Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1661: Auf London folgt Rio - Sozialregulatives Regime im Zeichen der Ringe (SB)




"Rio wird von den Spielen für immer verändert werden" [1], kündigte Eduardo Paes, Bürgermeister der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro, seinen Landsleuten einen Brot durch Spiele ersetzenden Gewaltakt nach dem Vorbild Londons an. Der 42jährige küßte demonstrativ die ihm überreichte weiße Flagge mit den fünf Ringen und versprach eine "Wiedergeburt" der Sechsmillionenstadt. "Jetzt sind wir dran", jubelten Rios Fernseh- und Rundfunkmoderatoren wie auch die führenden Tageszeitungen, ohne der Doppeldeutigkeit dieser Aussage auch nur ein Quentchen Beachtung zu schenken. Angst hat man nicht etwa vor Londoner Verhältnissen, sondern im Gegenteil davor, an der Vorgabe des in der britischen Hauptstadt gesetzten hohen Standards allumfassender Verfügung zu scheitern.

Bei den Olympischen Spielen 2012 feierte die britische Klassengesellschaft auf beispiellose Weise Urständ, gelang es dem politisch-administrativ-kommerziellen Pakt der Eliten doch meisterhaft, die verelendete Mehrheit der Bevölkerung im allgemeinen und das rebellische Potential in den Armutsquartieren Londons im besonderen auszublenden, in Fesseln zu legen und zu knebeln. Eine Übermacht an Militär und Polizei verwandelte das Zentrum in einen Hochsicherheitstrakt, der ein erneutes Ausbrechen der letztjährigen Aufstände im Keim zu ersticken bereitstand. Während das offizielle Britannien in nationaler Selbstüberhöhung freudentaumelte und den Gästen aus aller Welt mit einer nahezu perfekten Inszenierung noch den letzten Rest Pseudokritik austrieb, legte man den massenhaften Opfern des Ausplünderungsregimes gnadenlos die Daumenschrauben an.

"Jene, die sich gegen unsere neuen Maßnahmen wehren, sind nur faule Menschen, die nicht hart arbeiten wollen", kommentierte Arbeits- und Rentenminister Ian Duncan Smith das kürzlich ergangene Urteil eines britischen Gerichts, wonach Workfare keine Zwangsarbeit sei. [2] Millionen Menschen werden gezwungen, sechs Monate lang unbezahlte Arbeit zu leisten, da ihnen im Weigerungsfall die Erwerbslosenunterstützung gestrichen wird. Privatkonzerne betreuen dieses System extremer Ausbeutung, mit dessen Hilfe sie ihre ohnehin zu Minimallöhnen beschäftigten Angestellten durch kostenlose Workfare-Arbeitskräfte ersetzen können. Sogar Gefängnisse profitieren inzwischen von einem vergleichbaren Verfahren, indem sie Häftlinge an Firmen vermieten, die dafür ihre Beschäftigten auf die Straße setzen.

Diese und andere soziale Grausamkeiten der spätkapitalistischen britischen Hochburg werden die brasilianischen Technokraten des Mangelregimes vermutlich ebenso wenig kopieren können wie jenes störungsfrei zelebrierte konsumistische Gaudium im Londoner East End. Auf den groben Klotz ihrer spezifischen Widerspruchslage von Luxus und Favela paßt indessen der grobe Keil brachialer Repression, mit der Rio de Janeiro für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016 zugerichtet wird.

Im Jahr 2008 rief die Stadtregierung Rios die "Rückeroberung" der Favelas aus, um für das Megaprojekt Olympia Platz zu schaffen und zugleich einen Verdrängungsprozeß zu Lasten der ärmsten Bewohner in Gang zu setzen. Kontrolle über die Ghettos zu erlangen steht seit Jahrzehnten auf der Agenda sozialregulativer Zugriffsentwicklung, die nun vor Ort mit der Markierung von Wohnstätten beginnt, die zum Abriß vorgesehen sind, und nicht vor dem vollständigen Verschwinden mehrerer Favelas enden soll. Brasilien plant bis 2016 mit Ausgaben von allein rund 16,6 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen - etwa anderthalbmal soviel wie London veranschlagt hat. Rio hatte die Spiele nur bekommen, weil eine Kumpanei zwischen Stadtregierung und Privatunternehmen in Aussicht gestellt wurde. Wo sich heute noch ein Armutsquartier befindet, soll der Olympiapark entstehen. Nach Ende der Spiele 2016 bleibt ein Viertel dieses Parks als Sportanlage erhalten, den Rest darf das Unternehmenskonsortium, das den Olympiapark für die Stadt errichtet, zu luxuriösen Wohnanlagen umbauen. [3]

Bezeichnenderweise spricht man in diesem Zusammenhang von einem nachhaltigen Konzept und bringt dafür auch den Umweltschutz als weiteres Argument in Stellung. Da die Favela Vila Autódromo nicht an das städtische Abwassernetz angeschlossen ist, fließen ihre Abwässer größtenteils in die Lagune von Barra da Tijuca. Diese zu reinigen hat Rio bei der Olympiabewerbung versprochen, und so plant die Stadtverwaltung, diese Säuberung mit der Entfernung der Favela zu verbinden. Angesichts des Widerstands der Bewohner dieses Viertels wurden gewisse Zugeständnisse wie etwa eine Umsiedlung in nahegelegene Wohnblocks gemacht. Im Vordergrund steht dabei jedoch der Zugriff auf das Quartier, die Spaltung der Bewohner, die Zerstörung sozialen Zusammenhangs und die Abspeisung mit Versprechen, die möglicherweise nie eingehalten werden.

