Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1561: "Leitkultur" über alles ... Wilders nimmt Merkel beim Wort (SB)



Beifall von der falschen Seite? Wohl kaum. Geert Wilders, dessen PVV immerhin die drittgrößte Fraktion im niederländischen Parlament stellt und sich in der vorteilhaften Position befindet, die Minderheitsregierung aus Rechtsliberalen (VVD) und Christdemokraten (CDA) zu tolerieren, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Parlamentsdebatte ausdrücklich für die Absage an eine multikulturelle Gesellschaft gelobt und in den Rang einer führenden Islamkritikerin erhoben. Dies wies Merkels Sprecher Steffen Seibert postwendend zurück, indem er betonte, daß die Kanzlerin "natürlich vor einer wichtigen Weltreligion Respekt" habe und ihre Aussage ganz bestimmt nicht getroffen habe, "um genau aus dieser Ecke Beifall zu bekommen".

Wenn nicht aus dieser Ecke, dann eben aus einer anderen, die kaum mehr als Ecke, sondern Mitte der deutschen Gesellschaft zu bezeichnen ist. Wilders kann mit seiner der Äußerung des Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam gehöre mittlerweile zu Deutschland, widersprechenden Einschätzung, daß hierzulande zwei Drittel der Bevölkerung anderer Ansicht als der erste Bürger der Republik wären, nicht ganz falsch liegen. Andernfalls müßten die Spitzen der Unionsparteien eine Minderheitenposition vertreten. Das von Merkel und Seehofer geschürte Ressentiment gegen muslimische Bürger und Migranten mündet nicht umsonst in einen Maßnahmenaktionismus gegen "Integrationsverweigerer", der allen Erkenntnissen um die Bemühungen von Zuwanderern, sich an die Gepflogenheiten der deutschen Gesellschaft anzupassen, Hohn spricht. So sind die angebotenen Integrationskurse regelrecht überlaufen, und die Gründe, die die geringe Zahl von Abbrechern dazu veranlaßt, nicht der ihnen längst verordneten Pflicht nachzukommen, müssen keineswegs in einer prinzipiellen Verweigerung bestehen, sondern können gesundheitlicher oder beruflicher Art sein.

Der angeblich positive Patriotismus, der vor vier Jahren bei der Fußball-WM erstmals mit massenmedialer Wucht zum Orientativ der Bundesbürger erhoben wurde, hat das hervorgebracht, was in jedem nationalen Identitätsangebot virulent ist. Es gibt keine Betonung des Eigenen ohne die Benachteiligung, Herabwürdigung oder Ausgrenzung des Fremden. Patriotismus ist keine aus sich selbst heraus geschöpfte Heimatliebe, sondern wurde im Zuge der modernen Staatenbildung und -konkurrenz zur Zurichtung der Bevölkerung als nationales Kollektiv entwickelt. Sein republikanischer Anspruch ist anschlußfähig für nationalistische Erregungen, wie sie zu Krisen- und Kriegszeiten zwecks Bekämpfung des äußeren und vor allem inneren Feinds, sprich der sozialen Opposition, geschürt werden.

Mit dem offen propagierten Kampf gegen die "zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen", die CSU-Chef Horst Seehofer verhindern will, werden die materiellen Antagonismen der sozial immer tiefer gespaltenen Gesellschaft kulturalistisch kanalisiert, um die ein gemeinsames Ganzes suggerierenden Formeln "Deutschland braucht, muß etc.", "wir brauchen, müssen etc." gegen das Klasseninteresse derjenigen zu kehren, die bei der ersten Welle nationaler Mobilisierung 2006 längst unter die Räder der gegen die "Unproduktiven" organisierten Erschließung verbliebener Verwertungskapazitäten geraten waren. Das angebliche "Sommermärchen", zu dem 2010 der erfolgreich integrierte deutsche Fußballstar ausländischer Herkunft als Leistungsmerkmal dessen, wie "wir uns unsere Türken" wünschen, nachgereicht wurde, ist auf dem Boden eines Sozialkampfes aufgeschlagen, in dem alle Register feindseliger Verächtlichmachung und Schuldumkehr gezogen werden.

