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HEGEMONIE/1675: Symbolischer Schlußstrich im Irak Auftakt zu neuen Eskalationen (SB)



Das von US-Präsident Barack Obama offiziell erklärte Ende des Irakkriegs ist ein Akt symbolpolitischer Beschwörung, der seine Widerlegung geradezu herausfordert. Nicht nur die weitere Anwesenheit von 50.000 US-Soldaten, deren Beratungs- und Schutzfunktion ein bloß terminologisches Dementi fortgesetzter Besatzungspolitik darstellt, sondern vor allem der desolate innere Zustand des Landes belegen, daß der Krieg weitergeht. Er wurde mit der gleichen dezisionistischen Willkür vom Zaun gebrochen, mit der nun ein Schlußstrich gezogen wird, der nichts weiter als den Eintritt in die nächste Phase US-amerikanischer Hegemonialpolitik in der Region des Nahen und Mittleren Osten markiert.

Wer sich nicht vom Verlautbarungsstil US-amerikanischer Regierungspolitik blenden lassen will, der braucht nur die letzten drei Jahrzehnte des Engagements Washingtons in der Region Revue passieren lassen. Der Absicht, den eigenen Einfluß zur Sicherung des rohstoffreichen und geostragisch bedeutsamen Gebiets zu maximieren, wurde mit dem Sturz des Shahs Reza Pahlewi und der Ausrufung der Islamischen Republik Iran ein empfindlicher Dämpfer versetzt. Die Unterstützung des Iraks im Krieg gegen den Iran erfolgte trotz des Affronts der Nationalisierung der Erdölproduktion durch die in Bagdad regierende Baath-Partei aus dem einzigen Grund, den Iran nicht zuletzt ideologisch in die Schranken zu weisen.

Während sich die USA in Afghanistan noch des antikommunistischen Furors der islamischen Orthodoxie bediente, um der Sowjetunion eine empfindliche Niederlage beizubringen, wurde der politische Islam schiitischer Prägung bereits als gefährlicher Gegner der eigenen neokolonialistischen Bestrebungen begriffen. Die Unterstützung eines Regimes, dessen panarabischer Sozialismus den US-Elite nicht minder abhold war, gegen einen Iran, dessen neuer Herrscher Ayatollah Chomenei mit den kommunistischen Revolutionären kurzen Prozeß gemacht hatte, zielte auf die Schwächung beider Seiten zugunsten eigener Hegemonialinteressen ab.

Nur zwei Jahre nach Ende des irakisch-iranischen Kriegs und parallel zum absehbaren Niedergang der Sowjetunion, die den USA als einzige Weltmacht außerhalb des westlichen Lagers im Nahen und Mittleren Osten Paroli bieten konnte, bot die Eroberung Kuwaits durch die Truppen des Irak Gelegenheit, diesen ölreichen, säkularen und industriell entwickelten Staat als regionale Mittelmacht auszuschalten. Der Angriff auf den Irak ging in seiner zerstörerischen Gewalt weit über das Maß hinaus, das erforderlich gewesen wäre, um das Ziel dieses UN-mandatierten Krieges, die Wiederherstellung der Souveränität eines aus kolonialistischen Erwägungen entstandenen Staates, zu erreichen. Die verheerende Wirkung der umfassenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Landes wurde nach dem Sieg der Koalitionstruppen durch den insbesondere von den USA und Britannien erwirkten Beschluß des UN-Sicherheitsrats zur Entwaffnung des Landes und dessen Erzwingung durch ein Wirtschaftsembargo langfristig fortgeschrieben.

Der Sieg über den Irak und die Verhängung der bislang schwerwiegendsten Sanktionsmaßnahme der Vereinten Nationen gegen eines seiner Mitgliedstaaten erfolgte nicht zufällig in dem Jahr, zu dessen Ende die völkerrechtliche Auflösung der Sowjetunion beschlossen wurde. Die von US-Präsident George H.W. Bush damals ausgerufene "Neue Weltordnung" markiert den symbolischen Beginn eines transnationalen Interventions- und Akkumulationsregimes, das am Beispiel des Iraks demonstrierte, wie weit man zu gehen gedachte, wenn sich ein Staat den damit verbundenen Einschränkungen seiner Souveränität nicht bereitwillig beugte. Die von 1991 bis 2003 in verschiedenen Härtegraden des ökonomischen und militärischen Zugriffs aufrechterhaltene Isolation und Blockade des Iraks war Labor und Vollzug des suprastaatlichen Eingriffs zugleich.

