrika gemeinsam das Schicksal der Welt und den Kurs der Globalisierung bestimmen. Über das Mittelmeer werden Europa und Afrika dem Orient die Hand reichen. Denn, wenn die Zukunft Europas im Süden liegt, dann liegt die Zukunft Afrikas im Norden. Ich rufe alle, die dazu imstande sind, auf, sich für das Projekt Mittelmeerunion zu engagieren, denn sie wird die Grundlage Eurafrikas sein, dieses großen Traums, der die Welt verändern kann."
(Regierungsdokument, 25.10.2007, aus Gegenstandpunkt 1-08)

Auch wenn man die rhetorische Emphase streicht, bleibt die Gewißheit, daß der französische Präsident damit eine klare Ansage zur ökonomischen Erschließung und politischen Subordination Nordafrikas geleistet hat. Weit entfernt davon, mit dem Projekt der Mittelmeerunion lediglich ökologische, infrastrukturelle und migrationspolitische Ziele zu verfolgen, wie die EU-Kommission glauben macht, handelt es sich um ein von EU-europäischen Interessen bestimmtes Instrument, mit dem man durchaus in bisher von den USA dominierten Regionen zu wildern trachtet.

So artikuliert sich mit dem Desertec-Projekt ein Expansionsinteresse, das Länder und Bevölkerungen betrifft, die viele Jahrzehnte unter kolonialistischer Herrschaft litten und in einen Krieg hineingezogen wurden, in dem Hitlerdeutschland versuchte, den britischen Vormachtanspruch über die Region zu brechen. Der von Sarkozy formulierte Machtanspruch fußt auf einer Tradition des Kampfes um die Mittelmeerregion, die bis zum römischen Imperium zurückreicht und die meist von einem eurozentrischen Selbstverständnis geprägt war, in dem die betroffenen Menschen Nordafrikas nicht vorkamen.

Die EU hat diese Staaten bereits in Pflicht genommen, die Flüchtlingsabwehr weit vor den europäischen Grenzen zu organisieren, sie hat in Algerien und in Palästina massiv in den demokratischen Prozeß eingegriffen, um Regierungen durchzusetzen, die als Handlanger eigener Interessen fungieren. Zusammen mit den USA stützt die EU in Ägypten und anderen arabischen Staaten Folterregimes, um demokratischen Entwicklungen vorzubeugen, die auf eine echte Unabhängigkeit dieser Länder hinauslaufen, zudem verzichten Washington und Brüssel darauf, die Besatzungspolitik Israels auf angemessene Weise zu verurteilen.

Kurz gesagt, europäische Regierungen sind in den Staaten der MENA-Region längst auf eine Weise aktiv, die mit positiven Entwicklungsanreizen und emanzipatorischer Politik nichts zu tun hat. Ihre durch den Terrorkrieg brutalisierte paternalistische Einflußnahme wird mit einem Projekt, das für die wirtschaftliche Entwicklung der EU einst so wichtig werden soll wie die Förderung des Erdöls in der Region, auf äußerst konfliktträchtige Weise fortgeschrieben. Allein die zur Errichtung dieses großindustriellen Komplexes erforderlichen Einbrüche in gewachsene Landschaften und Sozialstrukturen, die in der Enteignung und Vertreibung Einheimischer gipfeln können, setzen ein Gewaltpotential frei, das, wenn überhaupt, nur militärisch zu kontrollieren ist. Auch stehen die bisherigen Ergebnisse westlicher Hegemonialpolitik im Widerspruch zu der mit Desertec verheißenen Wohlstandsentwicklung in Nordafrika und Nahost, agieren die westlichen Akteure doch so oder so nach Maßgabe kapitalistischer Prinzipien, die altruistische Zwecke nicht vorsehen und in deren Namen alle Formen solidarischer Ökonomie und sozialistischer Vergesellschaftung nach Kräften unterdrückt werden. Schließlich ist an Konflikte mit staatlichen Akteuren wie etwa China zu denken, die ebenfalls Anspruch auf die Nutzung afrikanischer und nahöstlicher Ressourcen erheben.

Aus sicherheitspolitischer Sicht läßt die Verletzlichkeit der geplanten Solarkraftwerke und ihrer Infrastruktur gar keine andere Entwicklung zu, als daß die dafür in Anspruch genommenen Länder mit allen Mitteln politischer, militärischer und geheimdienstlicher Einflußnahme auf den Kurs der eigenen Interessen gebracht werden. Wie so etwas ausgehen kann, dokumentiert das Beispiel Afghanistan, wo eine zahlenmäßig kleine Gruppe schlecht bewaffneter Rebellen die größte Militärorganisation der Welt wahrscheinlich noch auf viele Jahre hinaus beschäftigt halten wird.

Was eine solche Situation für die Gesellschaften der EU bedeutet, ist leicht anhand der sicherheitsstaatlichen Entwicklung seit dem 11. September 2001 abzulesen. Der Ausbau der Repression erfolgt insbesondere unter der Vorgabe, daß zwischen Außen- und Innenpolitik nicht mehr zu trennen sei, sprich die warme Heizung in Castrop-Rauxel nicht nur gegen Terroristen in der Küstenregion von Algerien, sondern auch in der Bundesrepublik zu verteidigen sei. Dort wie hier muß die Zuverlässigkeit der Bürger mit allen Mitteln datenelektronischer Observation überprüft werden, um Unterbrechungen der Energieversorgung zu verhindern. Industriepolitische Innovationen von dieser Größenordnung bringen stets erheblichen Sicherheitsaufwand mit sich, das ist nicht nur unvermeidbare Folge, sondern Vorsatz einer Politik, die die Gesellschaft anhand von Produktionsfaktoren und Versorgungssträngen strukturiert, um jene Sozialkontrolle zu maximieren, die auch in Krisenzeiten widerstandsloses Durchregieren ermöglicht.

Bei der Provokation gewaltsamer Konflikte handelt es sich nicht um das unbeabsichtigte Nebenprodukt einer wohlmeinenden Innovation. Die energiewirtschaftlichen Expropriateure folgen sinnbildlich den Spuren, die die Stiefel und Panzerketten der NATO-Truppen im Wüstensand hinterlassen haben, um in Nutzung und Besitz zu nehmen, was anderen Menschen und Völkern gehört. Desertec voranzutreiben, ohne sich die Geschichte der Konflikte und Kriege vor Augen zu führen, unter denen die Menschen der Region seit Jahrhunderten leiden, und ohne den Anteil kolonialistischer und imperialistischer Politik daran kritisch zu reflektieren, bedeutet, sich zum Sachwalter einer neuen, um so unumkehrbarerer organisierten Landnahme zu machen.

15. Juli 2009