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HERRSCHAFT/1420: Büchse der Pandora wird nicht zufällig geöffnet (SB)



Es zeichnet das Menschengeschlecht aus, das Überleben zu Lasten der eigenen Art auf die Spitze zu treiben. Daher kann kein Mensch für sich die Hand ins Feuer legen, daß nicht auch er unvorstellbarer Grausamkeiten gegen seinesgleichen fähig ist, sofern ihm die Verhältnisse das unausweichlich erscheinen lassen. Sich der Mixtur aus ausgeübter Gewalt und mit ihr korrespondierender Beteiligung zu bedienen, ist das elementare Handwerkszeug der Herrschaftssicherung, die einen Menschen gegen den andern aufbringt, um zu vernichten, auszugrenzen und zu unterwerfen. Dies wird flankiert von Nebelkerzen unablässiger Verschleierung, die fiktive Erklärungsmuster für das gräßliche Geschehen produzieren.

So erfindet man die tierhafte Grausamkeit der Primitiven, das abergläubische Rasen der Rückständigen, die unlöschbare Heißblütigkeit südlicher Völker und die Unergründlichkeit uralter Feindschaften ebenso wie den Fanatismus von Kommunisten, Fundamentalisten und Terroristen, um mit dieser Bezichtigung des Unmenschlichen seine Sanktionierung zu rechtfertigen und die eigene Interessenlage zum Inbegriff der Menschlichkeit zu erklären. Wenn nicht genug für alle da ist, stellt sich rasch heraus, wer über die Machtmittel verfügt, die Frage von Leben und Sterben zu seinen Gunsten zu entscheiden und diesen Vorgang ethisch, moralisch und politisch wasserdicht zu machen, damit ihn die Hungerleider nicht in einem verzweifelten letzten Aufbäumen überrennen und mit ins Verderben reißen.

Was also ist nur in die Mexikaner gefahren, daß sie einander abschlachten wie seit Menschengedenken nicht mehr? Jüngst gestand ein gewisser Santiago Meza López im Armeeverhör, er habe für einen Lohn von 600 Dollar pro Woche im Auftrag des Drogenbarons Teodoro García Simental im Laufe der letzten Jahre etwa 300 Leichen mit Säure aufgelöst, um die Spuren der Morde zu verwischen. Verrichtet hatte er sein grausiges Werk in einer abgelegenen Gegend am Stadtrand von Tijuana, wo er die sterblichen Überreste in Gruben warf, sie mit Säure übergoß und dann unter der Erde dem Zerfall überließ.

Der Mann machte sogleich unter dem makabren Namen "El Pozolero" Schlagzeilen, wobei Pozole ein beliebtes mexikanisches Fleischgericht aus verschiedenen zerkleinerten Zutaten bezeichnet. Seit der Krieg der Kartelle untereinander wie auch mit der Staatsgewalt unablässig neue Opfer produziert - mehr als 5.000 waren es im vergangenen Jahr - bekommen die Banden zunehmend Probleme, jene Leichen loszuwerden, die man aus welchen Gründen auch immer nicht einfach liegenlassen oder den Feinden als Drohung vor die Tür werfen will. Die Mordopfer mit Säure aufzulösen, hat sich zu einer in diesen Kreisen durchaus verbreiteten Praxis entwickelt.

Auftraggeber des geständigen Handlangers war ein Drogenhändler, der mit dem in Tijuana residierenden Arellano-Félix-Kartell gebrochen und seinem früheren Boss Fernando Sánchez Arellano den Krieg erklärt hat. Damit wiederholt sich auch in diesem Fall ein Muster, wie man es zunächst in Kolumbien kennenlernte und nun auch in Mexiko mitverfolgen kann. Werden die alteingesessenen Kartelle samt ihren abgesteckten Revieren und eingespielten Bestechungssystemen durch staatliche Eingriffe erschüttert, ist die Hölle los. Hierarchien bersten, Fraktionen proben den Umsturz, blutige Nachfolgekämpfe brechen aus. Absprache, Bündnis, Kodex und Tabu verlieren jede Bedeutung, angeheuerte Killerbanden gehen aufeinander los. Da kämpfen im Dienst verfeindeter Kartelle berüchtigte Todesschwadrone aus Mittelamerika, die einst in den USA für den Antiguerillakampf ausgebildet wurden, gegen nordamerikanische Gangsterbanden, während in grenznahen US-Bundesstaaten Waffenläden wie Pilze aus dem Boden schießen, die für den ungehinderten Nachschub sorgen.