Im Entzug für die irakische Bevölkerung lebenswichtiger Importgüter unter dem Vorwand der Verhinderung der Produktion von Massenvernichtungswaffen nahm eine biopolitische Mangelverwaltung Gestalt an, die von zukunftsweisender Art für das globale Krisenmanagement in Zeiten verknappter Ressourcen sein könnte. Die im Rahmen eines internationale Arbeitsteilung und den unbehinderten Kapital-, Personen- und Warenverkehr propagierenden kapitalistischen Weltsystems ausgeübte Verfügungsgewalt über die Bevölkerung eines territorial abgeschlossenen Gebietes demonstrierte am lebendigen Objekt, daß die nationale Selbstbestimmung zugunsten antagonistischer Gesellschaftsentwürfe der Vergangenheit angehört. Wer sich nicht in das vorherrschende System integriert, kann jederzeit unter Zuhilfenahme massiver Gewaltanwendung dazu gezwungen werden. Daß diese insbesondere gegen die Zivilbevölkerung gerichtet war und durch einen permanenten unterschwelligen Luftkrieg verstärkt wurde, ohne daß dies zu einer Gegenbewegung unter den Staaten der Welt führte, unterstrich den Vormachtanspruch der globalen Hegemonialmacht USA und der NATO-Staaten. Was im Falle des Irak noch den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen Nationalstaaten hatte, läßt sich darüber hinaus auch als Maßnahme zur Eindämmung regionaler, von Aufstandsbewegungen begleiteter Mangelkrisen und Umweltkatastrophen denken.

Mit der schlußendlichen Eroberung des Iraks 2003, der militärischen Besetzung des Landes und seiner Unterwerfung durch das systematische Entfachen ethnischer und konfessioneller Konflikte sowie seiner administrativen Reorganisation nach den Konzepten der Invasoren wurde ein Zustand der permanenten sozialen Krise etabliert, die die ganze Region dauerhaft schwächt. In der drohenden Fragmentierung des Landes artikulieren sich nicht nur die um die Macht konkurrierenden Fraktionen des Landes, sondern auch die Interessen benachbarter Staaten. Im Nordirak schwelt ein Konflikt zwischen seinen arabischen und kurdischen Bewohnern, der durch den Krieg der Türkei gegen jede Form kurdischer Eigenstaatlichkeit bei gleichzeitigem Eigeninteresse an dem ölreichen Gebiet zu einer höchst explosiven Gemengelage geraten ist. Die einst das Gros der herrschenden Eliten bildende sunnitische Minderheit ringt mit der schiitischen Bevölkerungsmehrheit um die Macht über den Zentralstaat, dessen Zerfall den Einfluß des Iran auf die schiitischen Iraker noch mehr begünstigte, als es nach dem Sturz Saddam Husseins ohnehin der Fall war. Das sunnitische Herrscherhaus in Riad fürchtet die separatistischen Ambitionen der schiitischen Minderheit Saudi-Arabiens, die die Bevölkerungsmehrheit der besonders ölreichen östlichen Region des Landes stellen.

Diese innerarabischen Bruchlinien, der zwischen Teheran und Washington anhand des Atomstreits ausgetragene Kampf um die regionale Vormachtstellung und der Krieg in Afghanistan geben wenig Anlaß, der Ankündigung des US-Präsident Glauben zu schenken, daß die restlichen US-Truppen bis Ende 2011 aus dem Irak abgezogen würden. So lange der Konflikt mit dem Iran nicht zugunsten der USA entschieden sein wird, liefe jeder weitere Rückzug auf die Preisgabe einer Weltregion hinaus, die für die von fossiler Energie angetriebene Produktivität der USA und EU unentbehrlich ist. Mit der Zerschlagung des autoritär regierten Irak wurden gemäß der neoliberalen Doktrin von der Zerstörung etatistischer Strukturen zugunsten der Entfachung einer angeblich selbstregulativen Marktdynamik Kräfte auf den Plan gerufen, die sich auf eine Weise zu verselbständigen drohen, mit der die Tage der imperialen Vorherrschaft des Westens gezählt wären.

