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HERRSCHAFT/1610: Wer braucht noch die SPD? - Als Garantin des Klassenkompromisses abgewirtschaftet (SB)



Wie die Katze um den heißen Brei schleicht die Sozialdemokratie um ihren Mitgliederschwund, den Offenbarungseid zu verdrängen, daß sie sich in der hiesigen Parteienlandschaft überflüssig gemacht hat. Die Vorgeschichte ihrer Kollaboration mit Staat und Kapital bis hin zur Interessenidentität ist lang und reicht zurück bis zum Hurrapatriotismus im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Auf die Preisgabe der Internationale folgten in der Weimarer Republik "Bluthund" Noske und Konsorten, die den Pakt mit den reaktionären Kräften gegen den linken Flügel der Arbeiterbewegung im Feuer der Gewehre besiegelten. In der Bundesrepublik dann das Godesberger Programm, in dem sich die SPD endgültig zur westlichen Gesellschaftsordnung und kapitalistischen Wirtschaftsweise bekannte, auf die sie ihre Klientel einschwor. Das nannte sich dann Volkspartei und schöpfte für eine gewisse Zeit massenhaft Wählerstimmen ab, womit sich die Sozialdemokratie in ihrem Glauben bestätigt sah, sie sei auf Dauer unentbehrlich, um die Arbeiterschaft und sonstigen kleinen Leute unter Kontrolle zu halten und der ungehinderten Verwertung zuzuführen.

Das sollte sich als historischer Irrtum der Sozialdemokraten erweisen, die in Regierungsbeteiligung ihre schwindende Anhängerschaft mit sozialen Grausamkeiten traktierten und Deutschland in Angriffskriege führten, während sie zugleich beteuerten, das geschehe zum Besten all jener, die sich den Gürtel enger schnallen müssen. Als sich die Linkspartei dort positionierte, wo die SPD seit Jahrzehnten nicht mehr war, setzte es kübelweise Hetze gegen Abtrünnige, Verräter und Kommunisten, als seien es nicht die Sozialdemokraten selbst gewesen, die alles verraten hatten, wofür ihre Altvorderen angetreten waren - sofern man wohlwollend unterstellt, daß diese politische Strömung je etwas anderes gewesen ist, als in ihrem finalen Stadium unübersehbar zu Tage tritt. Als schließlich die Grünen den Beweis antraten, daß sie viel zeitgemäßer und schneller als die erstarrende Sozialdemokratie denselben Prozeß der Einbindung und Umwidmung vormals unzufriedener Fraktionen der Gesellschaft vollziehen und im Unterschied zur SPD mit einem hoffnungsfrohen Entwurf aufwarten können, war es um die Partei geschehen, die das Rot in ihrem Emblem bis zur Profillosigkeit abgewirtschaftet hat, so daß die Wahlbürger rätseln, warum sie ihr überhaupt noch die Stimme geben sollen.

Nun ist die SPD zum ersten Mal seit gut 100 Jahren unter die Zahl von 500.000 Mitgliedern gerutscht, was den Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel auf einer Veranstaltung in Hamburg dazu bewog, den naheliegensten und mithin brisantesten Grund für diesen Schwund nach Kräften auszublenden. Er bestritt entschieden, daß womöglich immer weniger Bundesbürger in der Sozialdemokratie eine politische Kraft sehen, die ihre Interessen vertritt. Statt dessen schwadronierte Gabriel von der Zahl der Todesfälle, die beim dramatischen Mitgliederschwund seiner Partei besonders ins Gewicht falle. Nicht Austritte seien das Problem, sondern der Umstand, daß mehr Parteimitglieder verschieden als die SPD an Neuzugängen verbuche. Wie überaltert und damit für eine jüngere Generation zunehmend indiskutabel muß eine Partei sein, die das als Schutzbehauptung vorhält? Das Durchschnittsalter liege mittlerweile bei knapp unter 60 Jahren, wußte der Parteichef zu berichten. Das führe dazu, daß die Sozialdemokratie nicht mehr so nah an den Menschen sei, beklagte er euphemistisch die sich auftuende Kluft zwischen Partei und Bürgern: "Wir wissen nicht mehr so viel wie früher." Und "damit keiner denkt, das hätte was mit der 'Agenda 2010' zu tun. (...) Der Mitgliederverlust hat begonnen im Jahr 1976", [1] war Gabriel so peinlich bemüht, das Offensichtliche zu bestreiten, daß er eigenhändig den Finger in die Wunde legte.

