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HEGEMONIE/1698: Hegemon USA wankt - Kolumbiens Präsident sucht Alternativen (SB)



Wie überall auf der Welt hat der Entwurf US-amerikanischer Suprematie als unangefochtenes Leitmotiv auch in Lateinamerika ausgedient. Dem "Hinterhof" Washingtons entsprang die emanzipatorische Bewegung, die Dominanz des Hegemons zu brechen, regionale Bündnispolitik zu betreiben und eine internationale Neuausrichtung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen vorzunehmen. In der von den USA seit Jahrhunderten für sich beanspruchten Einflußsphäre vollendet sich die Loslösung, wenn mit Kolumbien der bislang engste Verbündete das Zwangskorsett des Vasallentums abstreift und seine Schritte auf neue Wege lenkt. Juan Manuel Santos hat in den sieben Monaten seiner Präsidentschaft seinen Außenminister mit einer Mission unermüdlicher Reisediplomatie betraut, die diesen in diverse Hauptstädte führte, nicht jedoch nach Washington. Damit nicht genug, bezeichnet Santos seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez, der ihn noch im vergangenen Jahr der Planung von Mordanschlägen bezichtigt hat, heute als seinen "neuen besten Freund".

Dieser überraschende Kurswechsel gibt nicht nur im lateinamerikanischen Umfeld Rätsel auf, argwöhnte man doch, Santos werde als eine Art Wolf im Schafspelz aller versöhnlichen Lippenbekenntnisse zum Trotz als bloßer Statthalter seines Vorgängers Álvaro Uribe im höchsten Staatsamt dessen Linie uneingeschränkt fortsetzen. Wie der kolumbianische Präsident vor wenigen Tagen in einem ausführlichen Interview erläuterte, betrachte er die USA nach wie vor als "großartigen Partner". Er wolle die Beziehungen zu Washington fortsetzen und sogar weiter vertiefen, doch gebiete der gesunde Menschenverstand, die internationalen Beziehungen im Kontext einer sich verändernden Welt zu diversifizieren. [1]

Solche Worte aus dem Munde eines Repräsentanten der nationalen Eliten, dem sozialistische Entwürfe oder definierter Antiamerikanismus nicht ferner sein könnten, kann als weiteres Signal eines grundlegenden Umbruchs im Gefüge globaler Vorherrschaft und Konkurrenz gewertet werden. Santos gab der US-Regierung den dringenden Rat, sich von ihrer Kriegsführung in Afghanistan und dem Irak nicht dazu verleiten zu lassen, sich von Lateinamerika abzuwenden, wo der Einfluß der Vereinigten Staaten unübersehbar schwinde. Er frage sich, welches strategische Interesse die USA in Afghanistan verfolgten, während sie zugleich die Hilfsgelder für Kolumbien kürzten, wo doch deren Gesamthöhe "Peanuts" im Vergleich zu ihren anderswo getätigten Ausgaben seien. Er könne den Amerikanern nur ans Herz legen, die Länder Lateinamerikas nicht länger zu vernachlässigen, und hoffe sehr, daß die Turbulenzen in Nordafrika und dem Nahen Osten den "positiven Kollateraleffekt" hätten, die US-Interessen wieder stärker an das engere Umfeld zurückzubinden. Seines Erachtens sei der Zeitpunkt für die USA gekommen, "ihre Karten neu zu mischen".

Mit seiner Einschätzung, daß Washington die Bündnistreue Bogotás für selbstverständlich nehme, doch immer weniger bereit sei, seinen Teil zu dieser Partnerschaft beizutragen, steht Santos nicht allein. In der vergangenen Woche beklagte das einflußreiche Nachrichtenmagazin "Semana" die jahrelange Blockade des Handelsabkommens durch den US-Kongreß und verwies in einem weiteren Artikel auf von WikiLeaks veröffentlichte US-Depeschen, die den kolumbianischen Präsidentenpalast aus Sicht der Zeitung zu einer "Zweigstelle der US-Botschaft" degradieren. Noch harscher fiel die Kritik an der aktuellen Indifferenz Washingtons gegenüber Kolumbien in einer Karikatur des Wirtschaftsblatts "Dinero" aus, die in Bezug auf das stagnierende Handelsabkommen Präsident Obamas lächelndes Gesicht zeigte, daß sich in die verächtliche Geste eines gestreckten Mittelfingers verwandelte. Als der US-Präsident kürzlich bei einer Reise durch Lateinamerika Station in Brasilien, Chile und El Salvador machte, jedoch die kolumbianische Hauptstadt ausließ, ersparte dieser Affront zumindest beiden Seiten die Peinlichkeit eines Besuchs ohne Freihandelsabkommen.

