Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1524: Keine Renaissance der Atomenergie - es gibt keinen Bruch (SB)



In der Bundesregierung wird darüber diskutiert, in welchem Ausmaß der mit der Energiewirtschaft ausgehandelte sogenannte Atomausstieg hinausgezögert werden kann. Als vermeintlich fortschrittlich präsentiert sich in diesem Spiel CDU-Umweltminister Norbert Röttgen, weil er für eine Laufzeitverlängerung von "nur" acht Jahren von 2022 bis 2030 plädiert, während einige Unionskollegen und Koalitionspartner die Meiler noch bis 2040 und darüber hinaus betreiben wollen. Kanzlerin Merkel versucht unterdessen, den Ball flach zu halten, und verweist darauf, daß die Regierung erst im Herbst über diese Frage entscheiden wird.

Bis dahin wurde in Nordrhein-Westfalen gewählt, und Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) dürfte auf jede Stimme angewiesen sein, um das Zepter behalten zu dürfen. Würde die Regierung bereits jetzt bekanntgeben, daß sie die Kernkraftwerke weit über das vom Ausstiegsszenario vorgesehene Zeitfenster hinaus in Betrieb halten will, bestände die Gefahr, daß sich die Wählerinnen und Wähler daran erinnerten, wie alles angefangen hat und was sie früher einmal vorhatten: Nach Massendemonstrationen, Bauplatzbesetzungen, Sitzblockaden und anderen Formen zivilen Widerstands gegen die Nuklearwirtschaft wurde in Deutschland eine sozialdemokratisch-grüne Koalition, die den lautstark und mit Nachdruck geforderten "Atomausstieg" versprach, an die Regierung gebracht.

Doch Industriekanzler Schröder (SPD) erklärte die Verhandlungen mit der Energiewirtschaft zur Chefsache und ließ den grünen Umweltminister Jürgen Trittin gern schon mal im Regen stehen. Ganz nach dem Motto: Wir müssen draußen bleiben. "Tritt-ihn", durch und durch ein Realo, besaß nicht genügend Rückgrat, um die Koalition zum Platzen zu bringen und verkaufte den Energiekonsens auch noch als Erfolgsgeschichte.

Und der Atomausstieg? Ja, der würde kommen, nur nicht sofort, wurde versprochen. Er sei jetzt nicht mehr rückgängig zu machen, behaupteten die Grünen, die längst nicht mehr an ihren Pullovern strickten, sondern an ihren Karrieren in der Wirtschaft. Schon damals kursierte der Ausdruck "Akw-Bestandssicherungsvertrag" in der Anti-Atom-Bewegung. Heute, zehn weitere Jahre ohne Atomausstieg sind ins Land gegangen, legt der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Michael Fuchs ein achtseitiges Positionspapier vor, in dem er laut der Bildzeitung vom Freitag einen Atomausstieg bis 2030 als "nicht verantwortbar" bezeichnet. Die 17 bestehenden Kernkraftwerke müßten bis auf weiteres am Netz bleiben, die Laufzeiten seien "zeitnah" zu verlängern.

Aus wahltaktischen Gründen bezeichnet auch Fuchs die Nuklearenergie als "Brückentechnologie". Dieser Begriff wurde bereits im Koalitionsvertrag verwendet. Dadurch soll der Eindruck erzeugt werden, die Regierung sei sich prinzipiell mit der Bevölkerung einig, daß Atomkraftwerke abgeschaltet gehören, allein über den Zeitpunkt, wann das geschehe, müsse noch gesprochen werden.

Die wirtschaftsnahe Koalitionsregierung spielt auf Zeit. 2036, ein halbes Jahrhundert nach der Explosion des Atomkraftwerks Tschernobyl, bei dem nahezu ganz Westeuropa radioaktiv verstrahlt wurde, dürfte die Generation, die einst durch ihre Proteste die Ära des Langzeitkanzlers Helmut Kohl beendet und Parteien an die Regierung gebracht hat, die den Atomausstieg verhießen, entweder bereits verschieden oder aber auf andere Weise zum Schweigen gebracht worden sein. Wem die Rente gekürzt und die notwendige medizinische Versorgung versagt wird, hat unmittelbare Probleme und hätte allen Grund, sich mehr um die eigene Zukunft als um die der Gesellschaft zu sorgen.

Die zentralistische Nukleartechnologie bietet hinsichtlich der Qualifizierung der Verfügungsgewalt einfach zu viele Vorteile, als daß die Regierung darauf verzichten will. Beispielsweise wird durch Atomkraftwerke der vermeintliche Sachzwang geschaffen, sie bewachen zu müssen. Außerdem können polizeiliche Großmanöver gegenüber Demonstranten durchgeführt werden, bei denen unschätzbare Erfahrungen hinsichtlich der Kontrolle großer Bevölkerungsmassen und der Sicherung von Transportwegen gesammelt werden.

Selbst Umweltorganisationen bieten bereits ihre offene Flanke an, indem sie kritisieren, daß Atomkraftwerke nicht genügend gegenüber terroristischen Angriffen geschützt seien. Damit übernehmen sie nicht nur den von den herrschenden Interessen willkürlich befrachteten Terrorismus-Begriff, sondern rufen geradezu nach dem Sicherheitsstaat. Es wäre nicht erstaunlich, wenn eines Tages ein grüner Umweltminister oder eine grüne Umweltministerin den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken mit dem Argument zu rechtfertigen versuchte, daß sie eine zuverlässige, klimafreundliche und unverzichtbare Energiequelle sind.

26. Februar 2010