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HERRSCHAFT/1632: Wer ist der Anständigste im Land? Moralischer Sturm im Wasserglas (SB)



Der von allen im Bundestag vertretenen Parteien verabschiedete Entschließungsantrag gegen Rechtsextremismus ist nicht nur am Gehalt seiner Worte, sondern auch der politischen Praxis der sie unterschreibenden Akteure zu messen. Wer wollte schon Einwand gegen ein Deutschland erheben, "in dem alle ohne Angst verschieden sein können und sich sicher fühlen - ein Land, in dem Freiheit und Respekt, Vielfalt und Weltoffenheit lebendig sind". Die Realität sieht seit langem anders aus, und es gibt trotz der in ihrem rassistischen Charakter systematisch ignorierten und nun aufgedeckten Serie nazistischer Morde kein Anzeichen dafür, daß sich daran etwas ändert. Hehre Worte sind schnell gesprochen, insbesondere dann, wenn die konstitutiven Faktoren einer gesellschaftlichen Realität massiver sozialer Widersprüche nicht beim Namen genannt werden. Dies ist nicht nur einem blinden Fleck in der Wahrnehmung der Abgeordneten des Bundestages zuzuschreiben, sondern dem instrumentellen Charakter derartiger Appelle geschuldet.

Schon einmal hat eine Bundesregierung rassistische Anschläge zum Anlaß genommen, eine umfassende Kampagne gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu initiieren. Heute wird davon ausgegangen, daß das Attentat am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn vom 27. Juli 2000, bei dem zehn Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, auf das Konto des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds geht. Als dann am 3. Oktober 2000 ebenfalls in Düsseldorf ein Anschlag auf die Synagoge der Rheinmetropole verübt wurde, eilte Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Tatort, um im Beisein des NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und Bundesinnenministers Otto Schily den "Aufstand der Anständigen" auszurufen:

"Dies ist nicht eine Sache, die die politische Klasse allein anginge. Dies ist auch nicht etwas, das die jüdischen Gemeinden allein anginge, sondern das geht alle Menschen in Deutschland an. Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Und der Hinweis, ich bin nicht betroffen und ich denke ja auch gar nicht daran, so etwas gut zu finden, reicht nicht mehr aus. Was wir brauchen, ist ein Aufstand der Anständigen in Deutschland. Und ich weiß, daß das die übergroße Mehrheit ist."

Während sich erweisen sollte, daß der nur mit geringem Sachschaden erfolgte Brandanschlag von einem 19jährigen Palästinenser und einem 20jährigen Marokkaner begangen worden war, die ihre Tat mit an Palästinensern durch Israelis verübte Grausamkeiten begründeten, für die der Imperativ des Hinschauens nicht geltend gemacht wurde, waren sich die Spitzen von Staat und Gesellschaft einig im nützlichen Charakter des von ihnen demonstrativ in Szene gesetzten Antifaschismus. Streng begrenzt auf das Phänomen rechtsradikaler Gewalt blieb der "Aufstand der Anständigen" ein Paradebeispiel für zweckdienliche symbolpolitische Inszenierung. Es gab vieles, das man der rot-grünen Bundesregierung und den gesellschaftlichen Eliten zur Trockenlegung des "geistigen Sumpfes", den Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich heute als Inkubator mörderischer rechter Gewalt ausmachte, hätte raten können, nur bestand das Problem darin, daß dieser Sumpf eben nicht nur von erklärten Nazis bevölkert war und ist.

So hatten führende Regierungspolitiker wie Außenminister Joseph Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping die deutsche Beteiligung am Überfall der NATO auf Jugoslawien mit nämlichem Verdikt, nicht wegschauen zu dürfen, wenn schlimme Dinge geschehen, begründet. Was schließlich an unterstelltem Handlungsbedarf übrig blieb, konnte diese Aggression nicht nur nicht rechtfertigen, sondern belegte, daß die Bundesregierung ganz andere Gründe hatte, als einen angeblich bevorstehenden Völkermord zu verhindern, um mit kriegerischen Mitteln über ein Land herzufallen, das bereits einen großen Blutzoll bei seiner Eroberung durch den NS-Staat geleistet hatte. Fischer ging so weit, diesen Krieg als Wiedergutmachung für die Vernichtung der europäischen Juden durch Hitlerdeutschland darzustellen.

