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HEGEMONIE/1834: Coronapandemie - reiche Länder, arme Länder ... (SB)



Das vorherrschende Credo scheint zu sein: Unsolidarisches Verhalten lohnt sich, am Ende gewinnen die Stärkeren! Entsprechend bleiben die Schwächsten und Benachteiligten und insbesondere Menschen in ärmeren Ländern auf der Strecke. Das können und wollen wir nicht akzeptieren.
Brief an Merkel - Globale Solidarität in der Pandemie [1]

Seit sich die öffentliche Debatte fast nur noch um die Modalitäten der Rückkehr zum Normalzustand zu drehen scheint, ist vom Stand der Epidemie in den Ländern des Globalen Südens weniger denn je zu vernehmen. Es reicht gerade dazu, die Entwicklungen in Westeuropa und Nordamerika in den Blick zu nehmen, und das nicht selten unter der Prämisse eines Nationenvergleichs um das effizienteste Krisenmanagement. Die Bundesrepublik steht bei der Zahl der Infizierten und Todesfälle vergleichsweise gut da, was die schwerwiegenden Versäumnisse zu Beginn der Pandemie um so leichter vergessen macht. Es wird der Eindruck erweckt, man habe das Schlimmste hinter sich, nun könne es nur noch aufwärtsgehen, höchste Zeit also, den Motor der Exportnation Deutschland wieder anzuwerfen.

So leichtfertig dies angesichts der großen Zahl nichtinfizierter BundesbürgerInnen erscheint, so systematisch arbeiten Staat und Kapital daran, die Bevölkerung einer Art Abhärtungskur zu unterziehen, um den Standortvorteil einer möglicherweise auch verlustreich erwirtschafteten Handlungsfähigkeit erfolgreich ins Spiel internationaler Marktkonkurrenz bringen zu können. "Resilienz für Deutschland" könnte der Obertitel dieser Fitneßkur lauten, in der die sozialdarwinistischen Maßgaben der neoliberalen Arbeitsgesellschaft zur Staatsräson auswachsen. Da würden der Blick auf den globalen Stand der Pandemie und die Erinnerung daran, daß sie sich immer noch in einem Stadium des steilen Ansteigens weltweit gemeldeter Infektionen befindet, nur stören.

Weitgehend untergegangen zumindest im deutschsprachigen Raum ist denn auch ein Alarmsignal des International Rescue Committees (IRC) [2], einer 1933 auf Anregung von Albert Einstein gegründeten Hilfsorganisation für Flüchtlinge und Kriegsopfer. Sie warnt vor den Auswirkungen der Pandemie auf Staaten, die nur über ein rudimentäres Gesundheitswesen verfügen und deren Bevölkerungen aufgrund mangelnder Infrastruktur, großer Armut und kriegerischer Auseinandersetzungen bereits vor dieser Krise unter Mangelzuständen aller Art zu leiden hatten. Das IRC hat die Situation in 34 Staaten, in denen die Organisation tätig ist, sowie in Flüchtlingslagern und Kriegsgebieten untersucht. Die Ergebnisse wurden anhand der epidemiologischen Modellierungen des Imperial College London und der World Health Organisation ausgewertet. Insgesamt befürchtet die Organisation, daß in diesen 34 Staaten zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Menschen mit dem Coronavirus angesteckt werden könnten, was zwischen 1,7 und 3,2 Millionen Tote zur Folge haben könnte.

Ein wichtiger Parameter für das Zustandekommen dieses Ergebnisses ist die große Enge, die in Flüchtlingslagern, aber auch den Slums und Favelas der Megacities des Globalen Südens herrscht. So wurde die Situation an Bord des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess, wo die Ansteckung mit COVID-19 zu Beginn der Pandemie viermal so schnell erfolgte wie im chinesischen Wuhan, mit Camps in Bangla Desch, Syrien und Griechenland verglichen, wo eine bis zu 8,5mal so große Enge herrscht wie auf der Diamond Princess. Social Distancing sei unter diesen Umständen fast unmöglich, zudem sind die hygienischen Bedingungen in den Lagern sehr viel schlechter als auf dem Kreuzfahrtschiff, so daß eine hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 befürchtet wird. Für die Kriegsgebiete in Afghanistan, Syrien, Jemen und Südsudan wird eine ähnliche Entwicklung vermutet. Insgesamt tragen die massive medizinische Unterversorgung und die hohe Zahl mangelernährter wie vorerkrankter Menschen dazu bei, daß den untersuchten Ländern trotz ihrer meist sehr jungen Bevölkerung eine erhebliche epidemische Krise bevorstehen könnte.

