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HERRSCHAFT/1487: "Systemrelevanter" Wahlkampf ... Wachstum über alles (SB)



Wenn der Finanz- und der Wirtschaftsminister der Bundesrepublik im Rahmen einer Talkshow durchblicken lassen, daß harte Zeiten auf die Bundesbürger zukommen, dann wirkt diese Ankündigung beinahe wie ein Gnadenakt gegenüber der Bevölkerung. Die große Koalition, deren Fortsetzung wieder etwas wahrscheinlicher geworden ist, betreibt Schadensbegrenzung, indem sie vor der Wahl nicht nur verspricht, was sie danach nicht einlöst. Da es die Spatzen inzwischen von den Dächern pfeifen, daß die Verpflichtungen, die der Staat gegenüber dem Finanzkapital eingegangen ist, erhebliche zusätzliche Belastungen für seinen Haushalt und damit die Steuerzahler zur Folge haben, bereitet man die Bevölkerung schon einmal darauf vor, daß sie diese offene Rechnung zu begleichen haben wird.

Da die von der Krise des Kapitals betroffenen Lohnabhängigen in zunehmendem Maße von Sozialtransfers abhängig sind und diese einen der größten Posten öffentlicher Ausgaben bilden, liegt auf der Hand, wer vor allem zur Kasse gebeten wird. Gutbetuchte Bürger stärker zu besteuern, ohne ihnen damit die Butter vom Brot zu nehmen, weil sie noch nicht einmal an der Wurst sparen müssen, wäre eine Option, die aus Gründen der vorherrschenden Marktlogik nur bedingt in Frage kommt. Statt dessen wird über Steuersenkungen für "Leistungsträger" diskutiert, um einer Wachstumslogik zu frönen, die den Verlierern - Lohnabhängige, prekär Beschäftigte, Erwerbslose, Rentner - ausschließlich Zugeständnisse abverlangt.

Den Empfängern von Sozialleistungen auch noch die Billigmagarine vom Billigbrot zu nehmen, indem man sie indirekt über die Erhöhung von Verbrauchssteuern und direkt über die Kürzung von Sozialleistungen zur Kasse bittet, ist der absehbare Ausgang der von Steinbrück und Guttenberg offiziell angekündigten Verschärfung der sozialpolitischen Lage. Da sich beide Minister darin einig sind, das Postulat eines von Kapitalinvestitionen betriebenen Wachstums nicht in Frage zu stellen, werden andere Optionen von vornherein ausgeblendet. Über dieses Manko wird geschwiegen, um den öffentlichen Diskurs nicht auf eine Weise auszuweiten, der die Bürger tatsächlich in die Lage versetzte, am Wahlsonntag zwischen echten Alternativen zu entscheiden. Statt dessen wird eine Wirtschaftspolitik propagiert, die auf Glaubensgrundsätzen wie dem der Unverzichtbarkeit des Privilegs der Kapitaleigner beruht, maßgebliche politische Entscheidungen von ihrer Investitionsbereitschaft abhängig zu machen.

Daß die Ankündigung schmerzhafter Einbußen während einer Gesprächsrunde im Fernsehen und nicht im Rahmen einer parlamentarischen Debatte oder Regierungserklärung erfolgte, ist bezeichnend für den auf ein Medienspektakel verkürzten Stand der parlamentarischen Demokratie. Wenn in geselliger Runde ausgeplaudert wird, daß der Gürtel künftig noch enger zu schnallen sein wird, dann sind damit immer die anderen gemeint. Wäre jemand anwesend, den eine Kürzung seiner Mittel vor existentielle Probleme stellte, dann könnte er Fragen stellen, die inmitten des Geplauders eine Front des sozialen Widerspruchs eröffnete. Um so verständlicher ist es, daß die öffentliche Debatte gerade einmal in der letzten Woche vor dem Wahlsonntag Probleme von einer sozialen Brisanz streift, die den Wahlkampf seit Monaten bestimmt haben müßten, wenn die Interessen der Bevölkerung dem demokratischen Anspruch gemäß zur Geltung gelangten.

