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HEGEMONIE/1827: Türkei - Ethnozid auf Raten ... (SB)



Je mehr wir angegriffen werden, umso erbitterter leisten wir Widerstand. Wir werden die türkischen Truppen in den Sumpf ziehen.
Aisha Issa Hesso (Co-Vorsitzende der kurdischen PYD in Syrien) [1]

Recep Tayyip Erdogan macht keinen Hehl daraus, daß er die Grenzen der Türkei nicht akzeptiert und sie durch eine Expansion in Syrien und dem Irak neu ziehen will. Kernelement dieser hegemonialen Ambitionen der Regionalmacht ist die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, die durch andere Volksgruppen ersetzt werden soll. Was von kurdischer Seite und internationalen Menschenrechtsgruppen seit langem geltend gemacht wird, bestätigt nun auch ein Beitrag des ehemaligen US-Sonderbeauftragten für den Kampf gegen den IS, Brett McGurk, im Fachblatt "Foreign Affairs". Darin erhebt er schwere Vorwürfe gegen die Türkei, deren Streitkräfte beim Angriff auf den Kanton Afrin in Nordsyrien Anfang 2018 gemeinsam mit islamistischen Verbündeten mehr als 150.000 Kurden vertrieben und anschließend Araber und Turkmenen aus anderen Teilen Syriens dort angesiedelt hätten. "Diese Operation war keine Antwort auf eine wirkliche Gefahr, sondern ein Produkt von Erdogans Ambitionen, die Grenzen der Türkei zu verschieben, die seiner Ansicht nach 1923 im Vertrag von Lausanne unfair gezogen wurden", schreibt McGurk. [2]

Kurz nach dem gesteuerten Putschversuch im Juli 2016 hatte Erdogan in einer Rede unterstrichen: "Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert. Unsere Gründungsväter wurden außerhalb dieser Grenzen geboren." Damit spielte er auf den Widerstand gegen den Vertrag von Lausanne an, der unter anderem die heutigen Grenzen der Türkei festlegte. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war von dem untergegangenen Osmanischen Reich nicht mehr viel übriggeblieben, was Erdogan in revanchistischer Manier nicht hinnehmen will. Immer wieder stellt er die heutigen Grenzen in Frage, und so drohte er beispielsweise in Richtung Griechenland: "Im Vertrag von Lausanne haben wir Inseln weggegeben. So nah, dass wir eure Stimmen hören können, wenn ihr hinüberruft. Das waren unsere Inseln. Dort sind unsere Moscheen."

Die Rückkehr zu alter Größe spricht als nationalistisches Wunschbild erhebliche Teile der Bevölkerung an, wie im Internet kursierende Karten belegen, die das Land in den vermeintlichen Grenzen von 1920 zeigen. Dies wird von offizieller Seite gefördert, da selbst staatlich kontrollierte Sender gelegentlich solche Schaubilder zeigen, auf denen auch nördliche Teile Syriens und des Iraks, darunter die Städte Aleppo und Mossul, zur Türkei gehören. Mit Blick auf diese beiden Nachbarländer betonte Erdogan regelmäßig, es gebe dort "türkische Interessen". Und der damalige Premierminister Binali Yildirim erklärte, es sei "seltsam, in dieser Region Pläne ohne die Türkei zu machen". Ankara verfolge "keine expansionistische Politik", sondern sei dort, "um Probleme zu lösen, die uns schmerzen". [3]

Ende August 2016 griff die Türkei militärisch in den Konflikt in Syrien ein und rückte im Zuge der Operation "Schutzschild Euphrat" mit Panzern, Artillerie und Kampfjets auf syrisches Territorium vor. Wie Erdogan erklärte, gehe es um die "Säuberung des Grenzgebiets von Terroristen", wozu nach seiner Lesart neben dem IS vor allem die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) gehören. Ihm ging es darum, ein zusammenhängendes Kurdengebiet an der Grenze zur Türkei zu verhindern. Auch im Nordirak mischte die Türkei militärisch mit, gegen den Willen der Regierung in Bagdad. So wurden 700 Soldaten etwa 15 Kilometer nordöstlich der Stadt Mossul stationiert, was die irakische Regierung als "Besatzung" bezeichnete. Die türkische Truppe griff in die Kämpfe gegen den IS in Mossul ein, wobei Erdogan verkündete, daß in der Stadt künftig "sunnitische Araber, Turkmenen und sunnitische Kurden" leben sollten - ein Affront gegen den Irak mit seiner mehrheitlich schiitischen Bevölkerung.

