Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1620: 9/11 hat die Welt nicht verändert, sondern beherrschbarer gemacht (SB)



Was vor zehn Jahren nicht stimmte, trifft auch heute nicht zu. Der 11. September 2001 hat die Welt nicht verändert, dazu bedarf es mehr als eines gewaltsamen Impulses, auf den in den Bahnen vertrauter Orientierungen und Mechanismen reagiert wird. Die Welt zu verändern setzt einen revolutionären Akt voraus, der die Grundlagen herrschender Vergesellschaftung aufhebt und etwas Neues hervorbringt, für das es kein historisches Beispiel gibt. Die Aufhebung der Eigentumsordnung, die auch im Realsozialismus niemals vollständig gelang, die Beendigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Überlebens zu Lasten anderer Lebewesen im globalen Maßstab wären Veränderungen von so weitreichender Art, daß sie nicht umsonst als Utopien in den Bereich bloßen Wunschdenkens verbannt werden. Dies erfolgt allerdings nicht nur, weil das Unmögliche zu wagen denjenigen vorbehalten bleibt, die keiner Erfolgsgarantie bedürfen, weil jede Rückversicherung im Wortsinn zurückführt. Die Abwehr selbst machbarer solidarischer Praktiken durch die Moral des besseren Menschen frönt dem individuellen Überlebenskalkül als vermeintlich sichere Bank erreichbarer Vorteilsnahme und Erfolgsaussichten.

Was im klerikalen Absolutismus in ihr institutionialisiertes Gegenteil verkehrter religiöser Ideale zu Mord und Totschlag führt, ist ebensowenig dazu geeignet, eine vermeintlich epochale Zäsur wie die Anschläge des 11. September 2001 mit einer Erklärung zu versehen, die über eine angeblich äquivalent beantwortete spektakuläre Gewalttat hinausweist. Der Clash of Civilizations hat die ideologische Blockkonfrontation des Kalten Krieges als Paradigma imperialistischer Weltordnungskriege beerbt, weil die kulturanthropologische Verortung historischer Triebkräfte den Sozialkampf vollends aus dem Fokus politischer Entwicklungsmomente verbannen konnte. Seine religiöse und rassistische Konnotation verkürzt die Beweggründe kriegerischer Auseinandersetzungen auf den leicht vermittelbaren, da in naturwüchsiger Instinkthaftigkeit wie von selbst adaptierten Topos sozialdarwinistischer Ausschließlichkeit. "Wir oder die anderen" lautet das Leitmotiv jener Vergeltungslogik, die dem einzelnen auferlegt, sich für das Böse des Terrorismus oder das Gute der Freien Welt zu entscheiden. Um Freund und Feind kenntlich zu machen, kleidete der damalige US-Präsident George W. Bush den Bekenntniszwang des "langen Kriegs" in eine Kreuzzugsrhetorik, deren kulturkämpferischer Impuls bis heute fortwirkt.

Der 11. September 2001 hat die Welt nicht nur nicht verändert, er hat die dem kapitalistischen Weltsystem inhärenten Beharrungsmomente der Wertschöpfung um jeden Preis mit noch größeren Gewichten systemischer Gravitation versehen. Die Antwort auf die Anschläge hätte nicht in einer Kriegserklärung an alle Länder bestehen müssen, die angeblich Terroristen Zuflucht bieten, um über diesen Vorwand längst in den Schubladen liegende Pläne geostrategischer Reorganisation hervorziehen zu können. Sie hätte nicht die ideologische Form einer kulturalistischen Suprematie annehmen müssen, die den Werteuniversalismus des westlichen Zivilisationsmodells zur letztgültigen Wahrheit erhebt, um ihn als instrumentelle Dichotomie von Gut und Böse mit dem Ergebnis gegen sich selbst zu kehren, daß in seinem Namen größte Grausamkeiten begangen werden. Sie hätte nicht zur Dehumanisierung vermeintlicher Täter im Namen eines Feindstrafrechts führen müssen, das die Betroffenen entrechtet und in letzter Konsequenz als "feindliche Kombattanten" für vogelfrei erklärt. Sie hätte nicht die Verschärfung repressiver Vollmachten mittels einer prinzipiellen Vorverdächtigung als "Gefährder" oder "Terrorverdächtiger" bewirken müssen, die die Betroffenen der ohnmächtigen Situation unterwirft, sich der ihnen aufoktroyierten Beweislast nicht entledigen zu können, weil sie einer geheim agierenden Exekutive der Bezichtigung ausgeliefert sind. Sie hätte nicht die Normalität des Ausnahmezustands beschwören müssen, in dem dem Menschen - als potentielle Bedrohung informationstechnisch auf einen Datensatz kondensiert und damit selbst durch die Apparate der automatischen Risikoevaluation bedroht - jegliche humane Subjektivität ausgetrieben wird. Sie hätte nicht den dünnen Firnis demokratischer Verhandlungsräume mit machiavellistischen Ermächtigungsimperativen einengen müssen, die die massenmediale Konsensmaschine in sklavischer Ergebenheit gutheißen.