Wie weitreichend Präsident Santos auch seine eigenen Karten neu mischt, unterstreicht zudem der Versuch, sich nicht nur mit den vordem als feindlich eingestuften Nachbarländern Venezuela und Ecuador auszusöhnen, sondern darüber hinaus eine aktive und anerkannte Rolle in Lateinamerika einzunehmen. Durch stärkere Integration mit marktorientierten Ländern wie Chile, Mexiko und Peru hofft Santos, ein Gegengewicht zu Brasilien zu schaffen, was er jedoch nicht als Konfrontation, sondern im Gegenteil als Beitrag zum Einigungsprozeß der gesamten Region verstanden wissen will. Mit dieser Initiative trägt er zweifellos der zunehmenden Isolation Kolumbiens unter seinem Vorgänger Uribe Rechnung, der sich wenig um internationale Beziehungen kümmerte, solange er nur die USA als militärische Übermacht und Finanzquelle an seiner Seite wußte.

Der kolumbianische Staatschef streckt seine Fühler nach Europa und China aus, wo er offensichtlich die verläßlichen Wirtschaftspartner der Zukunft verortet. Chinesische Delegationen treffen nach den Worten des Präsidenten fast wöchentlich in Kolumbien ein, wo man insbesondere ein Eisenbahnnetz plane, das unter anderem eine landgestützte Alternative zum Panamakanal schaffen soll. Zudem erörtere man mit chinesischen und europäischen Investoren die Errichtung einer Stadt für 250.000 Einwohner an der Karibikküste südlich von Cartagena. Für die Gestaltung des Projekts, das auch einen Industriepark für die Herstellung von Exportgütern beherbergen soll, will man den renommierten spanischen Architekten Ricardo Bofill gewinnen.

Noch bemerkenswerter als solche Großprojekte, deren Realisierung vorerst ungewisse Zukunftsmusik bleibt, ist indessen eine sozialpolitische Initiative des Präsidenten, die erzkonservativen Skeptikern unter seinen Landsleuten zweifellos die Haare zu Berge stehen läßt. Santos hält die eklatante soziale Ungleichheit in der Gesellschaft, die unter Uribe dramatisch zugenommen hat, offenbar für eine Widerspruchslage, die es mit Blick auf die künftige Herrschaftssicherung zu entschärfen gilt. Er will insbesondere ein Regierungsprogramm ausweiten, in dessen Rahmen Tausende Bauern, die im Bürgerkrieg von ihrem Besitz vertrieben wurden, Land zugeteilt werden soll. Zudem will er das Steueraufkommen verbessern und zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen auf den Weg bringen, wobei sich der ehemalige Harvard-Absolvent ausdrücklich an Franklin D. Roosevelts vielzitiertem New Deal orientiert. Sollten diese Sozialprojekte dazu führen, daß man ihn als "Verräter an seiner Klasse" schmähe, werde das eine Freude für ihn sein. Könne man ihn am Ende seiner vierjährigen Amtszeit den "kleinen Roosevelt Kolumbiens" nennen, wäre das eine große Ehre für ihn.

Sind das in einem Land wie Kolumbien, in dem Gewerkschafter, Journalisten oder Sozialarbeiter für einen Bruchteil dessen ermordet werden, was der Präsident nun als zentrales Vorhaben seiner Präsidentschaft angekündigt hat, waghalsige Äußerungen? Wohl kaum, da Santos wesentlich mehr im Rücken hat, als eine Zustimmungsrate von derzeit fast 80 Prozent. Der 59jährige Ökonom, Journalist und mehrfache Minister gehört einer mächtigen Politiker- und Journalistenfamilie an. Sein Großonkel Eduardo war von 1938 bis 1942 Staatschef, zusammen mit dem spanischen Planeta-Konzern kontrolliert diese Dynastie die Mediengruppe El Tiempo um die gleichnamige Tageszeitung, bei der Santos in den 1980er Jahren stellvertretender Chefredakteur war. Sein Cousin Enrique Santos ist Präsident der Interamerikanischen Presse Assoziation (IAPA), in der 1.300 private Medienunternehmen des Kontinents organisiert sind, ein weiterer Cousin, Francisco Santos, war Vizepräsident Álvaro Uribes.