Drei Jahre nach der Eroberung Jugoslawiens und dem dritten Einmarsch deutscher Truppen, den das Land im 20. Jahrhundert über sich ergehen lassen mußte, wurde bereits auf Betreiben Schilys die Abschiebung der rund 30.000 jugoslawischen Roma, die als Bürgerkriegsflüchtlinge in der Bundesrepublik lebten, beschlossen. Selbst die für ihre vorbehaltlose Unterstützung der Kosovo-Albaner während des Jugoslawienkriegs bekannte Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) kam nicht umhin, den Abschiebebeschluß der Innenminister zu kritisieren:

"Die damals etwa 150.000 Roma/Aschkali/'Ägypter' wurden nach dem NATO-Einmarsch im Kosovo und der Befreiung der albanischen Mehrheitsbevölkerung von dieser durch schwerste Menschenrechtsverletzungen (Raub, Brandschatzung, Mißhandlungen, Folter, Totschlag, Mord, Entführung, Verschwindenlassen) zu 80 % aus dem Lande gejagt und von der NATO kaum geschützt. Nach Erhebungen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) vor Ort wurden 14.000 von 19.000 Häusern und 75 Siedlungen der Minderheit zerstört. Die meisten ihrer Grundstücke wurden von albanischen Nationalisten konfisziert, die Nichtgeflohenen in Ghettos zusammengedrängt, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt, ihr Schulbesuch und ihre medizinische Vesorgung in der Regel verhindert. Außerhalb ihres Ghettos werden Angehörige der Minderheit, meist durch dunkle Hautfarbe erkennbar, in vielen Städten und Dörfern des Kosovo von der albanischen Mehrheitsbevölkerung unflätig beschimpft, angegriffen, mißhandelt."

Das Wegschauen auch deutscher Besatzungssoldaten im Kosovo war zur Regel angesichts rassistischer Vertreibungen geworden, der die NATO mit deutscher Beteiligung den Weg geebnet hatte und von der die Roma, die bis zu 500.000 Holocaustopfer zu beklagen hatten, besonders hart getroffen wurden. Diese Vertreibungen fanden statt, während deutsche Spitzenpolitiker als wehrhafte Kämpfer gegen rechten Rassismus auftraten.

Die Regierung Schröder, dessen 1997 per Bild verbreitete Forderung "Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: Raus, und zwar schnell" vielen in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten noch schmerzhaft im Ohr klang, führte eine in der Kohl-Ära etablierte Flüchtlingsabwehr fort, deren Bilanz drei Jahre nach dem Beginn des "Aufstands der Anständigen" wenig Zweifel darüber ließ, daß es dabei jedenfalls nicht um die Nöte verfolgter Menschen ging. Unter dem Titel "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen - 1993 bis 2003" belegt die Antirassistische Initiative e.V. aus Berlin, daß innerhalb von zehn Jahren an deutschen Grenzen über 300 Flüchtlinge durch staatliche Maßnahmen ums Leben kamen, während 78 nichtstaatlichen Gewalttaten zum Opfer fielen. 145 Migranten starben bei dem Versuch der illegalen Einreise, davon 113 an der Ostgrenze. 121 Menschen nahmen sich aus Angst vor ihrer Abschiebung das Leben oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entgehen. 47 Insassen von Abschiebeknästen begingen aus Angst vor der drohenden Rückführung in die Länder, aus denen sie geflohen waren, Selbstmord. Fünf Flüchtlinge starben während ihrer gewaltsamen Abschiebung aufgrund der Mißhandlung durch das Begleitpersonal. Zehn Ausländer starben der Dokumentation zufolge durch abschiebeunabhängige Polizeimaßnahmen. Die Zehnjahresbilanz deutscher Flüchtlingsabwehr enthielt zudem eine mehrfach so hohe Zahl von Personen, die infolge der Anwendung staatlicher Gewalt mitunter schwere Verletzungen erlitten. 21 nach ihrer Abschiebung in ihre Herkunftsländer gewaltsam zu Tode gekommene Flüchtlinge und 361 Fälle, in denen aus der Bundesrepublik abgeschobene Personen von Polizei oder Militär mißhandelt und gefoltert wurden, sowie 57 spurlos verschwundene "Schüblinge" komplettierten das Bild einer zwar nicht - wie bei Nazis - ideologisch verankerten, aber in ihrer bürokratischen Normalität kaum minder grausamen Xenophobie.

Nicht einmal ein Jahr nach dem "Aufstand der Anständigen" kam mit den Anschlägen des 11. September 2001 in Deutschland eine massiv antimuslimische Stimmung auf, die durch den fremdenfeindlichen Charakter der Antiterrorgesetzgebung des Bundesinnenministers Schily zusätzlich geschürt wurde. SPD-Politiker wie der damalige niedersächsische Innenminister Heiner Bartling nutzten die Gunst der Stunde, um nicht nur lange vor seinem Genossen Thilo Sarrazin die angeblich "schleichende Islamisierung" des Landes in die Forderung münden zu lassen, Muslime hätten sich entweder anzupassen oder zu verschwinden, sondern um die linksradikale Opposition gleich mit in den Sack terroristischer Bedrohung zu packen. Das Schwert der Repression wurde von der rot-grünen Bundesregierung auf eine Weise geschärft, als hätte 9/11 im eigenen Land stattgefunden, und es richtete sich nicht nur gegen Muslime, sondern gegen alle Menschen, die in den Augen der Anständigen schlicht unanständig waren.

