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HERRSCHAFT/1460: Keine Experimente ... Bescheidenheit ist Trumpf! (SB)



Am Tag nach der EU-Wahl ist in deutschen Medien fast ausschließlich die Rede davon, was ihr Ausgang für die Bundestagswahlen im Herbst zu bedeuten hat. Als wolle man im Nachhinein erklären, daß das Lamento über das geringe Interesse des Bürgers an europäischer Politik nicht ganz ernst gemeint war, erfolgt die Auswertung der Wahlergebnisse ganz im Lichte bundespolitischer Ereignisse. Der schwarze Peter der historisch geringen Wahlbeteiligung wird von den Medien zur Politik und von dort zurück an die Medien gereicht, um ja keine Debatte über die paternalistische Struktur einer repräsentativen Demokratie aufkommen zu lassen, die konstitutiv in Arbeitsteilung zwischen parlamentarischer Verfügungsgewalt und verfügbarer Manövriermasse der Sachwalterschaft der Parteiapparate, Beratungsinstitute und Lobbyistenverbände unterstellt wurde.

Wo, wie etwa in Polen, eine besonders geringe Wahlbeteiligung heraussticht, wird von den angeblich überzogenen Erwartungen der Opfer realsozialistischer Diktaturen in die Möglichkeiten der Demokratie schwadroniert. Bescheidenheit ist angesagt. Wer den Versprechungen geglaubt oder gar Visionen hat, dem hilft kein Arzt mehr, um die Malaise des Aufbegehrens zu kurieren. So etwas wird heute schlicht über die Kargheit jenes materiellen Seins geregelt, das als konstitutives Movens längst vom Imperativ des Sachzwangs überholt wurde. Der dialektischen Entwicklung wurde der Antagonismus geraubt, soll es sich bei systemischen Widersprüchen doch um Schauermärchen nämlicher Ideologen handeln, die den Namen der Gleichheit noch für den Menschen und nicht das Kapital fruchtbar machten.

Ohne den Kontrast zum unabdinglich Schlechteren, und sei es noch so verflossen, kommt das angeblich freieste und demokratischste System der Menschheitsgeschichte nicht aus. In den Stadtmaschinen und Industriezonen, den Armutsghettos und Dienstleistungswüsten einer sich selbst überholenden Verbrauchsintensität nach dem Subjekt des Volkssouveräns zu suchen fällt den Herolden von Freiheit und Demokratie nicht ein, könnte man doch auf Verhältnisse stoßen, die sich mit ihrem hehren Anspruch nicht in Deckung zu bringen lassen.

Mit der allgemeinen Orientierung an restaurativen Tendenzen, die sich im Wahlergebnis niederschlägt, ist man denn auch rundheraus zufrieden, bestätigt diese doch die Funktionstüchtigkeit eines Rituals, das die imperiale Formierung des Staatenbundes Europäischen Union legitimieren soll. Klagen über die mangelnde Begeisterung der Europäer für die Errungenschaft eines im Grunde genommen Staaten und nicht Bevölkerungen repräsentierenden Parlaments halten berufene Politikwissenschaftler denn auch entgegen, daß niedrige Wahlbeteiligungen in der angloamerikanischen Welt auch kein Beinbruch für die dortigen politischen Systeme seien. Wo das Primat des Bestandes jede Kritik an dem dafür etablierten Gewalthaushalt aus dem Felde schlägt, wird Entfremdung zum fremdesten aller Worte.

Für Menschen, die nach grundlegender gesellschaftlicher Veränderung streben, kann über die produktive Bedeutung außerparlamentarischer Bewegungen immer weniger Zweifel bestehen. Eine zwischen Reformismus und Radikalismus zerrissene Linke täte zwar gut daran, ihr streitbares antagonistisches Potential zu entwickeln, anstatt den Verlockungen einer so strikt regulierten wie großzügig alimentierten Teilhaberschaft zu erliegen, doch ist absehbar, daß der geringe Zuspruch der Wähler, der ihr inmitten der Krise des Kapitalismus zuteil wurde, nun erst recht jene Kräfte stärkt, die im Kompromiß den Weg zum nicht zuletzt eigenen Heil erkennen.

8. Juni 2009