Da dürfte es die SPD kaum trösten, daß sie mit ihren rund 495.000 Parteibuchmitgliedern im Mai zwar seit den siebziger Jahren mehr als eine halbe Million verloren hat, jedoch die CDU mit 500.387 Mitgliedern Ende April kaum besser dasteht und ebenfalls auf Talfahrt ist. [2] Während nämlich die Konservativen nicht vorzutäuschen brauchen, sie seien etwas anderes als konservativ - womit sie den rechten Rand des relevanten Parteienspektrums abdecken -, sind die Sozialdemokraten buchstäblich heimatlos und können durchaus ins Bodenlose abrutschen, die Wahlsiege in Hamburg und Bremen hin oder her.

Wie wenig Substantielles ein Parteivorsitzender der SPD zu sagen hat, unterstrich Gabriel mit einem scheinheiligen Rundumschlag gegen Merkel und Westerwelle, denen er wie der gesamten Bundesregierung eine "unmenschliche" Politik vorhielt. Damit lag er zwar nicht falsch, doch mußte er zwangsläufig den Nachweis schuldig bleiben, daß das nicht gleichermaßen für die Sozialdemokraten gilt. "Die da oben - wir hier unten, das ist das Gefühl vieler Menschen in Deutschland", suchte Gabriel Zuflucht in abgedroschenen Plattitüden. Die SPD müsse klarmachen, "dass wir einen Gestaltungswillen haben". Nichtssagender geht's nicht mehr, womit das Problem der Partei vor aller Augen auf dem Tisch lag. Ein Schaufenster müsse die SPD sein, in dem die Bürger attraktive Angebote entdeckten, reduzierte der Vorsitzende seine Partei auf ein Warenhaus, als seien politische Schnäppchen inzwischen die Ultima ratio, nachdem es längst kein Tafelsilber mehr zu verscherbeln gibt.

Da die SPD ihr Heil in Händlern sucht, ist sie sich nicht zu schade, mutmaßlich wankelmütige Kandidaten aus der Führungsspitze der Linkspartei abzuwerben. "Kommt zu uns, Genossen! Herzlich willkommen in der SPD", wandte sich Gabriel jüngst an jene, "die nicht nur Fundamentalopposition spielen, sondern wirklich etwas verbessern wollen". Selbst eine frühere Mitgliedschaft in der SED soll kein Hinderungsgrund mehr sein: "Ich wünsche mir, dass wir nicht jedem Straftäter mehr Resozialisierungschancen geben als jemandem, der mal in der SED war", revidierte der Vorsitzende ein ungeschriebenes Gesetz der SPD. Er umschmeichelte Dietmar Bartsch als "politisches Ausnahmetalent", das in den inneren Kämpfen seiner Partei "verschwendet" werde. Sich spröde gebend, aber nicht gänzlich abgeneigt erwiderte dieser: Die SPD sei zwar "im Moment nicht sonderlich attraktiv", doch "um mich dort hinzukriegen, müsste sich die Linke so entwickeln, dass es nicht mehr meine Partei wäre." [3] Na bitte!

Verführerisch lockte Gabriel sogar den Parteivorsitzenden Klaus Ernst, der nach langjähriger Mitgliedschaft 2004 aus der SPD ausgeschlossen worden war. Ernsts Werdegang sei der "eines engagierten Gewerkschafters, der sich in die Linkspartei verirrt hat". Dem hielt Fraktionschef Gregor Gysi entgegen, die "Hoffnung der SPD, dass sie ernst zu nehmende, wichtige Teile unserer Partei gewinnen kann", werde sich als falsch erweisen, womit er einräumte, daß mit Überläufern zu rechnen sei. Allerdings stellt sich die Frage, ob einem nicht das Wasser bis zum Hals stehen muß, wenn man ausgerechnet auf ein sinkendes Schiff wie die SPD überläuft.

Anmerkungen: [1] http://www.welt.de/politik/deutschland/article13399153/SPD-Mitgliederzahl-faellt-unter-eine-halbe-Million.html

[2] http://www.dernewsticker.de/news.php?title=SPD+verliert+weiter+Mitglieder&id=212623&i=hedbim

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/spd-chef-gabriel-umwirbt-linkspartei-kommt-zu-uns-genossen-1.1101803

28. Mai 2011