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HERRSCHAFT/1702: Schattenwurf DDR - Untote leben länger (SB)




Die kurz vor dem 3. Oktober vielbeschworene Einheit ist national und nicht sozial verfaßt. Beides paßt nicht unter einen Hut, denn der Begriff der Nation ist so abstrakt, wie die sozialen Widersprüche, die unter seinem Mantel unsichtbar gemacht werden, konkret sind. Die DDR wird nach wie vor dringend benötigt, um all das unter ihrem Schattenwurf zu begraben, was an erster Stelle des gesellschaftlichen Streits zu stehen hätte, wenn es für diesen noch einen emanzipatorischen, über das bloße Ringen um den eigenen Anteil am Gesamtprodukt hinausgehenden Anlaß gäbe.

Um der sozialen Frage noch im Vorwege ihrer Artikulation die Stimme zu nehmen, muß die DDR als "Unrechtsstaat" stigmatisiert und in der Gänze auch ihrer sozialen Errungenschaften negativ bilanziert werden. Dazu werden Vorwürfe zur Brutalität staatlicher Herrschaft und dem Scheitern ökonomischer Entwicklung erhoben, deren Gültigkeit nur Bestand haben kann, wenn sie jedes historischen und politischen Zusammenhangs enthoben werden. Hier leistet die Totalisierung neoliberaler Marktlogik als Fundament eines Freiheitsbegriffs, der in erster Linie das Recht auf private Aneignung des Produkts gesellschaftlicher Arbeit meint, unersetzliche Dienste, um den Anschluß der DDR an die BRD als alternativlose Notwendigkeit darstellen zu können. Zwar wird Freiheit noch in den Kontext von Demokratie gestellt, doch analysiert man die Reden der Bundeskanzlerin, schaut in den Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierung oder wertet die aktuellen Debatten um das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) aus, dann übertrumpft der Primat des Wettbewerbs und des Marktes alles, was gerade auf diesen Feldern nach demokratischem Widerstand verlangt.

Nicht darauf zu blicken, daß die Zweistaatlichkeit Deutschlands Folge der Verwüstung Europas durch das NS-Regime war, heißt eben auch, den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus zu ignorieren, den selbst die CDU noch im Ahlener Programm 1947 anerkannte. Die Einbindung der BRD in die antikommunistische Front des Kalten Krieges förderte die langfristige Existenz zweier deutscher Staaten mindestens so sehr wie die Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR nach Maßgabe der SED. War deren Herrschaft am revolutionären Konzept der Diktatur des Proletariats orientiert, so herrschten in der BRD Kapital- und Funktionseliten, die sich auf ein Entwicklungsmodell beriefen, das in der sozialdarwinistischen Marktkonkurrenz und dem autoritären Krisenmanagement der Arbeitsverwaltung ihre logische Fortsetzung nach dem Ende der Blockkonfrontation nahm.

Wurde in der DDR mit autoritären Mitteln die Herrschaft der Arbeiter und Bauern durchgesetzt, so wurde die kapitalistische Vergesellschaftung der BRD mit massenmedialer wie sozialtechnokratischer Widerspruchsregulation als auch repressiven Mitteln vorangetrieben. Gegen Kommunisten gerichtete Berufs- und Parteiverbote, die Einführung der Notstandsgesetze und diverser Sondergesetze bis hin zum Gesinnungsstrafrecht nach Paragraph 129 a, die Aufstellung bewaffneter Kräfte zur Aufstandsbekämpfung in Form des Bundesgrenzschutzes, die Remilitarisierung im Rahmen einer NATO, die die Hegemonie einer Staatenwelt sichern sollte, deren führende Akteure eine blutige Bilanz kolonialistischer und imperialistischer Kriege aufweisen, ein Rechtssystem, das Privateigentum weit höher schätzt als die sozialen Rechte der Mittellosen, all das nicht selten erwirkt durch gewendete Nazis, die in ebenso großer Zahl unter den Eliten der BRD vertreten waren, wie sie in der DDR durch Abwesenheit glänzten - die zu Lasten eines seit fast einem Vierteljahrhundert verschwundenen Staates gehenden Systemvergleiche können nur zum Vorteil der herrschenden Definitionsmacht gereichen, wenn vieles ausgelassen und uminterpretiert wird.

Die Legitimation beider deutscher Staaten auf die Gleichung Rechtsstaat versus Unrechtsstaat zu reduzieren, um das Aufgehen des letzteren im ersteren als Wiederherstellung nationaler Einheit zu feiern, nährt einen Mythos, dessen Wirkmächtigkeit gerade darin besteht, die Brüche und Verwerfungen klassengesellschaftlicher Art nicht auf den Begriff ihrer notwendigen Aufhebung zu bringen. Ein Land, in dem ein leitender Angestellter als Unternehmenschef durchschnittlich 147mal so viel verdient wie ein vollzeitbeschäftigter Lohnabhängiger, dessen materielles Eigentum sich in immer weniger Händen konzentriert, das Millionen Menschen dazu nötigt, ihre aus Gründen, für die sie nicht verantwortlich sind, nicht mehr verwertbare Arbeitskraft einem Zwangsregime zu unterwerfen, das grundlegende demokratische Freiheiten außer Kraft setzt, das weniger leistungsfähige Volkswirtschaften im globalen Wettbewerb mit dem Ergebnis umfassender Aneignung ihrer sozialen und ökonomischen Besitzstände niederkonkurriert, hat allen Grund, sich dieser Debatte nicht zu stellen.