Die von Boulevardmedien bereitwillig hochgespielte Unterstellung der Familienministerin Kristina Schröder, "ethnische" Deutsche - nicht deutsche Bürger, denn darunter fielen Menschen nichtweißer und muslimischer Herkunft - seien rassistischen Nachstellungen durch Zugewanderte ausgesetzt, bietet die dazu passende Verdrehung eines Gewaltverhältnisses, das seinen extremsten Ausdruck bislang in den Angriffen rechter Schläger auf Ausländer fand. Die Ministerin, zu deren Aufgabenbereich die Aufklärung der Jugend gegen das Widererstarken des Nazismus gehört, betreibt den ihr übertragenen Kampf gegen politischen Extremismus folgerichtig auch und besonders gegen linksradikale und islamistische Strömungen. So kommt der Antiextremismus in dem von ihm geschaffenen Extremismus zu sich selbst, der Programmatik kapitalistischer Herrschaftsicherung, zugunsten der unter dem Vorwand, man dürfe das Thema nicht "Rechtspopulisten" überlassen, rechtsaußen geblinkt wird.

Das Phantom der "Integrationsverweigerung" mündet denn auch über die offenkundige Funktion, mit Hilfe einer stärkeren Normierung der Zuwanderung nach Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit Raubbau an den reproduktiven Leistungen anderer Gesellschaften zu begehen, hinaus in einen offenen Rassismus, den die Betroffenen nicht mehr ignorieren können, wie Günther Piening, Beauftragter für Integration und Migration in Berlin, im Deutschlandfunk (19.10.2010) erklärte:

"Man kann sagen, in den Einwanderercommunities herrscht das blanke Entsetzen. Man kann nicht fassen, was Deutschland hier diskutiert. Mich sprechen Leute an und sagen, es kann doch nicht sein, daß die Deutschen so abwertend über uns denken. Jeder berichtet, daß er seinen Arbeitskumpel jetzt ganz anders anschaut. Fassungslosigkeit ist, glaube ich, der richtige Punkt, und das werden die Folgen der Debatte sein: Die Spaltung der Gesellschaft in 'wir' und 'die Einwanderer' wird vorangetrieben. Anstatt Brücken zu bauen, werden Positionen, die bisher nur an den Rändern vertreten waren, in die Mitte geschoben. Ich möchte auch noch einen Aspekt betonen, den sich die Kanzlerin jetzt auch zu eigen gemacht hat: Die Betonung des Christentums als Leitkultur, auf die sich die Einwanderer einlassen müssen. Das ist ein bisher noch nicht erlebtes Rollback und auch eine klare Abkehr von der Verfassung, die ja Gleichheit der Bürger unabhängig von der Herkunft oder Religion zur Grundlage des Zusammenlebens macht. Wenn ich einem Einwanderer aus einem muslimischen Land sage, das Christentum ist unsere Leitkultur, soll er dann konvertieren? Das heißt, wir haben zur Zeit einen Prozeß, der das Vertrauen zerstört, daß man als Einwanderer in Deutschland gleichberechtigter Deutscher ist, wenn man Steuern zahlt, den deutschen Paß hat und die Gesetze achtet. Dieses Fundament der Integrationspolitik (...) wird zur Zeit systematisch zerstört, und das werden die Langzeitfolgen dieser Debatte sein."