Als vermeintliche Ursache all dessen sind die in Planung und Ausführung niemals vollständig und zweifelsfrei aufgeklärten Anschläge des 11. September 2001 auf eine Weise überfrachtet, die belegt, daß die Hegemonie von Staat und Kapital dringend neuer Legitimation bedurfte. Zehn Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion und der realsozialistischen Staatenwelt, der daraus erwirtschafteten Denunziation des Sozialismus in all seinen Spielarten als diktatorischer bis massenmörderischer Irrweg und der Verabsolutierung des kapitalistischen Liberalismus zum Endpunkt der Geschichte waren die Zeichen des Niedergangs bereits unübersehbar. Was heute als Krise kapitalistischer Produktion und Reproduktion vollends auf die demokratische Legitimation der westlichen Staatenwelt durchschlägt, wurde vor zehn Jahren mit einer informellen Notstandsverordnung aufgefangen, die das exekutive Handlungsvermögen drastisch erweiterte. Über Jahre konnte der soziale Krieg zu einem Projekt staatlicher Sicherheit umdeklariert werden, ohne daß sich nennenswerter Widerstand gegen diesen offenkundigen Etikettenschwindel erhob.

Das Einschwören der westlichen Bevölkerungen auf eine Art Belagerungszustand im Weltbürgerkrieg stiftete kollektive Identität, wäre man doch gemeinsam durch einen angeblich rückständigen, von Neid auf die Freiheit zu größerem Konsum zerfressenen Islam bedroht. Der zum Patriotismus verklärte Nationalismus erlebte eine neue Blüte, deren Saat heute in dem sozialrassistischen Rechtspopulismus westlicher Kulturkrieger von Sarrazin bis Breivik aufgeht. Gleichzeitig wird der einzelne in ein immer engeres Überlebenskorsett gepreßt, so daß ihm schon von daher jeder Sinn für die herrschaftskritische Durchdringung der ihn nötigenden und zwingenden Verhältnisse ausgetrieben wird. Wo dennoch sozialer Widerstand geübt und den zugespitzten Widersprüchen gemäß radikale Positionen bezogen werden, greift das umfangreiche, im Terrorkrieg erprobte Arsenal der Überwachung, Einschüchterung und Verfolgung. Fast nahtlos wird das fadenscheinig gewordene Dispositiv terroristischer Bedrohung durch den ökonomischen Sachzwang der Marktlogik ersetzt, der auf der Bahn sozialrassistischer Kausalkonstrukte gegen den jeweils Schwächeren gewendet wird.

Die Kontinuität sozialer Kämpfe im neoliberalen Kapitalismus verweist die Anschläge des 11. September 2001 und ihre Nutzung als Initialzündung einer neuen Runde kriegerischer Weltordnungspolitik auf den Rang eines Glieds in der Kette administrativer Krisenregulation und dagegen gerichteter Widerstände. Die Überhöhung des Verlusts von 3000 Menschenleben und des Angriffs auf Symbole US-amerikanischer Macht zu einem singulären Ereignis ist einer Binnenperspektive geschuldet, die die eigene Individualität dermaßen privilegiert, daß Millionen namenlose Opfer von Krieg, Hunger und Armut dagegen zu zwar bedauerlichen, aber in der naturhaften Ordnung der Dinge unabdinglichen Kollateralschäden degradiert werden. Diese Suprematie in Frage zu stellen rechtfertigt denn auch Maßnahmen schwerwiegendster Art, wobei unerheblich ist, inwiefern die Anschläge tatsächlich aus den unterstellten Motiven erfolgten oder ganz anderen Interessen geschuldet waren. Die Aggressivität, mit der der massenmediale Komplex Zweifel am offiziell präsentierten Tathergang als Hirngespinste verblendeter Fanatiker stigmatisiert, allein dokumentiert, daß die Deutungsmacht imperialistischer Kriegführung und kapitalistischer Herrschaftssicherung nicht unangreifbar ist. Daß diese Zweifel erfolgreich gegen ihre Urheber gekehrt werden, ist allerdings auch der ungenügenden Analyse des zentralen gesellschaftlichen Konflikts geschuldet. Dieser Streit greift über die Immanenz bürgerlicher Legitimationsproduktion hinaus, indem die Machtfrage gestellt wird, anstatt die Antwort den Herrschenden zu überlassen.

7. September 2011