Wie nahe Zivilisation und Chaos einander sind, verkörpern nicht nur in räumlicher Hinsicht die Schwesterstädte El Paso und Ciudad Juárez, nur getrennt vom ausgedünnten Lauf des Rio Grande und einigen Kontrollposten. Während El Paso als drittsicherste Stadt der gesamten USA gilt, ist das südliche Pendant mit seinen eineinhalb Millionen Einwohnern ein Schlachtfeld der Kartelle mit 1.550 Morden und allen erdenklichen anderen Verbrechen im letzten Jahr.

Der unaufhörliche Menschenstrom, der die benachbarten urbanen Zentren seit jeher im tagtäglichen Pendelschlag verbunden hat, ist dünner geworden. Für die Amerikaner ist Ciudad Juárez zu einem Hort von Angst und Schrecken mutiert, der vom Verbrechen regiert wird, und sie befürchten seit langem, daß das Verhängis die poröse Grenze durchdringen und auf El Paso übergreifen wird. Sicherheitsexperten erörtern mit wachsender Dringlichkeit die Frage, ob und wie man die Woge aufhalten kann.

Die Theorien, warum es auf der nördlichen Seite des Flusses bislang so ruhig geblieben ist, obwohl in Mexiko der Krieg um die überaus lukrativen Transportrouten des Drogengeschäfts in die USA tobt, schießen ins Kraut. So mutmaßen viele Experten, die hohe Konzentration von Sicherheitskräften in Grenznähe und die Todesstrafe in Texas übten eine abschreckende Wirkung aus. Diese Erklärung ist jedoch fadenscheinig, zumal das massive Sicherheitsaufgebot in den mexikanischen Brennpunkten eskalierender Auseinandersetzungen die Lage nicht beruhigt, sondern im Gegenteil Öl ins Feuer des Konflikts gegossen hat.

El Pasos Bürgermeister Cook ist nicht der einzige, der eine andere Einschätzung favorisiert. Er weist darauf hin, daß die relativ friedliche Zeit für die Nachbarstädte endete, als Mexikos Präsident Felipe Calderón mit Rückendeckung der Bush-Administration und unter begeistertem Beifall der führenden US-amerikanischen Medien im Dezember 2006 den Startschuß zur großen Offensive gegen die Kartelle gab. Eine vergleichbare Operation hat man bislang in den USA nicht eingeleitet, doch sobald das geschieht, werden in seiner Stadt ähnlich katastrophale Zeiten anbrechen, wie im mörderischen Domizil von Furcht und Gewalt namens Ciudad Juárez, warnt Cook.

Not macht erfinderisch und so hat der Stadtrat von El Paso einstimmig eine Resolution beschlossen, welche die Regierung in Washington dazu aufruft, die Legalisierung von Drogen als einen Weg zur Beendigung des Wütens in Erwägung zu ziehen. Doch die Stadträte machten wenig später einen Rückzieher, als der Bürgermeister sein Veto einlegte und örtliche Kongreßabgeordnete zu bedenken gaben, ein solches Ansinnen könne womöglich Subventionen aus Bundesmitteln gefährden.

Die scheidende Bush-Administration hatte ohnehin anderes im Sinn: Wie Heimatschutzminister Michael Chertoff seiner Amtsnachfolge mit auf den Weg gab, lägen umfassende Pläne vor, im Falle eines Übergreifens der Gewalt ein umfangreiches Aufgebot von Bundesagenten und Soldaten nach El Paso und an andere Krisenherde zu verlegen. Mit eben dieser Strategie massiver Repression und Militarisierung des Konflikts hatte Calderón das Verhängnis in Mexiko besiegelt. Während man aber dem mexikanischen Präsidenten allenfalls zugestehen mag, daß er zu weit gegangen sei, um das Rad noch zurückdrehen zu können, scheint die US-Regierung sehenden Auges denselben Abgrund anzusteuern. Will man sich nicht mit der allzu banalen Deutung zufriedengeben, Bush habe eben katastrophale Fehler am Fließband produziert, die Obama ausbügeln oder von vornherein vermeiden werde, drängt sich der Verdacht auf, daß die Büchse der Pandora nicht zufällig geöffnet wird. Was ist schon ein Krieg der Kartelle, wenn man Vorwandslagen braucht, um ein Arsenal zur Niederwerfung kommender Hungerrevolten in Stellung zu bringen!

30. Januar 2009