Von daher birgt die offizielle Beendigung des Kampfeinsatzes der US-Streitkräfte im Irak die Chance auf eine Qualifikation des transnationalen Regulationregimes unter Einsatz noch massiverer Gewaltmittel. Die Gefahr eines offenen Krieges gegen den Iran geht nicht zuletzt von der unbewältigten Situation im Irak aus, die keineswegs Folge eines schicksalhaften Scheiterns der westlichen Interventionsmächte ist. Diese waren stets dazu bereit, ihre Interessen auf dem Rücken der betroffenen Bevölkerungen durchzusetzen. So zeigten sich die Regierungen der NATO-Staaten, die die umfassende militärische Aufrüstung des Iraks gegen den Iran zu verantworten haben, keineswegs schockiert von den Verbrechen, die der irakische Präsident Saddam Hussein an der kurdischen Bevölkerung seines Landes beging. Diese wurden dem Diktator erst angelastet, als es darum ging, das eigene Verbrechen des Angriffs auf den Irak vorzubereiten und zu legitimieren.

Obwohl die derzeit gegen den Iran in Stellung gebrachten Sanktionen und Kriegsdrohungen vor allem die iranische Bevölkerung treffen, werden gangbare Wege wie die Vermittlungsinitiative der Türkei und Brasiliens ignoriert, da sie zu keiner Schwächung der iranischen Regierung führten. Eine auf Augenhöhe verhandelte Friedenslösung im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wird von vornherein verhindert, um die Vormachtstellung des engsten Verbündeten der USA und EU in der Region nicht zu gefährden. Die von Obama in Aussicht gestellten Verbesserungen der Beziehungen zwischen den USA und den Ländern des Nahen und Mittleren Osten haben sich samt und sonders als ungedeckte Versprechungen erwiesen, die ihren befriedenden Zweck dementsprechend verfehlt haben.

Im strategischen Entwurf der neokonservativen Planer im Pentagon und den Washingtoner Think Tanks sollte die Eroberung des Irak als Katalysator der Transformation der gesamten Region zugunsten US-amerikanischer Hegemonie fungieren. Diese Funktion erfüllt die Entwicklung nach wie vor, birgt die soziale Destruktion in diesem Denken doch stets die Möglichkeit, die dabei zerstörten Verhältnisse zu eigenen Gunsten neu zu ordnen. Eine Abkehr Obamas, der in seiner Rede zur Beendigung des Irakkriegs die Fortsetzung des Krieges gegen Al Qaida in Afghanistan bekräftigte und damit das antiterroristische Dispositiv US-amerikanischer Geostrategie aufrechterhielt, vom Hegemonialstreben der USA in der Region ist auch deshalb nicht zu erkennen, weil er sich, ohne großen Widerstand zu leisten, von den neokonservativen Eliten in die Defensive treiben läßt. Allein die Einbeziehung und Würdigung seines Vorgängers George W. Bush in den symbolischen Schlußstrich unter das Kapitel Irakkrieg wie die ungebrochene Begünstigung der Interessen Israels dokumentiert die Kontinuität der US-Politik in der Region.

So werden im Schatten der fast zeitgleich beginnenden Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern, die Obama einmal mehr zum aussichtsreichen Friedensprojekt erklärt, obwohl seine Vorgänger hinlänglich bewiesen haben, daß sich mit der einseitigen Parteinahme für Israel keine nachhaltige Friedenslösung erwirtschaften läßt, Hoffnungen auf eine regionale Stabilität geschürt, die auf dem gleichen Treibsand errichtet werden, der alle bisherigen Versuche, den Nahen und Mittleren Osten mit kolonialistischen Mitteln auf eine ressourcentechnische und geostragische Peripherie europäischer und nordamerikanischer Produktivität zu reduzieren, gewaltsam eskalieren ließ. Obamas Behauptung, die mit einer Billion Dollar konservativ bezifferten Kriegsausgaben seines Landes zum Anlaß zu nehmen, sich den schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen der eigenen Bevölkerung zuzuwenden, stellt gezielt in Abrede, daß der unbegrenzte Kredit, den die USA bislang genossen haben, letztinstanzlich auf der Fähigkeit beruht, das eigene Akkumulationsmodell wie kein anderes Land mit Waffengewalt durchsetzen zu können. Die menschlichen Katastrophen, die die Iraker seit Jahrzehnten heimsuchen, geben den Blick frei auf die Dialektik imperialer Befreiungsrhetorik, die auf der jeweils höheren Organisationsebene praktischer Herrschaftsicherung ihren programmatischen Verlauf nimmt.

1. September 2010