Die Türkei hielt den Keil, der die kurdischen Kantone trennte, dauerhaft besetzt und begann sofort, sich das Gebiet zwischen den Städten Asas und Dscharabulus einzuverleiben. Schulunterricht, Behördenverkehr und Straßenschilder in türkischer Sprache zeugten von einer ethnischen und kulturellen "Säuberung". Im Januar 2018 gab Erdogan dann den Befehl, Afrin zu erobern, was den türkischen Streitkräften und verbündeten syrischen Milizen binnen zwei Monaten gelang. Im März 2018 entschieden sich die kurdische Selbstverwaltung und ihre YPG-Miliz angesichts der militärischen Unterlegenheit zum Abzug, um die Zivilbevölkerung nicht zu gefährden. Seither verhindern die Besatzer eine unabhängige Berichterstattung aus dem Gebiet, so daß man auf Nachrichten von Menschen vor Ort angewiesen ist, die unter großer Gefahr ihre Eindrücke weitergeben.

Daß die Besatzer das Gebiet langfristig islamisieren wollen, belegen auch Satellitenaufnahmen, die eine Zerstörung von Schreinen der Alawiten und Jesiden wie auch die Schändung von Friedhöfen und die Umwandlung historischer Kultstätten in Militärposten zeigen. Berichten zufolge beherrschen islamistische Milizen Afrin, die aus anderen Landesteilen dorthin gebracht worden sind. Mindestens eine von ihnen, die "Brigade des Barmherzigen", fungiert inzwischen als eine Art Polizei. Sie setzt ihre Auslegung der Scharia im öffentlichen Leben durch und verlangt, daß Frauen nur verschleiert und in Begleitung eines männlichen Angehörigen das Haus verlassen dürfen. Parallel dazu strebt Ankara die Türkisierung Afrins an. So gehört die türkische Flagge zum Straßenbild, an den meisten Schulen wird türkisch unterrichtet, die kurdische Sprache und Identität der Region wird mehr und mehr getilgt. Orte verlieren ihren kurdischen Namen, Kurdisch wird nicht länger unterrichtet, und im März verbot die von der Türkei eingesetzte Lokalverwaltung die Feiern zum kurdischen Neujahrsfest Newroz.

Ein Großteil der Flüchtlinge aus Afrin lebt in Zelten oder einfachen Behausungen in Shehba, einem Gebiet unter kurdischer Kontrolle zwischen der türkischen Besatzungszone im Norden und dem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet im Süden. Dort geht es zum einen darum, die kurdische Selbstverwaltung, die bis vor einem Jahr in Afrin existierte, in den Flüchtlingslagern zu organisieren. Zugleich leisten die YPG/YPJ militärischen Widerstand und greifen türkische Soldaten und arabische Milizionäre an. Auf sich allein gestellt, setzt der kurdische Widerstand dennoch darauf, die Besetzung Afrins für die Türkei zu einer Last zu machen, die sie angesichts ihrer katastrophalen Wirtschaftslage und des sinkenden Rückhalts der Regierung in der Bevölkerung auf Dauer nicht schultern kann.

