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HEGEMONIE/1823: Sicherheit - Renaissance der Stärke ... (SB)



Diplomatie macht so viel mehr Spaß, wenn man ein paar Regimenter hat.
Wolfgang Ischinger zitiert eine britische Diplomatenweisheit [1]

Wolfgang Ischinger hat ein Buch geschrieben. Was der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Botschafter in Washington und London und seit Ende seiner diplomatischen Karriere im Jahr 2008 Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz auf 304 Seiten zu Papier gebracht hat, kann nicht überraschen. Unter dem Titel "Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten" [2] kolportiert er das sattsam bekannte Krisenszenario, ohne daraus andere Schlüsse zu ziehen, als deutsche und europäische Aufrüstung anzumahnen, um das expansionistische Erfolgsrezept auch unter verschärften Konkurrenzbedingungen fortzuschreiben. Eine Abkehr von aggressiver Exportstärke, dem Führungsanspruch in Europa oder der Bundeswehrpräsenz an diversen Kriegsschauplätzen wird man bei ihm ebensowenig finden wie eine inhaltliche Verknüpfung dieser wirtschaftlichen, politischen und bellizistischen Übergriffe mit dem von ihm beklagten Zustand der globalen Verhältnisse.

Ganz im Gegenteil nimmt Ischinger die von Krisen und Konflikten gezeichneten Zeiten, in denen es den alten Westen nicht mehr gibt und sich eine neue Weltordnung abzeichnet, zum Anlaß, um so nachhaltiger zu predigen, wofür er immer getrommelt hat: Deutschland muß in Europa und auf der globalen geostrategischen Bühne mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. Die Bundesrepublik könne sich nicht in alle Ewigkeit auf die amerikanischen Sicherheitsgarantien verlassen, sondern müsse einen höheren Eigenbeitrag leisten. Sie müsse "also jetzt mit der Tatsache umgehen, dass sie erwachsen geworden ist, dass sie auf eigenen Beinen stehen muss, dass sie selbst für sich verantwortlich sein muss. Und dass sie ihre Sicherheit, oder wenigstens wesentliche Teile ihrer Sicherheit, nicht mehr verlässlich an den großen Vetter auf der anderen Seite des Atlantiks outsourcen kann. Das ist die Lage und damit müssen wir umgehen." [3]

Was aus seinem Munde als entwicklungspsychologisches Dilemma eines zaudernden Sprößlings daherkommt, der pubertären Geborgenheitssehnsüchten längst entwachsen sein sollte, verschleiert die eigenständigen imperialistischen Ambitionen der Bundesrepublik bis zur Unkenntlichkeit. Ischinger portraitiert sie als Unschuld, die ihren träumenden Blick allzu lange vor der bösen Welt da draußen verschlossen habe, mit der sie sich endlich doch konfrontieren müsse, da sich Übles zusammenbraue. Wie er behauptet, hätten sich die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit nach dem Ende der Sowjetunion in Illusionen gewiegt, als gebe es ein "Ende der Geschichte", wie der ehemalige amerikanische Diplomat Francis Fukuyama es nannte. Der Sieg der liberalen Demokratie und der freien Marktwirtschaft sei keineswegs irreversibel gewesen. Der Traum von 1990, daß mit dem Ende der deutschen Teilung eine Rußland einbeziehende euro-atlantische Sicherheitsarchitektur entstehen würde, sei zerstoben. Das heiße besonders für Deutschland, man sei ins kalte Wasser geworfen worden.

Das ist denn doch starker Tobak. War der Triumph nach dem proklamierten Sieg im Kampf der Systeme etwa nicht der Auftakt zum Vormarsch der NATO bis an die russische Grenze? Schloß das Angebot der NATO an Rußland nicht eine gleichrangige Partnerschaft im Militärbündnis definitiv aus? Führten westliche Mächte nicht eine Kette von Angriffskriegen unter Zerschlagung von Staaten, die auf die Einkreisung Rußlands hinauslaufen, während Washington den Kordon um China immer enger schnürt? Hat die freie Marktwirtschaft deutscher Provenienz nicht in Osteuropa und Afrika reiche Beute eingefahren und nachhaltig ruiniert, was immer dort an zarten Pflanzen aufkeimen mochte?

Davon will Ischinger ganz gewiß nichts hören, wenn er die Entwicklung einer strategischen Kultur anmahnt, die sowohl werte- als auch interessengeleitet, vor allem aber realistisch sein müsse: Ohne militärische Machtmittel bleibe Diplomatie saft- und kraftlos, so der langjährige Berufsdiplomat. Abschreckung sei friedenserhaltend und beziehe daraus auch ihre moralische Legitimation. Es könne nicht dauerhaft politisch tragfähig sein, daß 500 Millionen wohlhabende Europäer wesentliche Teile ihrer Sicherheit an den atlantischen Partner delegierten. Europa müsse handlungsfähiger werden, mit einer Stimme sprechen und sich zu einer Verteidigungsunion weiterentwickeln. Die Deutschen profitierten überproportional von der europäischen Integration und müßten sich diese auch etwas kosten lassen, um insbesondere die Bereiche Außenpolitik, Verteidigung und Sicherung der Außengrenzen gemeinsam voranzubringen. "Was haben wir denn von der schwarzen Null, die eine wunderbare prinzipielle Zielvorstellung ist, wenn uns die EU kurz-, mittel- oder langfristig um die Ohren fliegt? Wir müssen in die europäische Zukunft investieren. Und wenn die Bundesrepublik Deutschland da nicht als der Größte und Dickste vielleicht gemeinsam mit Frankreich und anderen vorangeht, dann wird daraus nichts werden."

