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HEGEMONIE/1751: NATO-Staat Türkei bedroht kurdische Autonomie in Syrien (SB)




Wenn Wolfgang Ischinger zum Türkenversteher wird, ist ein gemeinsames Feindbild nicht weit. Wie der frühere Staatssekretär im Außenministerium und heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz im Gespräch mit dem Deutschlandfunk unterstrich, könne er "die türkische Regierung sehr gut verstehen, wenn sie die große Sorge hat, dass ihr wichtiges Ziel seit vielen, vielen Jahrzehnten, einen eigenen Kurdenstaat eben nicht zuzulassen, wenn dieses Ziel nun in Gefahr ist und Syrien zu zerbrechen droht" [1]. Stimmen in den USA, aber auch in Europa, die einer Teilung Syriens in einen alevitischen, einen kurdischen und einen sunnitischer Staat das Wort redeten, erteilte Ischinger eine rigorose Absage. Rückendeckung erhält Ankara auch von den USA, deren stellvertretender Minister für Europäische und Eurasische Angelegenheiten, Philip Gordon, versicherte, daß man eine Selbstverwaltung der kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien nicht akzeptiere: "Wir wollen ein Syrien, das vereint bleibt und müssen gegenüber den Kurden in Syrien und unseren Partnern in der Türkei deutlich machen, daß wir keinerlei Bewegung in Richtung einer Autonomie oder Separatismus unterstützen." Ins selbe Horn stieß der Führer der vom Westen unterstützen "Freien Syrischen Armee" (FSA), Oberst Riad Al-Asaad, mit den Worten, man werde nicht zulassen, daß auch nur ein Meter syrischen Landes abgetrennt wird. [2]

Nach dem Rückzug der Armee haben im syrisch-türkischen Grenzgebiet kurdische Volksräte in mehreren Städten die Kontrolle übernommen. Auch die bevölkerungsreichste kurdische Stadt des Landes, Qamischli, wird weitgehend von den Räten und ihren Selbstverteidigungskomitees dominiert. Vielerorts gehen die Menschen daran, zum Aufbau einer demokratischen Autonomie beizutragen. Auf diese Entwicklung hat der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit der Beschuldigung des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad reagiert, dieser habe die Macht in den kurdischen Landesteilen an die mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbündete Partei der Demokratischen Einheit (PYD) übergeben. "Es ist zweifelsohne unser natürliches Recht, in eine Region einzugreifen, in der eine Terrororganisation die Kontrolle übernimmt, die in der Türkei Anschläge verübt und mordet", so der türkische Premier. [3] Zwar versichert Außenminister Ahmet Davotoglu, man betrachte die kurdische Zivilbevölkerung in Nordsyrien "nicht als Bedrohung oder potenzielle Gefahr". Wie er jedoch hinzufügt, könne sein Land nicht zulassen, daß an seinen Grenzen "Terrorstrukturen" entstünden und "PKK-Terroristen (...) unsere kurdischen Mitbürger und die dortigen Bürger" instrumentalisierten. Offenbar sieht Ankara in Massoud Barzani, der in den vergangenen 20 Jahren vom einflußreichen Stammesführer zum Quasi-Staatschef im Nordirak aufgestiegen ist, einen möglichen Vermittler. Erdogan hat eigenen Angaben zufolge bereits mit Barzani gesprochen und ihn auf die "Empfindlichkeiten" der Türkei hingewiesen. Eine kurdische Unabhängigkeit im Norden Syriens sei eine "Terrorformation", die man nicht dulden könne.

Den Kurden, einem Volk von rund 25 Millionen Menschen ohne eigenen Staat, dessen Siedlungsgebiet mit rund 500.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Frankreich ist, wird jeder Versuch, Autonomie zu erlangen, von der Türkei und deren in dieser Frage rückhaltlosen Unterstützern in Westeuropa und den USA mit dem Terrorverdikt belegt. Die meisten Kurden leben in der Türkei (mindestens 12 Millionen), im Irak (knapp 5 Millionen, im Iran (rund 5,5 Millionen) und in Syrien (bis zu 1,3 Millionen). Weitere Kurden siedeln in Armenien und Aserbaidschan. [4] Seit 1984 kämpfte die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei zunächst für einen eigenen Staat und ersetzte diese Zielrichtung später durch die Forderung nach Selbstbestimmung in den bestehenden Grenzen der Türkei und einer Föderation der kurdischen Regionen. Türkische Regierungen gleich welcher Couleur haben diesen Kampf um die eigene Sprache und Identität wie auch um politische, kulturelle und soziale Rechte stets mit massiver Repression niederzuschlagen versucht.