Geert Wilders liegt auch in anderer Hinsicht nicht verkehrt damit, in der Bundeskanzlerin eine heimliche Sachwalterin seiner antiislamischen Agenda zu erkennen. Seine Liaison mit der israelischen Regierungspartei Likud und seine Behauptung, im Nahostkonflikt ginge es nicht um territoriale, sondern ideologische Fragen, da die Muslime Israels Existenzrecht bestritten, finden ihr Echo in der einseitigen Parteinahme Merkels für eine Sicherheit Israels, deren Gewährleistung die Negation palästinensischer Sicherheits-, Lebens- und Territorialinteressen voraussetzt. So stellte sie dieser Tage die vor zwei Jahren in der Knesset getroffene Aussage, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, in einer Rede vor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in direkten Zusammenhang mit der von ihr als besonders gelungen gelobten Integration jüdischer Zuwanderer aus der Sowjetunion. Man könne die Haltung ihrer Regierung in einem Satz zusammenfassen: "Die Stärkung des jüdischen Lebens in Deutschland und die Sicherheit des Staates Israel gehören zur deutschen Staatsräson" [1].

Was so selbstverständlich sein sollte wie die Stärkung des Lebens aller in diesem Land aus freier Entscheidung oder per Geburt wohnenden Menschen wurde von der Kanzlerin nicht nur einer jüdischen Staatsdoktrin unterworfen, die Nichtjuden benachteiligt und ausgrenzt, sondern auch in eine kulturelle Rangfolge gestellt, die hierzulande lebende Muslime als nur bedingt und unter Vorbehalt dazugehörig ausweist: "Doch die Moscheen ändern nichts daran, dass Deutschland christlich-jüdisch geprägt ist" [1]. Von der Vereinnahmung eines jüdischen Erbes, das in Deutschland über Jahrhunderte diffamiert wurde, bevor es die Nazis fast vollständig eliminierten, für ideologische Manöver, mit denen neue Feindbilder produziert werden, dürften nicht alle Adressaten der Rede Merkels erfreut gewesen sein. Zudem könnten sich in Deutschland lebende Juden, die in Opposition zur israelischen Besatzungspolitik oder zum Zionismus stehen, durch die Einbindung jüdischen Lebens in der Bundesrepublik in die programmatische Unterstützung der israelischen Regierungspolitik zurückgesetzt fühlen. Ebensowenig, wie es der Bundeskanzlerin darum zu gehen scheint, in Deutschland lebenden Muslimen den gleichen Respekt zu erweisen wie allen anderen Menschen, ebensowenig ist ihr betont freundliches Auftreten gegenüber jüdischen Bundesbürgern frei von dem paternalistischen Vorbehalt, diese nur dann zu akzeptieren, wenn sie die von ihr ausgewiesene ideologische Marschrichtung einschlagen.

Geert Wilders hat Angela Merkel lediglich beim Versuch, das rassistische Ressentiment zu nähren und sich dabei nicht erwischen zu lassen, einen Bärendienst erwiesen. Ansonsten hat er sie so treffsicher auf seiner Seite im antiislamischen Kulturkampf verortet, wie Merkel und Seehofer mit dem Bedienen naheliegender Feindbilder Machtinstinkt beweisen. Die von den Unionsparteien propagierte Leitkultur schwört die echten, sprich "Volks-"Deutschen", die laut Ministerin Schröder unter der Feindseligkeit falscher, weil ethnisch undeutscher Bürger zu leiden hätten, auf eine Nationaldoktrin ein, in der sich diese ethnische Dichotomie sozialrassistisch artikuliert. Letztlich kann es in einer Welt, die zu kontrollieren und beherrschen sich eine kleine Elite anhand der übergeordneten Kategorie des globalen liberalen Kapitalismus anmaßt, nicht wirklich um die Restauration des Nationalismus gehen. Dabei handelt es sich um ein massenwirksames Instrument von befristetem Nutzen, hinter dem ein globaler Klassenantagonismus aufscheint, dessen biologistische und kolonialistische Ausbeutungs- und Unterdrückungspraktiken kulturalistischer Signaturen nur so lange bedürfen, als das unmittelbare Überlebensprimat noch nicht zur unmittelbaren Vergesellschaftungsmaxime geworden ist.

Fußnote

http://www.welt.de/politik/deutschland/article10559216/Moscheen-aendern-christlich-juedische-Praegung-nicht.html

29. Oktober 2010