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HEGEMONIE/1768: Curriculum der Ohnmacht - Überwachung im kognitiven Kapitalismus (SB)




Die alle Fraktionen des Bundestags durchziehende Empörung über die nichtvorhandene Bereitschaft der US-Regierung, mit der Bundesrepublik ein No-Spy-Abkommen zu schließen, dient dem hohen Maß demonstrativer Erregtheit nach vor allem dazu, von der eigenen Verstrickung in die Überwachung der Bevölkerung abzulenken. Erstmalig ernst genommen wurden die Enthüllungen Edward Snowdens nach der Erkenntnis, daß auch das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin von der NSA abgehört wurde. Zuvor hatte der für die Geheimdienste zuständige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die Spähaffäre noch heruntergespielt und eine zu Lasten der Privatsphäre der Bürger gehende enge Zusammenarbeit zwischen NSA und BND schlichtweg dementiert.

So zeigt sich in der Rückschau auf mehr als ein halbes Jahr NSA-Spähaffäre, daß die politische Klasse regelrecht zum Jagen getragen werden mußte und auch dann noch ihr Heil in defensiven Beschwichtigungsstrategien suchte. Nun, da die Taktik, sich durch Zugeständnisse der US-Administration an die Adresse der Bundesregierung zu entlasten, vollends zu scheitern droht, bleibt als letzter Ausweg nationale Kraftmeierei, nicht ohne verschämt nach symbolpolitischen Auswegen zu suchen. Substantielle Schritte wie der Abbruch der Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) oder die Aussetzung des SWIFT-Abkommens und der Passagierdatenweitergabe, wie vom Abgeordneten der Linken Jan Korte verlangt, waren und sind nicht mehrheitsfähig. Im Koalitionsprogramm wurde die transatlantische Zusammenarbeit nicht in ihrer angeblichen Alternativlosigkeit beschworen, um sich durch PR-technisches Mißmanagement davon abbringen zu lassen. Die Bundesregierung will ebensowenig auf die Waffenhilfe und Feuerkraft der US-Streitkräfte verzichten wie auf die weitere Ausbeutung von Mensch und Arbeit, von Natur und Kultur.

So wiegt der Nutzen hegemonialer und ökonomischer Interessen das, wenn es gegen sogenannte Gefährder geht, niemals hoch genug hängende Sicherheitsinteresse des Staates spielend auf. Das pauschal zur Aufrüstung nach innen wie außen ins Feld geführte Argument der Terrorismusbedrohung, das nicht nur militante Islamisten meint, sondern sozialen und antikapitalistischen Widerstand in die Schranken weisen soll, erweist sich als die Schimäre, die es immer war. Zu behaupten, daß US-amerikanische oder britische Dienste nicht willens oder in der Lage wären, mit Hilfe von Provokationsakten oder anderen operativen Manövern in die Politik anderer Staaten einzugreifen, fiele zwar keinem Politiker ein, doch kann dieser blinde Fleck nicht als Garantie dafür gelten, daß derartige Gefahren nicht bestünden. Allein das im Rahmen der NSA-Affäre hervorgetretene Ausmaß an realer Überwachung zwischen den Regierungen des Nordatlantikpaktes zeigt, wie unseriös es nach Maßgabe eigener Sicherheits- und Staatsschutzkriterien ist, keine derartige Schlußfolgerung zu ziehen.

Warum also sucht das Kartell der bürgerlichen Parteien erst Deckung, anstatt offensiv für den Schutz der eigenen Bevölkerung gegen die immer totaler werdende Überwachung einzutreten, um sich, wenn alles Beschwichtigen nicht mehr hilft, mit einer Hand zu kraftmeiernden Posen in Richtung Washington zu versteigen, während die andere mit weißem Taschentuch signalisiert, daß es so ernst nun auch wieder nicht gemeint ist? Zuallerletzt will man Anlaß dazu geben, den erreichten Stand informationstechnischer Verfügungsgewalt dadurch in Frage zu stellen, daß vielleicht die ganze Marschrichtung technologischer Innovation in den Ruf einer fatalen menschenfeindlichen Entwicklung gerät. Unter allen Umständen verteidigt werden soll der erreichte Stand der Produktivkräfte nicht nur in Hinsicht auf den dadurch ermöglichten Automatisierungsgrad in der Güterproduktion, sondern auch zum Zweck der Rationalisierung der Humanressource in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft.

Deren Verwertung wurde mit Hilfe des immer dichter gesponnenen Geflechts der Arbeitsüberwachung und Sozialkontrolle, der Gesundheitsdiziplin und Konsumregulation auf einen Stand individueller Verfügbarkeit und gesamtgesellschaftlicher Kosteneffizienz gebracht, den in Frage zu stellen und zurückzubauen schwerwiegende Kontrolldefizite und Deckungslücken zur Folge hätte. Dabei ist die informationstechnische Observierbarkeit aller Menschen ein zwar bedrohlich erscheinendes Szenario inquisitorischer Staatsschutzlogik, doch stellt die Gewährleistung des ununterbrochenen Geschäftsbetriebs auf dem Weltmarkt und in der Finanzwirtschaft ein mindestens ebenso wichtiges Essential administrativer Verfügungsgewalt dar. Die Aufstandsbekämpfung gegen die Hungernden und Obdachlosen, gegen die Zwangsgeräumten und anderen überflüssig gemachten Menschen, gegen die durch den Zwang zur Lohnarbeit unter Reproduktionsniveau Versklavten geht Hand in Hand mit einer Mangelproduktion, die der Anhäufung lebensfeindlicher Zerstörung mit immer effizienteren Formen der Segregation und Atomisierung potentiellen Widerstands entgegentritt.

Die informationstechnische Zurichtung des Menschen auf einen jederzeit abrufbaren und auswertbaren Datensatz setzt Möglichkeiten der Herrschaftsicherung frei, in denen sich der disziplinierende Zwang materieller Gewaltanwendung mit der Verwaltungslogik bürokratischer Zuteilung und Abforderung ideal ergänzen. Die demgegenüber gewährten Freiheitsgrade individueller Netzaktivität können nicht nur kein vergleichbares Machtpotential etwa im Sinne einer sich auftürmenden kritischen Masse aufbauen, sie arbeiten der eigenen Verfügbarkeit durch die Transparenz und Evaluierbarkeit individueller Risikofaktoren und Verwertungsmöglichkeiten auch noch zu. Eine idealere Form der Zementierung herrschender Verhältnisse als die massenwirksame Suggestion einer Freiheit, bei der auf Granit beißt, wer ihre immanenten Zwangsverhältnisse angreift, indem er das abstrakte Versprechen auf den Boden der Tatsachen holt und vollständig in Anspruch nimmt, ist kaum vorzustellen.

Niemand soll herauszufinden, wie groß das gemeinsame Interesse der Funktionseliten zugleich in hegemonialer und wirtschaftlicher Konkurrenz gegeneinander agierender Staaten an der Beherrschbarkeit derjenigen Teile ihrer Bevölkerungen ist, die als Verfügungsmasse für Krieg und Fabrik keine Fragen zu stellen haben, auf die die Antworten nicht schon gegeben wurden. Wer glaubt, der kognitive Kapitalismus öffne die Pforten der Wahrnehmung, ohne dafür den Preis zu verlangen, Augen und Ohren in seinen Dienst zu stellen, der hat beim lebenslangen Lernen so gut aufgepaßt, daß er über die lebenswichtige Negation des Herrschaftswissens nichts gelernt hat.

16. Januar 2014