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HEGEMONIE/1715: Arabischer Frühling - Mit G8-Wirtschaftshilfe den Keim der Befreiung ersticken (SB)



Ein von den Behörden getriezter Mann in Tunesien verbrennt sich öffentlich. Sein Tod bildet den Zündfunken, der länderübergreifend den "Arabischen Frühling" auslöst. Seitdem gingen Menschen auf die Straße und demonstrierten so nachdrücklich und lange, daß sie sogar Regierungen zu Fall brachten. Herrschte in den westlichen Metropolen zunächst opportunistische Sprachlosigkeit ob dieser Entwicklung vor, weil Unsicherheit darüber bestand, woher der Wind wehte, in den man sein Fähnchen zu hängen wünschte, wird inzwischen ein Arsenal an regulatorischen Mechanismen, von Verlockungen mit Wirtschaftshilfe bis zum Einsatz der Militärmaschinerie, aufgefahren. Dazu gehört ebenso die Einladung der neuen Regierungsschefs von Tunesien und Ägypten zum G8-Gipfel in den nordwestfranzösischen Luxusbadeort Deauville.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte in ihrer Regierungserklärung am Donnerstagmorgen vor der Abreise nach Frankreich, es sei "eine historische europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in Nordafrika und Teilen der arabischen Welt für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu stehen". Zugleich kündigte sie an, daß Deutschland beim G8-Gipfel "seinen Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Länder dieser Region leisten" werde.

Was aber wäre, wenn die Befreiungsbewegungen in den arabischen Ländern gar nicht in das weltwirtschaftliche System integriert werden wollen - würde ihr Freiheitsdrang auch dann noch die Unterstützung Deutschlands und anderer Industrienationen erhalten? Oder würde sich Merkels Ankündigung des Zur-Seite-Stehens plötzlich als Maßnahme der Kanalisierung und Akt der gewaltsamen Verhinderung eines seitlichen Ausbrechens der Bewegung erweisen, wohl am treffendsten vergleichbar mit der seitlichen Begleitung von Demonstrationszügen durch uniformierte Hüter der Ordnung hierzulande?

Wenn die Bundeskanzlerin davon spricht, daß die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa "für Freiheit, für Menschenrechte und für bessere Lebensbedingungen" kämpfen, dann meint sie offenbar die Freiheit des Kapitals, das staatlicher Willkür unterworfene Menschenrecht und die Verbesserung von Lebensbedingungen durch den Anschluß dieser Länder an den europäischen Produktions- und Verwertungsraum.

Zur Zeit des Römischen Reichs hätte ein Imperator vielleicht behauptet, daß die Bewohner seiner unterworfenen Provinzen froh über den Anschluß ans Reich sein sollten, da sie jetzt viel freier seien, mehr Rechte besäßen und von den Handelsverbindungen profitierten. Merkel ist keine Imperatrice, doch als Regierungschefin der führenden Wirtschaftsmacht innerhalb des Staatenbunds der Europäischen Union verfolgt sie vergleichbare Herrschaftsinteressen. Zum Beispiel auch durch die Ankündigung in ihrer Regierungserklärung, den Ländern Nordafrikas Schulden erlassen zu wollen. Unter bestimmten Umständen bringt der Erlaß von Schulden viel mehr ein als eine Schuldforderung, die wahrscheinlich sowieso nicht einlösbar wäre. Das Versprechen auf Entschuldung eignet sich hervorragend als Türöffner, um mit den neuen Regierungen der arabischen Welt Geschäfte zu machen, Geschäfte, die sich vermutlich kaum von den früheren mit der gestürzten Vorgängerregierung unterscheiden werden.

Länder wie Tunesien und Ägypten, Libyen und Syrien sollen der eigenen hegemonialen Sphäre angegliedert werden. Das bedeutet ungehinderter Zugang der kapitalstarken westlichen Investoren zu Wirtschaft und natürlichen Ressourcen dieser Länder, Zurichtung der Bevölkerung auf die Leistungserfordernisse industrienormierter Arbeitsplätze und Nutzung dieser Staaten als Absatzraum westlicher Waren.

Bei aller Konkurrenz der Industriestaaten untereinander, in einem sind sich die G8-Staaten einig: Der Arabische Frühling soll, noch bevor der erste Keim der Befreiung aufgeht, in den hitzedürren Sommer der Vollverwertung von Mensch und Umwelt übergeleitet werden.

26. Mai 2011