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HEGEMONIE/1669: Herausforderung der NATO durch strategische Umorientierung der Türkei (SB)



Das Treffen des russischen Ministerpräsident Wladimir Putin mit seinem türkischen Amtskollege Recep Tayyip Erdogan am Rande einer regionalen Sicherheitskonferenz in Istanbul, an der Montag und Dienstag 21 Staaten des eurasischen Kontinents teilnahmen, und die dabei getroffenen Vereinbarungen dokumentieren eine Annäherung zwischen der Türkei und Rußland, die die Regierungen in den USA und der EU zusehends beunruhigen dürfte. War das Verhältnis der beiden Länder, die sich im Kalten Krieg in offener Konfrontation gegenüberstanden, auch in jüngerer Vergangenheit unter anderem wegen widerstreitender geostragischer Interessen im Kaukasus eher distanziert, so entdecken Moskau und Ankara inzwischen die Vorteile einer engen Kooperation. So wurden beim Besuch des russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Ankara vor wenigen Wochen Wirtschaftsverträge mit einem Umfang von mehr als 20 Milliarden Euro abgeschlossen, die das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern bis 2015 auf 60 Milliarden Euro anwachsen lassen und Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei auf den zweiten Platz verweisen werden. Nun haben Putin und Erdogan ein Abkommen zum Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks geschlossen und die Aufhebung der gegenseitigen Visapflicht vereinbart.

Die strategische Zusammenarbeit auf dem Energiesektor betrifft auch die Pipeline South Stream, die den Export russischen Erdgases nach Westeuropa erleichtert und so die Bedeutung des westlichen Konkurrenzprojekts Nabucco für die Türkei verringert. Da Erdogan den EU-Beitritt seines Landes direkt an den Bau dieser Erdgaspipeline gekoppelt hat, ist die energiepolitische Zusammenarbeit mit Rußland auch als Signal zu verstehen, daß eine EU-Mitgliedschaft nicht das dominante Interesse der Türkei sein muß.

Seitdem insbesondere die Bundesregierung hinlänglich deutlich gemacht hat, daß eine Aufnahme der Türkei in die EU wenn überhaupt, dann erst in vielen Jahren erfolgen würde, und die USA den hegemonialen Interessen Ankaras im Irak zugunsten der im Nordirak lebenden Kurden entgegenwirken, ist die außenpolitische Neuorientierung des Landes in vollem Gange. Die Annäherung an den Iran wurde durch eine von Brasilien und der Türkei erfolgreich zustandegebrachten Vermittlung im Atomstreit gekrönt, die in Washington trotz angeblichen Interesses an einer friedlichen Einigung mit Teheran auf wenig Gegenliebe stieß.

Um so mehr Grund hatte der iranische Präsident Mahmud Ahmedinejad, in Istanbul seine Verbundenheit mit der Türkei zu demonstrieren. Erdogan traf dort mit dem syrischen Präsidenten Basar al-Assad zusammen, an dem die Versuche westlicher Regierungen, Syrien aus der strategischen Partnerschaft mit Iran zu lösen, bislang ergebnislos abprallten. Nun, da die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel auf einem Tiefpunkt angelangt sind, erweist sich die Annäherung zwischen Damaskus und Ankara eher als Gegenentwurf zur westlichen Hegemonie in der Region denn als Versuch, diese über die Türkei zu festigen. Die Ausbildung einer regionalen Kooperation zwischen Iran, Syrien und Türkei bei gleichzeitiger Annäherung zwischen der Türkei und Rußland könnte vor dem Hintergrund des jüngsten Konflikts mit Israel die Abkehr von der bislang zuverlässig funktionierenden Dichotomie der westlichen Nahostpolitik einleiten.

Während das Gros tendentiell prowestlicher arabischer Staaten zusammen mit dem NATO-Mitglied Türkei gegen angebliche Schurken wie den Irak, den Iran und Syrien positioniert werden konnte, brächte ein Bündnis aus der Türkei, der als Nachfolgestaat der ehemaligen Hegemonialmacht des Osmanischen Reichs stets eine Sonderrolle zukam, dem persisch-schiitischen Iran und dem arabisch-sunnitischen Syrien erhebliches strategisches Gewicht auf die Waage nahöstlicher Entscheidungsprozesse. Während die USA bislang ihre Vasallen Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien gegen den Iran ausspielen konnten, würde der als schiitischer Halbmond bezeichnete Bogen zwischen Iran, Syrien und Libanon durch die Türkei einen ganz anderen, nicht mehr einfach als Feindbild zu diffamierenden Charakter erhalten. Das könnte unter anderem Auswirkungen auf die Zukunft des Iraks haben, der sich trotz der US-Besatzer seit längerem auf den Iran zubewegt.

Um so weniger können sich USA und EU leisten, ihre Beziehungen zur Türkei als Bindeglied in die islamische Welt und als strategischen Eckpfeiler der NATO in dieser konfliktgeladenen Region zu vernachlässigen. Die immer deutlichere Formen annehmende außenpolitische Neuorientierung Ankaras wird durch westliche Politiker bislang nur zurückhaltend kommentiert, müssen sie doch befürchten, diesen Prozeß mit jedem Versuch, Druck auf Ankara auszuüben, zu beschleunigen. Ob dadurch oder durch die abschließende, fast einhellig erfolgende Verurteilung des Überfalls auf die Gaza Freedom-Flottille durch Israel, das mit einem niedrigrangigen Diplomaten des israelischen Konsulats in Istanbul zugegen war, bedingt wurde in deutschen Medien kaum über diese Sicherheitskonferenz berichtet.

Dabei waren neben den genannten Staaten auch Vertreter Chinas, Indiens, Pakistans, der postsowjetischen zentralasiatischen Republiken sowie der afghanische Präsident Hamid Karzai und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zugegen. Letzterer dürfte versucht haben, angesichts der Unterstützung der Hamas-Regierung in Gaza durch die Türkei Schritt mit einer Entwicklung zu halten, die durch den Vorfall im Mittelmeer an zusätzlicher Dynamik gewonnen hat. Diese könnte von der israelischen Regierung auch dazu genutzt werden, das abgekühlte Verhältnis zur Türkei aktiv zu belasten, um Ankara in eine zu den USA und der EU konfrontative Position zu drängen, um die Unterstützung des Irans durch die Türkei zu schwächen und die eigene Stellung als Sachwalterin westlicher Interessen in der Region zu stärken.

Erdogan wird sicherlich kein Porzellan zerbrechen, indem er die Integration des Landes in das westliche Bündnissystem leichtfertig aufs Spiel setzt. Die Türkei wird als ein Land, das im Kalten Krieg unter dem bisweilen diktatorischem Einfluß einer eng von den USA kontrollierten Generalität stand und das durch die Belagerung des Iraks durch die USA und Britannien jahrelang schwere ökonomische Nachteile in Kauf nehmen mußte, aber auch nicht darauf verzichten, die Zusammenarbeit mit Regierungen zu intensivieren, die westlichen Vormachtbestrebungen im Weg stehen. In der neuen Außenpolitik Ankaras zeichnet sich das Muster einer multipolaren Staatenordnung ab, wie sie von der russischen Regierung aufgrund der strategischen Konfrontation mit dem expansiven westlichen Militärbündnis NATO seit Jahren propagiert wird. Eine solche könnte das Hegemonialstreben westlicher Staaten im Nahen und Mittleren Osten und bislang für unerschütterlich gehaltene Allianzen wie die zwischen den USA und Israel von einer Seite her in Frage stellen, über die bisher nur wenig nachgedacht wurde.

9. Juni 2010