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HEGEMONIE/1790: Das Schuldenregime marschiert, auch wenn alles untergeht (SB)



Warum beißt die griechische Regierung mit der Forderung nach einem Schuldenschnitt auf Granit, wenn ohnehin klar ist, daß der auf 320 Milliarden Euro aufgelaufene Schuldenberg von einer elf Millionen Menschen starken Volkswirtschaft auch in Jahrzehnten nicht abzutragen ist? Die simple Sprachregelung, daß Schulden nun einmal abbezahlt werden müssen, verkennt die katastrophale Lage des Landes in jeder Richtung. Selbst wenn ein Teil der griechischen Bevölkerung einige Jahre lang gut davon gelebt hat, daß ihre Schulden durch den Beitritt zum Euro geringer verzinst wurden als zuvor, haben von den freizügig vergebenen Krediten vor allem die nationalen wie internationalen Gläubiger profitiert. Geld zu verleihen ist ein Geschäft, dessen Ertrag aus dem Risiko erwirtschaftet wird, es vielleicht nicht zurückgezahlt zu bekommen. Darüber hinaus bringt die Kreditwirtschaft ihre Zahlungsforderungen als Schuldverschreibungen in Umlauf und häuft damit Geld in einem Ausmaß an, das in einem grotesken Mißverhältnis zu den Erträgen aus der Lohnarbeit steht, ohne die an erster Stelle überhaupt kein Kreditgeschäft zustandekäme.

Die Refinanzierung der griechischen Staatschulden durch die sogenannten Hilfspakete der EU und des IWF hat das bis dato am Finanzmarkt angesiedelte Geschehen angesichts des offenkundig gewordenen Ausfallrisikos in die Hände politischer Akteure gelegt. Dies nicht etwa, um die griechische Bevölkerung vor Verarmung zu schützen. Sie wurde vielmehr insbesondere in deutschen Medien und von deutschen Politikern der unsoliden Maßlosigkeit und eines angeblich landesüblichen Schlendrians bezichtigt. Der selbstherrliche Tenor angeblich durch Arbeit und nichts als Arbeit zu ihren Meriten gelangter Bundesbürger in der Behauptung, "die Griechen" hätten über ihre Verhältnisse gelebt, stellt zum Beispiel nicht in Rechnung, daß die Exportdominanz und der Leistungsbilanzüberschuß der Bundesrepublik die Abnehmer deutscher Waren und Dienstleistungen absichtsvoll ins Minus drängen. Geschützt durch den politisch bestimmten Kredit der "Rettungspakete" und des "Rettungsschirms" wurden in erster Linie europäische Banken und andere internationale Gläubiger, die das von ihnen eingegangene Ausfallrisiko nicht schultern sollten, weil dies absehbar zu einem größeren Bankencrash geführt hätte.

Die massive Verarmung, die der Bevölkerung des Landes im Gegenzug für die Rettung der Kapitaleliten im eigenen Land wie anderswo aufoktroyiert wurde, ist das Ergebnis einer Logik wirtschaftlicher Prosperität, die das Prinzip, daß des einen Gewinn des anderen Verlust ist, besonders brutal zur Anwendung bringt. Viel Aufhebens machen deshalb die Verfechter der Austeritätspolitik von der allerdings umstrittenen Angabe der EU-Statistikbehörde Eurostat, daß die griechische Wirtschaft 2014 erstmals nach sechs Jahren Rezession um 0,7 Prozent des BIP gewachsen sei. Derartige Zahlen täuschen über die immensen Verluste hinweg, die fast alle Sozialindikatoren anzeigen, und das durchschnittliche Schrumpfen der Familieneinkommen um 30 Prozent seit Beginn der Ära der Sparpakete. Wenn überhaupt irgend etwas aufwärts geht, dann die Bilanzen der Investoren, die sich über die neoliberale Deregulierungspolitik freuen, die die Troika aus EU, EZB und IWF dem Land verordnet hat.