Um das Erreichen der prognostizierten Zahl von Ansteckungen und Todesfällen zu verhindern, gebe es noch ein kleines Zeitfenster, in dem die reichen Staaten mit massiver Finanzhilfe und der Lieferung von Schutzbekleidung, Testkits und medizinischer Technik aller Art das Schlimmste verhindern könnten, so das IRC. Was in China gelang, indem zum Beispiel zu Beginn der Pandemie 50.000 ÄrztInnen und PflegerInnen ins Krisengebiet Wuhan geschickt wurden, erscheint angesichts der Überforderung, zu der die Pandemie auch in vielen Industriestaaten geführt hat, kaum möglich. Was die finanzielle Hilfe betrifft, so hat diese schon früher kaum dazu ausgereicht, auch nur Nothilfe in Hungerregionen zu leisten. Das soll nicht heißen, daß es nicht möglich wäre, entschiedene Hilfe zu leisten, wie auch in dem von zahlreichen Hilfsorganisationen und Einzelpersonen unterzeichneten offenen Brief an Angela Merkel unter dem Titel "Globale Solidarität in der Pandemie" gefordert wird. Angesichts des nun ausgebrochenen Wettlaufes um vorteilhafte Startpositionen für die erwartete Postpandemiezeit stehen die Chancen dafür allerdings schlecht.

So bildet die Coronapandemie nichts anderes ab als die extreme Ungleichheit, die die Verhältnisse im kapitalistischen Weltsystem auch zuvor bestimmt hat. Das neokolonialistische Nord-Süd-Verhältnis bleibt intakt und wird zum Preis von noch mehr Leid und Tod aufrechterhalten, bildet es doch die Grundlage einer Reichtumsproduktion, die ohne die Ausbeutung natürlicher, mineralischer und humaner Ressourcen im Globalen Süden nicht auf vertraute Weise funktionierte. Während auf hohem Niveau über materielle Einschränkungen wie den Verzicht auf Flugreisen und Massenevents geklagt wird, während sozialökologisch destruktive Unternehmen im Mobilitätssektor und Rüstungsbereich mit Milliarden subventioniert werden, während überbordender Konsum von Tierprotein und Modeartikeln als unverzichtbar deklariert wird, gesellt sich im Globalen Süden zum endemischen Mangel an unverzichtbaren Lebensmitteln die epidemische Ausbreitung des Coronavirus. Dessen zoonotische Herkunft wiederum ist auch durch expansive Landnutzungspraktiken und die Verdrängung von Naturreservaten durch agroindustriell bewirtschaftete Monokulturen bedingt, woran in Nordamerika und Westeuropa angesiedelte Konzerne maßgeblich beteiligt sind.

Die globale Arbeitsteilung, mit der das von Nord nach Süd steil abfallende Produktivitätsgefälle bewirtschaftet wird, wäre ohne den Interkontinentalverkehr, der für die schnelle Ausbreitung der Pandemie in alle Welt gesorgt hat, und die nicht minder verbrauchsintensiven Containerfrachter nicht praktikabel. Der Bewegungsfreiheit mittelloser Menschen jedoch werden Grenzen auch dann aufgezeigt, wenn ihnen die existenzielle Not an den Hacken klebt. Sollte die Pandemie in den Flüchtlingslagern um sich greifen, dann ist dafür ein territoriales Abschottungsregime verantwortlich, das das umgekehrte Äquivalent der wie selbstverständlich in Anspruch genommenen Reise- und Handelsfreiheit der Industriestaaten des Nordens darstellt. Diese Weltordnung war immer schon inakzeptabel und wird es durch die Pandemie um so mehr.

Antikolonialismus war niemals irrelevant, doch heute wird der Kampf gegen die moderne Kolonialherrschaft und ihre imperialistische Durchsetzung für das Gros der Menschen im Globalen Süden wieder zur Existenzfrage. Es ist Zeit für einen Neubeginn, der nichts Geringeres als die Überwindung der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise und Eigentumsordnung zum Ziel hat. An die Stelle der Irrationalität massenhafter Vernichtung des Lebens könnte die Ratio revolutionärer Realpolitik treten, das wäre eine sicherlich utopische, aber wünschenswerte Lektion, die aus der Eskalation sich gegenseitig befeuernder Krisen zu ziehen wäre.


Fußnoten:

[1] https://www.medico.de/globale-solidaritaet-in-der-pandemie-17727/

[2] https://www.rescue.org/press-release/irc-world-risks-1-billion-cases-and-32-million-deaths-covid-19-across-fragile

6. Mai 2020


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