Man könne den Griechen nicht sagen, daß man ihre Sparverpflichtungen bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma überprüft, und zugleich eine eingegangene Verpflichtung, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren, einfach nonchalant auf 1,5 Prozent reduzieren. Damit sage man den kleineren Ländern, Deutschland wolle lieber Krankenhäuser bauen, doch die kleineren Länder sollten das Geld für Kampfjets ausgeben. Ein derart schlechtes Beispiel dürfe man einfach nicht geben, so Ischinger. Wenn es um sein Generalthema Aufrüstung geht, müssen notfalls sogar die Griechen herhalten, doch nicht mit dem Tenor, sie zu verschonen, sondern um auch der deutschen Bevölkerung noch rabiater den Geldhahn bei den Sozialleistungen zuzudrehen, wenn der Kriegsetat massiv erhöht wird.

Im vergangenen Jahr habe Berlin erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten zum Schutz eines NATO-Partners vor einem externen Angriff nach Litauen gesandt, sieht Ischinger immerhin einen Lichtblick. Andererseits habe Deutschland seinen Partnern im Syrienkonflikt mitgeteilt: "Wir machen Fotos", während die Dänen schießen sollten. "Das ist keine angemessene Arbeitsteilung", hält er seinen Landsleuten vor, sie dürften sich auch in diesem Krieg nicht länger halbwegs heraushalten. Deutschland müsse einen angemessenen militärischen Beitrag dazu leisten, daß Europa künftig als glaubwürdiger außenpolitischer Akteur auftreten könne. Denn die Glaubwürdigkeit leide, wenn sie nicht durch militärische Abschreckung unterfüttert werde.

Europa habe etwa so viele Soldaten unter Waffen wie die USA, aber nur etwa zehn bis 20 Prozent der Kampfkraft, rechnet der Ex-Diplomat vor. Das ließe sich durch eine bessere Ausrüstung mit modernstem Militärgerät ändern. "Was wir nicht leisten können, ist die nukleare Abschreckung", schwenkt der Transatlantiker zur Warnung um, die Bestrebungen, Europa zu stärken, dürften sich keinesfalls gegen die USA richten. "Wir müssen als Stimme der Vernunft auftreten, nicht ohne Not draufsatteln. Das führt nur zur Verbiesterung auf beiden Seiten." Wenngleich ihm die Bocksprünge des amerikanischen Präsidenten überhaupt nicht schmecken und die exterritoriale Anwendung amerikanischen Rechts nicht akzeptabel sei, habe sich doch Obama aus Europa zurückgezogen, während unter Trump die Zahl der Soldaten und des Militärgeräts wieder aufgestockt worden sei.

Den Ansatz von Bundesaußenminister Heiko Maas, die transatlantischen Beziehungen neu zu vermessen, und auch dessen Begriff der "balancierten Partnerschaft", hält Ischinger nicht für falsch, doch meldet er Bedenken an, wenn sich Maas dafür ausspricht, in Streitfragen ein Gegengewicht zu den USA zu bilden. Dessen Vorschlag, das internationale Zahlungssystem Swift durch eine europäische Variante zu ersetzen, hält er für unrealistisch: "Die starken wirtschaftlichen Bande sind das wahre Rückgrat der deutsch-amerikanischen Beziehungen." Die Abhängigkeit von den USA lasse sich auch mittelfristig nicht ändern, und vor allem in der Sicherheitspolitik könnten Deutschland und Europa auf absehbare Zeit nicht auf die Garantien aus Washington verzichten: "Es ist gefährlich, die Nabelschnur zur nuklearen Schutzmacht USA durchtrennen zu wollen." Statt über Strafen und Gegenmaßnahmen zu sprechen, seien PR-Aktionen und Aufklärung über den guten Partner Deutschland gefragt. Man müsse nicht nur das alte Establishment der Küstenstädte vom bleibenden Wert der transatlantischen Freundschaft überzeugen, sondern vor allem die Menschen im Landesinneren erreichen. Trump liege mit seiner Kritik an der Bundesrepublik ja nicht ganz falsch: "Wir haben uns in der Sicherheitspolitik zu lange mit Trittbrettfahren begnügt."

Eine Entspannung im transatlantischen Grundsatzstreit über Uni- und Multilateralismus oder gar eine Rückkehr zur Einigkeit zwischen Europa und den USA sei zwar vorerst nicht zu erwarten, doch einer grundlegenden Neugestaltung der sogenannten Weltordnung unter aktiver deutscher Beteiligung erteilt Wolfgang Ischinger eine dezidierte Absage. Rußland und China seien schlichtweg keine verläßlichen Partner, sondern strategische Konkurrenten, mahnt er eine uneingeschränkte Rückkehr zur etablierten Freund-Feind-Kennung an.


Fußnoten:

[1] www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/buchtipp-welt-in-gefahr-wir-haben-uns-in-der-sicherheitspolitik-zu-lange-mit-trittbrettfahren-begnuegt/23000034.html

[2] Wolfgang Ischinger: "Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten", Econ Verlag 2018, 304 Seiten, 24 Euro.

[3] www.deutschlandfunk.de/wolfgang-ischinger-welt-in-gefahr.1310.de.html

9. Oktober 2018


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