Ginge es um das Interesse der Menschen, die die kapitalistische Weltordnung schon seit langem durch Reallohnsenkungen, knappere Sozialleistungen, prekäre Daseinsvorsorge bis hin zu realen Überlebenskatastrophen alimentieren, dann stände das herrschende Verwertungsparadigma selbst und nicht nur die Bewältigung seiner Auswirkungen zur Debatte. So lange es nur darum geht, wer die Kosten der Krise zu berappen hat, anstatt die Frage zu stellen, wie sie in entstehen konnten und warum sie nicht von ihren Verursachern beglichen werden, bleibt der Elefant im Raum unsichtbar. Wieso sollte man ein Gesellschaftssystem fortschreiben, dem schwerwiegende Zusammenbrüche aufgrund einer in sich widersprüchlichen Wachstumsdoktrin und der Unvereinbarkeit der Interessen von Arbeit und Kapital programmatisch innewohnen?

Der öffentliche Diskurs wird nicht etwa aufgrund des Mangels an Alternativen, der unter Verweis auf das angebliche Scheitern des Sozialismus als unhinterfragbare Wahrheit postuliert wird, sondern zur systematischen Sicherung etablierter Herrschaftsverhältnisse vom Zwang zur Kapitalverwertung bestimmt. Jenseits des schmalen Bands zwischen neoliberaler Angebotspolitik und sozialdemokratischer Nachfragepolitik herrscht weißes Rauschen, in dem mitunter schemenhafte Gestalten zu erkennen sind, die dieses System so wirksam in Frage stellen, daß ihre Stimmen zum Schutz von Ruhe und Ordnung ausgeblendet werden.

So reduziert sich der öffentliche Streit auf Verteilungsfragen und wird in Anbetracht des nicht angetasteten Wachstumsprimats zugunsten der Interessen des Kapitals entschieden. Im Rahmen weitreichend politisch wie administrativ vorformulierter Konzepte tritt der Wähler als bloßer Legitimationsproduzent in Erscheinung, der mit seiner Stimme auch seine demokratische Verfügungsgewalt für die nächsten vier Jahre abgibt. Selbst wenn er über ökonomischen Sachverstand verfügt, sind seine Möglichkeiten, direkten Einfluß auf die politische Willensbildung zu nehmen, minimal, um von der Überprüfung einmal gefällter Entscheidungen gar nicht erst zu reden. Der Anspruch der repräsentativen Demokratie, unbeeinflußt von basisdemokratischen Einflüssen Handlungsfreiheit zugunsten der maßgeblich bestimmenden Kräfte zu erwirtschaften, und der daraus folgenden Herrschaft der Funktionseliten in Politik und Bürokratie setzt die strikte Akzeptanz angeblicher ökonomischer Sachzwänge durch, indem der Mensch als Homo oeconomicus zu Werkzeug wie Werkstoff der Kapitalverwertung erklärt wird.

Selbst wenn man in einer offenen, von der publizistischen und regulatorischen Vormachtstellung der Kapitalinteressen in den Medien befreiten Debatte nicht zu einer Systemveränderung gelangte, sorgte diese dafür, daß die Bevölkerung Sinn und Blick für den doktrinären Charakter der Behauptungen entwickelte, mit denen sie in die Irre geführt wird. Damit wäre die Voraussetzung für eine erhebliche Mobilisierung der Bürger zu außerparlamentarischen Initiativen und Protesten geschaffen, mit der sich durchaus etwas bewegen ließe. Demgegenüber zementiert die Einstimmung der Bevölkerung auf einen materiellen Aderlaß, der selbst die Agenda 2010 in den Schatten stellt, das Privileg der Eliten, die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Konflikts zu setzen und im Zügel angeblicher Sachzwänge seinem vorbestimmten Ergebnis zuzuführen.

22. September 2009