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HEGEMONIE/1624: Israels Suprematie auf dem Richtblock des Goldstone-Berichts (SB)



Begriffe wie Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Völkermord sind zwangsläufig zwiespältiger Natur, da ihr Diktum dem Privileg herrschaftssichernder Regulation entspringt und ihr Gebrauch der Immunisierung Vorschub leistet. Als Instrumentarium der Sanktion sind sie indessen so hochkarätig und mithin bei ihrer Inanspruchnahme zumeist heftig umstritten, weshalb es den Unterworfenen durchaus zu Gebote steht, sich ihrerseits solcher Zuordnungen zu bedienen. Wenn das israelische Besatzungsregime die Palästinenser mit Bomben und Raketen, Hunger und Krankheit, Erniedrigung und Ausweglosigkeit drangsaliert und dezimiert, drängt sich der Verdacht auf, daß eine Vertreibungs- und Vernichtungslösung strategisch durchgesetzt wird. Eskaliert die Logik bedingungsloser Unterwerfung in ein Massaker wie jenes im Gazastreifen zur Jahreswende, exerziert die Militärmacht ihre Allgewalt in der brachialen Lektion, daß Widerstand zwecklos sei, weil er mit ungezügelter Abstrafung niedergemacht wird.

Der Goldstone-Bericht belegt umfassend und zweifelsfrei, daß Kriegsverbrechen verübt und vermutlich Verbrechen gegen die Menschheit begangen wurden. Über jede persönliche Diffamierung erhaben und auf eine Weise ausgewogen urteilend, wie man sie angesichts der extremen Ungleichheit der Waffen und Folgen ihres Gebrauchs nicht teilen kann, hat der südafrikanische Richter, ehemalige Chefankläger der UNO-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie Sonderermittler der UNO-Menschenrechtskommission, Richard Goldstone, jedenfalls einen Prüfstein in die Welt gesetzt, der sich als Richtblock israelischer Suprematie erweisen könnte. Sollte Israel keine Untersuchung der ihm zur Last gelegten Kriegsverbrechen einleiten, müsse der Haager Gerichtshof angerufen werden, fordert Goldstone.

Mahmoud Abbas hatte auf Druck der USA und erpreßt durch die israelische Regierung zunächst einer Vertagung der Debatte im Genfer Menschenrechtsrat bis zum Frühjahr Vorschub geleistet. Als dieser Akt offener Kollaboration heftigen Widerstand unter den Palästinensern wachrief und die Führung der Autonomiebehörde vor aller Welt als Werkzeug der Besatzungsmacht auswies, sah sich Abbas zu einer Kehrtwende gezwungen. Er schlägt nun vor, den Bericht doch im Menschenrechtsrat zu diskutieren, was selbst bei UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon Erleichterung auslöste.

Der 575 Seiten umfassende Bericht war zu dem Ergebnis gekommen, daß das Ziel der Operation "Gegossenes Blei" die Bestrafung der Zivilbevölkerung gewesen sei. Dabei seien 1.400 Palästinenser, fast alle Zivilisten, getötet und rund 5.000 verletzt worden. Der Hamas wird vorgeworfen, durch ihren Raketenbeschuß ohne klare militärische Ziele ebenfalls den Tod der Zivilisten billigend in Kauf genommen zu haben. Dieses seit Jahren schwerste Geschütz gegen das israelische Regime wird von diesem mit heftigsten Verdrehungen, Verleumdungen und Drohungen eingedeckt, welche die tiefsitzende Furcht hinter dem hochgezüchteten Aggressionsapparat erkennen läßt, daß Israel eines Tages auf den Status eines normalen Staates mit normalen Beziehungen zurechtschrumpfen könnte.

Sollte sich der Menschenrechtsrat an den Weltsicherheitsrat wenden und eine Bestrafung Israels fordern, wird die Sache brisant. Dann ist nicht mehr restlos auszuschließen, daß der Internationale Strafgerichtshof angerufen wird, der Haftbefehle gegen führende israelische Politiker und Militärs verfügen könnte. Um diese Kette zu blockieren, hat die Regierung Benjamin Netanjahus eine massive Kampagne aufgeboten, die Gegner unter Druck setzen und Verbündete auf bedingungslose Unterstützung einschwören soll.