Daß die "Rückeroberung" vieler Favelas nur unter erbitterten Kämpfen mit zahlreiche Opfern möglich sein würde, war den Strategen der Olympiabewerbung wohlbekannt, als sie gewaltfreie und sichere Spiele in der Metropole garantierten. Da Rio unter den Kandidatenstädten mit Abstand als die gefährlichste für Leib und Leben galt und Elendsquartiere in unmittelbarer Nachbarschaft der von Touristen meistfrequentierten Stadtteile liegen, waren innovative Strategien der Repression gefragt. Im Oktober 2009 löste die Erstürmung der Favela Morro dos Macacos ("Affenhügel") im Norden der Stadt durch Polizeikräfte noch heftige Gefechte aus, die Teile der Metropole wie ein Kriegsgebiet aussehen ließen. Vierzehn Menschen wurden getötet, am Himmel standen düstere Rauchwolken, während acht Busse in Flammen aufgingen, und über einem Armenquartier wurde ein Polizeihubschrauber abgeschossen. Dieses Bürgerkriegsszenario in einem Stadtteil, der keine zehn Kilometer vom berühmten Maracanò-Stadion entfernt liegt, in dem am 5. und 21. August 2016 die Eröffnungs- und Abschlußfeier der Olympischen Spiele stattfinden sollen, war damals weniger ein Ausnahmezustand, als vielmehr eine kurzfristige Eskalation der Normalität. Offiziellen Statistiken zufolge wurden in Rio jährlich rund 6.000 Morde verübt, lieferten sich Polizei und schwerbewaffnete Gegner fast täglich Schießereien.

Im November 2011 demonstrierte die Staatsgewalt mit einer der größten Polizei- und Militäreinsätze in der Geschichte Rio de Janeiros, wieviel sie unterdessen hinsichtlich ihres Vorhabens, der sogenannten Parallelgesellschaft in den Favelas ein Ende zu setzen, dazugelernt hatte. Bei der "Operation Friedensschock" wurden in einer Mischung aus Aufstandsbekämpfung und Propagandacoup ganze Favelas im Handstreich besetzt, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern. Möglich gemacht hatte dies die Taktik, die Besetzung vorab anzukündigen und die Zufahrten schon Tage vor der Operation scharf zu kontrollieren. Wer Gründe sah, sich besser aus dem Staub zu machen, suchte rechtzeitig das Weite, so daß niemand zurückblieb, der den anrückenden Invasionskräften Steine in den Weg legte. Bürgerkrieg, der nicht als solcher wahrgenommen wird - und das, obgleich alle Welt zusah, ob sich Rio nicht mit dem doppelten Sportspektakel grandios überhoben hat -, sollte unmißverständlich unterstreichen, wer Herr im Haus ist.

Die Stadtverwaltung hatte bei Staatspräsidentin Dilma Rousseff militärische Hilfe angefordert, die mit 18 Panzern und 200 Marinesoldaten auch umgehend gewährt wurde. So rückten rund 3.000 Soldaten und Militärpolizisten zu nächtlicher Stunde von Hubschraubern unterstützt in drei Favelas ein, in denen zusammengenommen bis zu 150.000 Menschen auf engstem Raum leben dürften. Tags darauf fuhren Einsatzkräfte in schwarzen Uniformen und schußsicheren Westen mit Maschinenpistolen im Anschlag auf offenen Pick-Ups durch die engen Gassen, während Panzer unter enormem Getöse umherrangierten. Die Lage sei ruhig und unter Kontrolle, teilte der Kommandant der berüchtigten Spezialtruppe Bope mit. Dieselben Polizeieinheiten, die wegen ihrer brutalen Überfälle, verübten Grausamkeiten und Etablierung repressiver "Schutzmacht" in den Armenvierteln verhaßt waren, traten als Befreier und Friedensstifter auf, um angeblich den Bewohnern ihr Territorium zurückzugeben.

In der zweitgrößten Stadt Brasiliens mit ihren mehr als sechs Millionen Einwohnern leben über 1,5 Millionen Menschen in mehr als 1000 Favelas. Die Regierung will über 100 Armenviertel unter ihre Kontrolle bringen, die als besonders gewalttätig gelten. Bis zur Weltmeisterschaft 2014 sollen die sogenannten "friedensstiftenden Polizeieinheiten" (UPP) in den Favelas aufgestockt werden. All das wurde von den deutschen Mainstreammedien lobend hervorgehoben, da es saturierten Bürgersinn allemal freut, wenn man den dubiosen Erwerbsweisen der Armen und ihren erbitterten Überlebenskämpfen mit Panzern in die Parade fährt. Sagenhafter Reichtum und entufernde Armut in unmittelbarer Nachbarschaft sind aus Sicht der herrschenden Klassen keineswegs ein Grundwiderspruch, den es aus der Welt zu schaffen gilt. Ausmerzen will man vielmehr jene Störfaktoren, die aus den Quartieren des Elends hervorbrechen und den Frieden konzentrierten Kommerzes beeinträchtigen könnten, der mit der Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016 die Taschen der Profiteure füllen soll. Mit harter Hand der Sicherheitskräfte wie auch ideologischer Herrschaftskonzepte von Nachhaltigkeit signalisiert man den Slumbewohnern, wer über die wirkmächtigsten Waffen wie auch die Legitimation ihrer Anwendung verfügt, die letzten Endes jeden Konflikt zu entscheiden in der Lage sind. Zugleich demonstriert man vor aller Welt, wie unbegründet die Sorge ist, Rio locke Besucher in eine unwägbare Gemengelage sozialer Auseinandersetzungen. Sport soll schließlich friedlich zelebriert werden, freigehalten von mißlicher Konfrontation mit den Hungerleidern.

Fußnoten:

[1] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1350439

[2] http://www.jungewelt.de/2012/08-13/016.php

[3] http://www.taz.de/Olympia-2016-in-Rio/!99337/

14. August 2012