Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1559: Stuttgart 21 - Keine Gesprächsbereitschaft gegenüber dem Volk (SB)



Glaubt noch irgend jemand, daß mit dieser Regierung das Bauprojekt "Stuttgart 21" gestoppt werden kann? Weder auf Stadt-, Landes- noch Bundesebene wird Gesprächsbereitschaft gezeigt. In der Politik ist es eigentlich üblich, im Falle unterschiedlicher Standpunkte nach einem Kompromiß zu suchen. Das findet hier nicht statt. Die Gegner des S21 abgekürzten Projekts werden nicht als gleichwertige Gesprächspartner, mit denen es etwas auszuhandeln gäbe, ernst genommen. Wohl aber finden unter Vermittlung von Heiner Geißler Zusammentreffen statt, auf denen dann der fälschliche Eindruck erweckt wird, die Politik wäre zur Konsenssuche bereit. Das ist sie nicht.

Hier steht die Einstellung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus stellvertretend für das Establishment in Politik und Wirtschaft. Er rückt keinen Jota davon ab, daß der Stuttgarter Kopfbahnhof unterirdisch verlegt wird, was der wesentliche Preistreiber dieses umfassenden Infrastrukturprojekts ist, dessen veranschlagten Kosten von 4,1 Mrd. Euro nachgewiesenermaßen nicht zu halten sind. Das Doppelte bis Dreifache anzunehmen zeugt von Realitätssinn, an dem es die Befürworter missen lassen.

Mappus' Vorschlag, Gesprächskreise zu Einzelfragen einzurichten, ist nicht so gemeint, daß das Projekt in seiner jetzigen planerischen Form zur Diskussion steht. Daß Heiner Geißler erfolgreich als Mediator vorgeschlagen wurde, zielte auf keinen Kompromiß, sondern - und das kann nicht deutlich genug gesagt werden - ausschließlich darauf, die gegnerische Seite einzulullen. Wer von den S21-Gegnern meint, daß der Geißler nett ist und eine kritische Position vertritt, ist der sogenannten Mediation auf den Leim gegangen. Nur dann wäre der CDU-Mann glaubwürdig, wenn er die Konsequenz zöge und seinen befristeten Job mangels Gesprächsbereitschaft der Politik aufgäbe.

Indes haben die Gegner des Projekts sehr wohl ihre Bereitschaft zu Kompromissen demonstriert, sogar als einseitige Vorleistung. Sie haben zugestanden, daß die Verkehrsverbindungen im Stuttgarter Raum verbesserungswürdig und auch gewisse Bauvorhaben akzeptabel sind - nur daß der Kopfbahnhof in wesentlichen Zügen bestehen bleiben sollte.

Inzwischen schwingt auch Bundesinnenminister Lothar de Maizière den verbalen Polizeiknüppel. Im ZDF-Morgenmagazin am Dienstag lamentierte er über den "Mißbrauch des Demonstrationsrechts" durch begüterte Eltern, die ihre Kinder krank schrieben, damit diese demonstrieren können, und sprach von "Gewaltgruppen", von denen sich friedliche Demonstranten zu lösen hätten. Nun, das hätten die friedlichen Demonstranten nur zu gerne getan, wäre es möglich gewesen. Leider waren ihnen die Gewaltgruppen mit scharfen Hunden, Knüppeln, Pfefferspray und Wasserwerfern auf den Leib gerückt.

Das Großprojekt sei mit Bürgerbeteiligung geplant worden und müsse durchgesetzt werden, so der Innenminister. Politik sei Abwägen und Suche nach Kompromissen, zu denen man stehen müsse, anstatt einer "Stimmungsdemokratie" nachzugehen.

Was sonst haben die Menschen als ihre Stimme? Wenn viele Menschen ihre Stimme erheben, ergibt das eine Stimmung. Soll doch kein Politiker so tun, als ob er nicht auf Stimmungen setzte! Alle vier Jahre sind Wahlen, dann werden Stimmen abgegeben und das Ergebnis zeigt die Stimmung in der Bevölkerung. Auch das Geschehen an den Finanzmärkten, das beträchtlichen Einfluß auf die Entscheidungen der Bundesregierung hat, wie die in undurchsichtige Töpfe geflossenen Milliarden zeigen, welche von Schwarz-Gelb zur Rettung von Banken und Unternehmen ausgegeben wurden, wird gern als Börsenstimmung oder Stimmungsbarometer bezeichnet. De Maizière lehnt offenbar nicht Stimmungen an sich ab, sondern eine spezielle Stimmung, nämlich die, wenn sich Menschen plötzlich zu Zehntausenden zusammentun. Genau deswegen wird ja demonstriert!

Es trifft zu, daß Bürgerinnen und Bürger an den Planungen für "Stuttgart 21" beteiligt wurden ... irgendwie, irgendwann. Es trifft aber ebenfalls zu, daß sie von den Planungen ausgeschlossen wurden, beispielsweise als sie 67.000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid gesammelt hatten. Und heute, da aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise auf der einen Seite Sozialleistungen gestrichen werden und auf der anderen das Projekt "Stuttgart 21" nicht mehr 2,5 Mrd., auch nicht 4,1 Mrd., sondern acht, zehn oder noch mehr Milliarden Euro verschlingen wird, da werden die Menschen ebenfalls ausgeschlossen.

Die Proteste gegen "Stuttgart 21" stellen nicht die repräsentative Demokratie an sich in Frage. Das ist auch so ein Trick der Politik, daß sie den Streitgegenstand dermaßen überhöht, um so die vermeintliche Überzogenheit und Brisanz der Forderungen der S21- Gegner zu belegen. Es geht zunächst nur um einen Baustopp, wodurch die notwendige Luft verschafft würde, damit die verstockte Regierung zur Besinnung kommt. Danach kann neu und verantwortungsbewußt entschieden werden, was die Menschen in der Region und ihre Repräsentanten hinsichtlich dieses Projekts unternehmen wollen.

Auf allen politischen Ebenen fahren die Befürworter von S21 schwere Geschütze gegen die Demonstranten auf und stellen kaum verhohlen die Machtfrage. Der brutale Polizeieinsatz gegen Demonstranten war dafür ein Beispiel. Erst dadurch wird die Grundsatzfrage aufgeworfen, wer der eigentliche Souverän in der Bundesrepublik ist. Solche Fragen können gern gestellt werden, aber man sollte mit ihnen nicht den Streit um "Stuttgart 21" belasten, denn das erschwert nur unnötigerweise eine Abkehr von diesem herrschaftsförmigen Projekt.

20. Oktober 2010