Zwischenphasen, in denen sich eine politische Lösung anzudeuten schien, wurden von Militäreinsätzen gegen die kurdische Bevölkerung bis tief auf irakisches Gebiet selbst unter Einsatz von Giftgas abgelöst. Bis zu 40.000 Menschen wurden in diesem Konflikt getötet, und gerade in jüngerer Zeit haben die militärischen Aktivitäten der Armee in Nordkurdistan, dem Südosten der Türkei, wieder zugenommen. Während der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan seit Jahren auf der Insel Imrali in Isolationshaft festgehalten wird warf eine Verhaftungswelle mehr als 7.000 kurdische Aktivisten ins Gefängnis, darunter auch 2.300 Minderjährige. Drangsalierung und Folter führten zu mehreren Aufständen in den Haftanstalten wie auch einem 50tägigen Hungerstreik von 1.500 Gefangenen in diesem Frühjahr. [5]

Für NATO und EU war die Unterdrückung der Kurden zu keiner Zeit ein Grund, die türkische Regierung an den andernorts vielzitierten Menschenrechten zu messen. Die Europäische Union stuft die PKK und Nachfolgeorganisationen als Terrorgruppen ein, und im Zuge der EU-Beitrittsgespräche stellte Ankara den Kurden allenfalls gewisse kulturelle Rechte in Aussicht, ohne Zugeständnisse hinsichtlich größerer Autonomie zu machen. Der NATO-Mitgliedsstaat Türkei und dessen Stabilität sind eine Speerspitze der westlichen Mächte zur Durchsetzung ihrer strategischen Interessen in der gesamten Region, die sich nun auch mit Blick auf den angestrebten Regimewechsel in Syrien bewährt.

Aus dem langjährigen Freund und Nachbarn ist ein Kriegsgegner geworden: Die Türkei nimmt offen Partei gegen die syrische Regierung und droht mit dem Einmarsch. Sie stellt den Aufständischen ein Forum zur Verfügung, um für den Sturz Baschar Al-Assads zu werben, und öffnet insbesondere der "Freien Syrischen Armee" die Grenzen, so daß Geld, Waffen und Logistik nach Syrien transferiert werden können. Während sich China und Rußland mit ihrem Veto im Sicherheitsrat gegen Sanktionen stemmen, stärken CIA, Saudi-Arabien und Katar längst die Kampfkraft der Aufständischen mit Geld und Waffen. Laut CNN hat US-Präsident Barack Obama schon vor Monaten per Geheimerlaß verdeckte Hilfe für die Opposition genehmigt. Zudem hat die US-Regierung ein Budget von 25 Millionen Dollar zur Unterstützung der Aufständischen bereitgestellt, das zum größten Teil bereits ausgegeben sein soll. Längst berichten UN-Beobachter, daß die FSA schwere Waffen und Panzer unbekannter Herkunft einsetzt.

Mit ihrer zur Staatsräson verfestigten Doktrin, das Streben der Kurden nach einer menschenwürdigen Existenz mit eiserner Faust abzuwürgen, ist die Türkei schon aus eigenem Antrieb eine aggressive Ordnungsmacht an der Südostflanke der NATO. Permanente Repression gegen kurdisches Streben nach Autonomie und der dadurch geschürte Konflikt sind für die westlichen Mächte der beste Garant, Ankaras eigenständige regionale Ambitionen zu zügeln und türkische Regierungspolitik für die Okkupation des gesamten Mittleren Ostens ins Geschirr zu nehmen. Ein Internationalismus, der die unablässigen Kriegszüge der USA und ihrer europäischen Verbündeten in dieser Weltregion als imperialistische Offensive brandmarkt, kann nicht umhin, den systematisch stigmatisierten und ausgeblendeten Kampf der Kurden in den Fokus solidarischer Unterstützung zurückzuholen.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1828549/

[2] http://www.jungewelt.de/2012/08-01/026.php

[3] http://www.tagesschau.de/ausland/kurden-syrien100.html

[4] http://www.weser-kurier.de/news/politik3_artikel,-Hintergrund-Die-Kurden-_arid,337986.html

[5] http://www.jungewelt.de/2012/08-02/048.php

2. August 2012