Schon 2003 hatten Journalisten der Frankfurter Rundschau und des Tagesspiegel in eigenen Recherchen 99 Fälle dokumentiert, in denen Menschen seit 1990 aufgrund rechtsextremer Motive getötet wurden. Das politische Motiv des Mordes an dem 17jährigen Marinus Schöberl, der 2002 von drei bekannten Nazis als "Jude" beschimpft und mit größter Brutalität ermordet wurde, weil er sich den Tätern zufolge die Haare blond gefärbt hatte und HipHop-Hosen trug, wurde von den zuständigen Behörden geleugnet und erst 2005 von der Bundesanwaltschaft attestiert. Gleichzeitig nahmen die Angriffe nazistischer Jugendlicher auf Menschen, die schlichtweg arm waren und auf der Straße lebten, zu. 2003 kam es in mehreren deutschen Städten zu Protesten von Bürgern gegen die Einrichtung von Obdachlosenasylen. Der mit großem Aplomb ausgerufende "Aufstand der Anständigen" hatte sich jedoch von vornherein auf rassistisch motivierte Taten beschränkt, was kein Zufall war, propagierte die rot-grüne Regierung doch eine neoliberale Politik, die Sozialdarwinismus und -chauvinismus schürte.

Mit der Agenda 2010 zeigten die aufgestandenen Eliten, daß ihre Verachtung nicht nur Nazis gilt, sondern alle Menschen trifft, die ihrem Anspruch auf produktive Verwertbarkeit nicht gewachsen erscheinen. So bezichtigte der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement Hartz IV-Empfänger pauschal des Leistungsmißbrauchs, was die Bundesagentur für Arbeit umgehend dementierte. Daraufhin verlagerte der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck die Stoßrichtung dieser sozialrassistischen Verunglimpfung auf den Bereich legal erworbener Ansprüche, indem er von Erwerbslosen im Leistungsbezug mehr "Anstand" verlangte, dürfe man doch aus den Sozialtransfers nicht "alles rausholen, was geht".

Anstand, wem Anstand gebührt, hätte man auch sagen können, als Otto Schily 2005 in einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der FDP erklärte, die Bundesministerien sähen "sich nicht in einer Kontinuität mit der ehemaligen nationalsozialistischen Vergangenheit", da alle Bundesregierungen "aufgrund demokratischer Wahlen gebildet worden" wären und daher kein Bedarf an "Aufarbeitung" bestehe. Fiese Nazis sind eben immer die anderen, und wenn sich unter den Herrenreitern der Ministerialbürokratie der frühen Bundesrepublik doch welche befunden haben sollten, dann wirkte die Demokratie Wunder und trieb ihnen die braune Gesinnung per Wählermandat aus. Schilys Totalabsolution widersprach schon damals historischen Erkenntnissen, was belegt, wie tiefgreifend der ideologische Wandel von links und rechts vonstatten geht, wenn der Standesdünkel den Ton angibt.

Mit dem angeblich "positiven Patriotismus" des Fußballjahres 2006 wurde dann der Deckel auf alle Zweifel, die nationalistische Parolen bis dahin noch erregten, geschoben. Wenn der Vorsitzende der Unionsfraktion Volker Kauder im Bundestag tönt, "Steh auf, wenn Du ein Deutscher bist, und nimm die Sache in die Hand", und im Überschwang des "fröhlichen Patriotismus" die Einführung eines regelrechten Arbeitsdienstes für Alg-II-Empfänger verlangt, denen man nicht einmal das Überlebensminimum ohne Gegenleistung zugestehen dürfe, dann weiß selbst ein Linker wie Gregor Gysi, was die Stunde geschlagen hat. Er reihte sich ein in die patriotische Einheitsfront und behauptete, hier entstünde "im Verhältnis zur eigenen Nation zum ersten Mal etwas Normales, Unverkrampftes, Souveränes". Die nationalistischen Anwandlungen des Fußballsommers waren quer durch alle Fraktionen salonfähig geworden. Wenn Fußballfans ein "völlig normales, unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Vaterland" hätten, wie Gysi gegenüber der taz behauptete, dann wollen auch linke Politiker keine Miesepeter sein. Daß er "in den Gesichtern der jungen Deutschen" zu sehen meinte, "dass sie sich anderen Nationen gegenüber weder überlegen noch unterlegen fühlen, sondern sehr gleich berechtigt", spiegelte sich in den kommenden Jahren in Hetztiraden gegenüber "Pleitegriechen" und dem breiten Zuspruch, den der SPD-Politiker Thilo Sarrazin für seine sozialrassistischen und islamfeindlichen Tiraden erhielt.

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, der als Schröders Kanzleramtsminister die Politik der rot-grünen Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet und einem sogenannten Terrorverdächtigen wie Murat Kurnaz mittelbar mehrere Jahre Folterhaft in Guantanamo beschert hat, donnerte heute im Bundestag im Furor gerechten Zorns: "Wenn jetzt überall nach dem Aufstand der Anständigen gerufen wird, dann sage ich, wir brauchen ersteinmal den Anstand der Zuständigen, und davon kann doch keine Rede sein." Im moralischen Poker macht den Genossen der Bosse eben so schnell keiner was vor, zumal dann nicht, wenn die Amnesie gegenüber der eigenen politischen Herkunft Grundvoraussetzung für die Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft ist.

22. November 2011