Wie Netanjahu zu Beginn der neuen Sitzungsperiode des israelischen Parlaments gewettert hatte, untergrabe der "verzerrte" Bericht Israels Recht auf Selbstverteidigung und behindere den Friedensprozeß in der Region. Sein Land werde es nicht zulassen, daß Ex-Ministerpräsident Ehud Olmert, Ex-Verteidigungsministerin Zipi Livni oder Verteidigungsminister Ehud Barak, die Soldaten zur "Verteidigung israelischer Städte" entsandt hätten, auf der Anklagebank in Den Haag säßen. Ebensowenig dulde man, daß israelische Soldaten als Kriegsverbrecher gebrandmarkt werden.

Israels UNO-Botschafterin Gabriela Shalev kanzelte den Bericht als einseitig, voreingenommen und somit falsch ab. Sollte dieser Report im Raum stehen, werde es zwischen Israel und der Palästinenserregierung keine Friedensgespräche mehr geben, wiederholte sie die Drohung Netanjahus. Es sei Zeitverschwendung, daß sich der Sicherheitsrat mit dem Bericht beschäftige, da dieser den Terrorismus begünstige und legitimiere. Dazu werde es ohnehin nicht kommen, fügte sie triumphierend hinzu, da US-Außenministerin Hillary Clinton ihr versprochen habe, im Falle eines entsprechenden Antrags ihr Veto einzulegen.

Wenngleich Shalev damit auf das Grundmuster uneingeschränkter Bündnispolitik abstellte, wird dessen unverhohlene Indienstnahme als letztgültiger Machtfaktor auf US-amerikanischer Seite mit Sorge registriert. So gab sich der stellvertretende UNO-Botschafter der USA, Alejandro Wolff, zutiefst besorgt über die Untersuchungsergebnisse und verlangte, Israel müsse die Vorwürfe ernsthaft prüfen. In einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats forderten die USA, Frankreich und Großbritannien die israelische Regierung auf, die Ergebnisse des Sonderermittlers Richard Goldstone ernst zu nehmen.

Zuvor hatte bereits die Türkei, bislang als strategischer Verbündeter Israels angesehen, ein gemeinsames Luftwaffenmanöver mit der israelischen Luftwaffe abgesagt, da deren Kampfjets an der Bombardierung des Gazastreifens beteiligt waren. Israels Außenminister Lieberman warf im Gegenzug dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan vor, er betreibe die Islamisierung der Türkei. Das sind die harschen Töne, derer sich israelische Regierungen in aller Regel bedienen, um jegliche Kritik mit schwerster Keule aus dem Feld zu schlagen.

Genau damit haben die Verbündeten Israels offenbar ein Problem: Nicht, daß sie über Nacht die Seiten gewechselt und ihr Herz für die Palästinenser entdeckt hätten, doch halten sie es für angeraten, das Gazamassaker auf kleinster Flamme zu halten und nicht durch Drohgebärden und Einschüchterungsversuche erst recht hochkochen zu lassen. Die arabischen Länder vor den Kopf zu stoßen, hat sich bereits als kontraproduktiv hinsichtlich der Ausgrenzung palästinensischer Interessen erwiesen, als der Zorn über den Verrat von Abbas in der gesamten Region hohe Wogen schlug.

Obgleich zu befürchten steht, daß Israel von seinen Verbündeten auch diesmal erfolgreich abgeschirmt wird, lugt doch hinter den aktuellen diplomatischen Irritationen dieses Pakts die Furcht hervor, daß die Verlierer dieser Welt nicht länger ihr Heil in Anbetung der Sieger suchen könnten. Das wäre fatal für die Minderheit, die daran arbeitet, ihr Überleben zu Lasten einer Mehrheit der Menschheit dauerhaft und unumkehrbar zu sichern.

15. Oktober 2009