Um etwas gegen die Privatisierung und Kommodifizierung von fast allem, was das unmittelbare Überleben der Menschen sichert, zu tun, wurde Syriza Wahlsieger. Die aus der griechischen Linkspartei und dem kleinen rechten Koalitionspartner Anel hervorgehende Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras hat es schon mit den ersten Maßnahmen verstanden, insbesondere die deutsche Regierung zu brüskieren. Der von ihr angeordnete Stopp mehrerer Privatisierungsprojekte, die Gewährleistung sozialer Nothilfen und andere gegen die Sparpolitik gerichtete Maßnahmen verstoßen absichtsvoll gegen die dem Land verordnete Austeritätspolitik. Die sogenannten Reformen, sprich Sparauflagen und Sozialkürzungen, einzuhalten ist denn auch die stereotype Antwort, die Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis erhalten, wenn sie die Möglichkeit eines Schuldenschnitts oder auch nur eines unbefristeten Aufschubs des Schuldendienstes in anderen EU-Hauptstädten ins Gespräch bringen.

Wenn die EU-Regierungen quasi die eigenen Bevölkerungen verpfänden, indem sie Banken und Finanzinvestoren auf deren Kosten retten, dann geht es um mehr als die bloße Bereicherung der davon profitierenden Personen. Auf dem Spiel stehen nicht nur aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin unbezahlbare Schulden und die den privaten wie staatlichen Gläubigern daraus erwachsenden Zinseinnahmen. Auch das Argument, ein solcher Schritt würde die steuerpflichtigen Bevölkerungen anderer Gläubigerstaaten dazu veranlassen, sich ihrerseits zu verweigern, kann die Insistenz nicht vollständig erklären, mit der die herrschende Austeritätspolitik von ihren Sachwaltern verteidigt wird. Schließlich könnte man aus reformkapitalistischer Sicht argumentieren, daß ein allgemeiner Schuldenschnitt nicht nur für Griechenland, sondern alle Krisenstaaten der EU der überfälligen Vernichtung eines durch Eigentumstitel, Börsenwerte, Rohstoffe und Finanzspekulationen akkumulierten Kapitals diente, das längst jeder materiellen Realisierbarkeit enthoben ist, um einen Neubeginn mit ungleich größerer Solidität zu ermöglichen.

Was damit allerdings in Frage gestellt wäre, ist die in den aufgelaufenen Zahlungsverpflichtungen enthaltene Verfügungsgewalt der Gläubiger über die politischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen allgemein produziert und verbraucht wird. Da die Zwangsbedingungen der neoliberalen Workfare-Regimes und das Eindringen kapitalistischer Verwertungsansprüche in die letzten Refugien sozialer Daseinsvorsorge und Subsistenz wesentliche Triebkräfte einer Kapitalakkumulation sind, die ihrerseits vor allem auf Entwertungsprozessen wie einer auf Lohnsenkungen basierenden Produktivitätsentwicklung, der unumkehrbaren Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen und der Vernichtung kultureller Lebenswelten aller Art beruht, käme die Aufgabe des Schuldenregimes einem sozialrevolutionären Umbruch gleich. Ein Angriff auf die Glaubwürdigkeit eines Kreditsystems, das aus der Schuldforderung des fiktiven Kapitals und der damit vollzogenen Lösung des Geldwertes von der Mehrwertproduktion durch menschliche Arbeit die Macht bezieht, die Verfassungsinstitutionen des bürgerlichen Staates so wirksam seinem Interesse zu unterwerfen, ist auch dann unter allen Umständen zu unterbinden, wenn der Wandel der repräsentativen Demokratie zum autoritären Maßnahmestaat droht und rechtspopulistische Bewegungen in voller Blüte stehen.

Indem die neugewählte griechische Regierung die vermeintliche ökonomische Vernunft, daß eine Schuld in jedem Falle zu begleichen sei, durch den Verweis auf die reale Entwertung aller Lebensverhältnisse, die ihr unterworfen wurden, einer öffentlichen Prüfung unterzieht, hat sie bereits mehr erreicht, als ihre Kritiker in Berlin und Brüssel eingestehen wollen. Im besten Falle könnte sie, selbst wenn sie mit den von ihr beanspruchten Zielen an der rigiden Haltung der Gläubiger und ihrer politische Steigbügelhalter scheiterte, das Bewußtsein der europäischen Bevölkerungen für die Umstände ihrer Ausbeutung und Unterwerfung so schärfen, daß dies nicht mehr durch die neoliberale und sozialdarwinistische Ideologisierung der Schuldverhältnisse rückgängig zu machen wäre.

6. Februar 2015


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