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HEGEMONIE/1717: Freude der EU über Wahlsieg Erdogans hält sich in Grenzen (SB)



Anläßlich des Wahlsieges der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) riefen EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Ratspräsident Herman van Rompuy den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyib Erdogan zur weiteren Stärkung der demokratischen Institutionen der Türkei wie zur fortgesetzten Modernisierung des Landes im Sinne europäischer Werte und Standards auf. Diese Mahnung verkörpert in Anbetracht des schleppenden Beitrittsprozesses die offensichtlich unüberbrückbare Ambivalenz im Verhältnis zwischen EU und Türkei. Da es sich bei dem einzigen NATO-Staat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung um einen geostrategischen Aktivposten ersten Ranges handelt, ist die EU keineswegs gewillt, die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung und der Pressefreiheit im Lande wie die nach wie vor verbreitete Folterung von Gefangenen zum Anlaß einer politischen Offensive zu nehmen. Diese könnte die türkische Regierung in außenpolitische Bündniskonstellationen treiben, die den regionalen Einfluß des Landes gegen das Hegemoniestreben der NATO-Staaten positioniert.

Die Chance dafür ist groß, auch wenn in Ankara eine pragmatische Außenpolitik betrieben wird. Die Volkserhebung in Ägypten wurde von Erdogan unterstützt, als die US-Regierung Hosni Mubarak noch halten wollte. Der von westlichen Politikern für die arabische Welt ins Gespräch gebrachte Modellcharakter der AKP-Regierung darf als letztes Bollwerk gegen eine politische Unabhängigkeit der arabischen Staaten verstanden werden, die dem Bedeutungsverlust der USA und EU für die Region Einhalt gebieten soll. Die Möglichkeit einer islamisch geprägten Souveränität scheint westlichen Regierungen handhabbarer zu sein als die Vervollständigung des sozialen Charakters dieser Erhebungen. In beiden Fällen müssen sie befürchten, daß ihnen die Entwicklungen in den arabischen Staaten aus der Hand gleiten.

Am Angriff der NATO auf Libyen wollte sich die Türkei nicht beteiligen, wenn Erdogan auch das Waffenembargo gegen das Land unterstützt und Muammar al Gaddafi zum Rücktritt aufgefordert hat. Das Angebot des türkischen Ministerpräsidenten, dem libyschen Führer sicheres Geleit in ein Exil seiner Wahl zu gewähren, ist typisch für die vermittelnde Rolle, die Ankara in vielen Konflikten zwischen NATO und arabischer Welt einnimmt. Zum einen stellt sie sich damit gegen den von NATO-Generalsekretär Rasmussen angekündigten Sturz Gaddafis und dessen Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof, zum andern verteidigt der bislang enge Partner Libyens nicht die Souveränität des Landes gegen den völkerrechtswidrigen Übergriff der NATO.

Im Nordirak verfolgt Ankara eigene hegemoniale Interessen, die im Widerspruch zu den dort lebenden Kurden stehen, was die ohnehin explosive Lage in der Region weiter verschärft. Militärische Exkursionen türkischer Truppen auf irakisches Territorium gegen die kurdische Guerilla sind seit vielen Jahren so selbstverständlich wie der Einsatz militärischer Mittel gegen die eigene kurdische Bevölkerung. Zwar hat Erdogan Interesse an der Befriedung dieses Konfliktes signalisiert, stellt die kurdische Autonomiebewegung aber gleichzeitig unter Terrorverdacht. Daß deren parlamentarische Vertretung, die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), bei den Wahlen Zugewinne erzielt hat und mit 35 Abgeordneten - sechs mehr als 2007 - ins Parlament einzieht, ist die Quittung für die anhaltende Repression der kurdischen Zivilgesellschaft. Der Handgranatenanschlag auf eine den Wahlerfolg der kurdischen KandidatInnen feiernde Menschenmenge in der Stadt Sirnak nahe der Grenze zum Irak läßt ahnen, daß ein weiterer Verzicht der Regierung in Ankara darauf, der kurdischen Minderheit Schutz vor derartigen Attacken zu gewähren, diese zur Selbstverteidigung nötigen wird.

Ein zentrales Ärgernis für die Regierungen der NATO-Staaten sind die guten Beziehungen zwischen Ankara und Teheran. Sie belegen, daß der strategische Entwurf, der die Türkei als Schnittstelle des westlichen Einflusses auf die Region betrachtet, die Tendenz hat, sich auf eine Weise zu verselbständigen, die den hegemonialen Interessen der NATO zuwiderläuft. Auch der freundliche Umgang Ankaras mit dem sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir erfreut sich keiner Beliebtheit in Washington, Paris und Berlin. Das gilt auch für das angespannte Verhältnis der Türkei zu Israel, das seinen Tiefstpunkt mit dem Übergriff israelischer Truppen auf die Free Gaza-Flotille vor einem Jahr erreicht hat. Zwar sind die Handelsverhältnisse zwischen den beiden Ländern ebenso unbeschadet von dieser Entwicklung geblieben wie gemeinsame Projekte im Bereich militärischer Rüstung. Andererseits neigt Erdogan nicht zu neuen Zugeständnissen an die israelische Regierung, baut seine Popularität doch unter anderem darauf auf, daß er die außenpolitische Handlungssouveränität auf diesem Feld wieder gestärkt hat.

So ist unschwer zu erraten, daß sich die Begeisterung der EU-Regierungen über die anhaltende Popularität der AKP-Regierung in Grenzen hält, obwohl diese vergleichsweise mehr für die Demokratisierung des Landes getan hat als die aus laizistischen Parteien gebildeten Vorgängerregierungen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Erdogan reproduziert die "Werte und Standards" der EU auch in Hinsicht auf ihren sozialfeindlichen Charakter, doch das kann die Nachteile, die der EU aus der Außenpolitik Ankaras erwachsen, nicht wettmachen. Schlimmer noch, das starke Wirtschaftswachstum der Türkei trägt zur Artikulation hegemonialer Interessen bei, die nicht die der EU oder NATO sein müssen. Wenn die westliche Militärallianz den Nahen und Mittleren Osten auch in Zukunft ihrem aggressiv-expansiven Strategiekonzept unterwirft, ist die weitere Entfremdung der Türkei zum Westen, die vielleicht sogar bis zu einem Austritt des Landes aus der NATO reichen könnte, vorprogrammiert. In Anbetracht der Krisen, die die EU erschüttern, könnte sich das Verhältnis der Subordination, unter dem die Türkei aus Brüssler Sicht rangiert, als fatale Verkennung erweisen.

13. Juni 2011