Die USA verfolgen ihre eigenen Großmachtinteressen in der Region, so daß sie kein strategischer Bündnispartner sind, auf den der kurdische Widerstand dauerhaft vertrauen könnte. Dennoch reicht die Schnittmenge gemeinsamer militärischer Erfordernisse aus, mit den US-Streitkräften im Sinne eines taktischen Verbündeten zusammenzuarbeiten, zumal die YPG/YPJ ungeachtet ihrer Stärke in Bodenkämpfen ohne Flugzeuge und schwere Waffen den hochgerüsteten türkischen Streitkräften unterlegen sind. Wenn Brett McGurk daher seine Vorschläge hinsichtlich des weiteren Vorgehens in Syrien zum Ausdruck bringt, legt er dabei im Nebenlauf die Absichten der Türkei ebenso offen wie die drohenden Folgen eines Abzugs der US-Truppen für die kurdischen Gebiete und deren Bevölkerung.

Der US-Sondergesandte hatte sein Amt zum 31. Dezember 2018 als Zeichen des Protests gegen den von Präsident Trump überraschend verkündeten Truppenabzug aus Syrien vorzeitig niedergelegt. McGurk war 2015 von Barack Obama mit der Aufgabe betraut worden, die Anti-IS-Koalition zu koordinieren, der 75 Staaten und vier internationale Organisationen angehören. [4] Wie er unter anderem bilanziert, habe Obama 2014 und 2015 Erdogan vergeblich ersucht, die Grenze zu Syrien zu kontrollieren, um den ungehinderten Nachschub des IS an Kämpfern und Material zu unterbinden. Ende 2014 habe es die Türkei abgelehnt, Unterstützung für die vom IS angegriffene Stadt Kobani passieren zu lassen. Sechs Monate später weigerte sich Ankara, Grenzübergänge in Orten zu schließen, die als logistische Zentren des IS bekannt waren. Da sich die YPG/YPJ als einzige Kraft erwiesen, die den IS zurückschlagen und gemeinsam mit arabischen Kämpfern größere Verbände aufbauen konnte, begann die US-Regierung, sie zu unterstützen.

Obgleich es McGurk zufolge keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, daß die YPG jemals in der Türkei gekämpft, die PKK die Operationen der YPG kontrolliert oder Waffen US-amerikanischer Herkunft erhalten habe, sei die SDF in Reaktion auf die heftigen Einwände Ankaras zunächst nur unzureichend mit militärischer Ausrüstung versorgt worden. Dies hatte zur Folge, daß sie ohne Körperpanzer, Helme und Minenräumgerät ins Gefecht ziehen mußte. Um Erdogan zu besänftigen, verzögerten die USA monatelang den Angriff auf Manbidsch, wo sich der IS festgesetzt hatte. Erst als sich Pläne als undurchführbar erwiesen hatten, Rakka mit Hilfe von der Türkei unterstützter Milizen zu befreien, beschloß Trump im Mai 2017 eine direkte Bewaffnung und Unterstützung der YPG.

McGurk berichtet von Konferenzen, bei denen Erdogan einen fast 400 Meilen langen Streifen zwischen Aleppo und Mossul als "türkische Sicherheitszone" bezeichnete, und zweifelt nicht daran, daß diesen Worten Taten folgen, sobald Ankara die Stunde für gekommen hält. Zunächst habe die Präsenz US-amerikanischer Berater und Spezialstreitkräfte die wiederholt angekündigten Angriffe der türkischen Truppen auf Manbidsch und die gesamten kurdischen Gebiete in Nordsyrien verhindert. Ohne ein langfristiges Abkommen mit der Türkei leite ein Abzug der US-Truppen die Katastrophe einer türkischen Invasion ein, die zur Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, Zerschlagung der SDF und einem Vakuum führen würde, in das islamistische Gruppierungen wie der IS vorstoßen könnten, warnt der ehemalige Sondergesandte vor akuter Gefahr.


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/kurden-in-syrien-wir-werden-die-tuerkischen-truppen-in-den-sumpf-ziehen-a-1263560.html

[2] www.foreignaffairs.com/articles/syria/2019-04-16/hard-truths-syria

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-traeumt-vom-osmanischen-reich-a-1118342.html

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/brett-mcgurk-us-sondergesandter-fuer-kampf-gegen-den-is-tritt-zurueck-a-1245222.html

23. April 2019


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