Manuel Santos war Finanzminister und von 2006 bis 2009 Verteidigungsminister. Während seiner Zeit im Ministeramt brachten Militärs zahlreiche Zivilisten um, die als getötete Rebellen ausgegeben wurden. Auch der völkerrechtswidrige Angriff der kolumbianischen Armee auf ein Lager der FARC im benachbarten Ecuador, das eine schwere regionale Krise auslöste, fand unter seiner Verantwortung statt. In seinem Wahlkampf hob Santos hervor, man müsse sicherstellen, daß Uribes Erfolge in puncto Sicherheit und Fortschritt nicht verlorengingen. Man könne ihn zwar nicht wiederwählen, wohl aber die Sicherheit einer Demokratie, den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen der Investoren.

Obgleich Santos als Verteidigungsminister Uribes dessen Kurs bruchlos mitgetragen hat und für zahlreiche Untaten politisch verantwortlich ist, gilt er doch im Unterschied zu seinem Vorgänger nicht als machthungriger Kriegsherr mit Verbindungen zu Paramilitärs und Drogenbaronen. Während Uribe aus der Sphäre des Großgrundbesitzes stammt und mit Paramilitärs und Drogenbaronen zusammengearbeitet hat, repräsentiert Santos eine zukunftsfähigere Fraktion der kolumbianischen Eliten. Nach acht Jahren Uribe ist die Sozialbilanz des Landes verheerend. Knapp die Hälfte der 44 Millionen Kolumbianer gilt als arm, über sieben Millionen Menschen leben in absolutem Elend. Nach den Worten des Gewerkschaftschefs Fabio Arias belegt die höchste Arbeitslosenquote Lateinamerikas das "Scheitern des neoliberalen Modells".

Juan Manuel Santos, der in der Wiege der Macht geboren wurde und von Kind auf gelernt hat, in den Zirkeln der Macht zu dominieren, will als 59. Präsident Kolumbiens die Gesellschaft reformieren, um die Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Er will darüber hinaus die außenpolitische Isolation im regionalen Umfeld überwinden und sein Land im internationalen Kontext neu positionieren. Mag auch sein Rückbezug auf Roosevelt anachronistisch anmuten, so steht er mit der rückwärtsgewandten Glorifizierung des New Deal bekanntlich nicht allein. Auf der Höhe seiner Zeit ist er zweifellos, wenn er die einseitige Abhängigkeit von den USA in Frage stellt und auf neue Wirtschaftspartner insbesondere in Asien setzt.

Wie der bekannte Friedensforscher Prof. Dr. Johan Galtung im September 2010 in einem Vortrag in Hamburg zum Thema "Entwicklungstendenzen des Weltsystems" ausführte, werde das US-Imperium noch vor seinem 90. Geburtstag und damit im Laufe der nächsten zehn Jahre zusammenbrechen. Darüber hinaus werde die bislang dominierende Nord-Süd-Ausrichtung des globalen Gefüges einer horizontalen Führerschaft weichen, die sich von Asien bis nach Lateinamerika erstrecken dürfte. Die Zukunft gehöre jenen Kräften, die über einen zukunftsfähigen Entwurf verfügten, führte Galtung aus, und die USA gehörten definitiv nicht dazu.

Anmerkungen:

siehe auch INFOPOOL-POLITIK-REPORT: BERICHT/038: Johan Galtung - Analysen und Prognosen zur Weltpolitik (SB) INTERVIEW/050: Johan Galtung - Norwegischer Friedensforscher mit Blick fürs große Ganze (SB)

[1] Colombia Leader Seeks Wide-Ranging Changes, and Looks Beyond the U.S. (05.03.11)
New York Times

7. März 2011