Das gilt auch und gerade im Verhältnis zur "ehemaligen" DDR, sprich der Bevölkerung dieses nicht nur aus deren Ermächtigung, sondern durch massive Einflußnahme der BRD-Regierung untergegangenen Staates. Es ist längst erwiesen, daß die Abwicklung der volkseigenen DDR-Wirtschaft nach Maßgabe einer Schockdoktrin und Radikalreform erfolgte, die sie nicht überleben konnte. Ihr produktives Potential wurde willkürlich einem Weltmarkt preisgeben, auf dem nicht wettbewerbsfähige Unternehmen ruiniert oder vereinnahmt werden. Nicht die Herstellung angemessener Lebensbedingungen war die Absicht der BRD-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl, sondern die unumkehrbare Durchsetzung des eigenen Gesellschaftssystems und die Erschließung neuer Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten, die sich aus der schlagartigen Öffnung der DDR und der osteuropäischen Staatenwelt für Unternehmen und Banken ergaben, die dringend neuer Expansionsmöglichkeiten bedurften.

Als die Bundesbank 1990 die Staatsschulden der DDR bilanzierte, kam sie auf eine Summe von 11,7 Milliarden Euro, ein mit nicht mehr als 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Verhältnis zur heutigen Auslandsverschuldung der BRD lächerlich geringer Betrag. Den Verbindlichkeiten des DDR-Staatshaushaltes standen Spareinlagen der Bevölkerung in Höhe von 19 Milliarden Euro gegenüber, was dem Ökonomen Siegfried Wenzel zufolge eine Pro-Kopf-Verschuldung von 3625 DM für die DDR-Bürger im Vergleich zur damaligen Pro-Kopf-Verschuldung der Bundesbürger in Höhe von 15.000 DM ergab. Heute beträgt diese Summe 26.000 Euro pro Bundesbürger, und das nicht etwa als Ergebnis sogenannten Marktversagens, sondern eines politisch bestimmten Kredits, mit dem die Bundesregierung die herrschenden Verfügungsverhältnisse zu Lasten des Gros der Bevölkerung sicherstellt. Da selbst die angebliche Freiheit des Marktes dem politischen Willen des Staates unterworfen wurde, wird der Rest dessen, was den Menschen noch nicht an demokratischer Selbstbestimmung genommen wurde, zum Tag der deutschen Einheit um so angestrengter an den demokratischen Mängeln der DDR bemessen.

Der bis heute verbreiteten Ansicht, man habe einen Gutteil der Wirtschaftskraft der BRD über die frühzeitige Einführung der DM in der DDR, die Übernahme der Staatsschulden und Ausgleichszahlungen in den Osten transferiert, stehen die exorbitanten wiedervereinigungsbedingten Gewinne der westdeutschen Wirtschaft, der Transfer von etwa 1,5 Millionen gutausgebildeten Fachkräften von Ost nach West und die allein von der DDR bestrittenen Reparationen für die gigantischen Zerstörungen, die die Wehrmacht in der Sowjetunion angerichtet hat, auf eine Weise gegenüber, daß dieses Verhältnis wenn nicht als Nullsummenspiel, dann als Nettogewinn für die Kapitalmacht Westdeutschlands bilanziert werden kann. Deren korporative und dynastische Kontinuität zeigte sich auch in der schnellen Umverteilung des Volksvermögens der DDR. 1999 befanden sich nur 5 Prozent des Industrievermögens in ostdeutschen Händen, während 10 Prozent in ausländischen und 85 Prozent in westdeutschen Besitz gelangten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Die angeblich an zu geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gescheiterte Planwirtschaft der DDR braucht sich vor einem Kapitalismus, der die allgemeine Überschuldung zur Diktatur der Gläubiger über die Lohnarbeit und die Lebensgarantien nicht erwerbsfähiger Menschen ausgebaut hat, heute weniger denn je zu verstecken. Um das sozialistische Gedankengut rückstandslos zu entsorgen, fand ein programmatischer Elitenwechsel in den neuen Bundesländern statt, der nicht nur Ämter und Behörden betraf. Laut einer aktuellen Untersuchung befinden sich lediglich vier Ostdeutsche unter den 182 Vorstandsmitgliedern der 30 deutschen DAX-Unternehmen. Obwohl die großen Unternehmen der BRD massiv von der Abwicklung der DDR durch die Treuhand profitiert haben, hat bis heute keiner der Industrie- und Finanzkonzerne seinen Hauptsitz nach Ostdeutschland verlegt. Das Gebiet bleibt auch 24 Jahre nach Anschluß an die BRD von der geringeren Größe der Betriebe, dem weit niedrigeren Lohnniveau, der höheren Arbeitslosigkeit und der weit geringeren Innovationstätigkeit bloße Peripherie der hochproduktiven westdeutschen Standorte. Die Ex-DDR fungiert als deren nachgeordnete Filiale und zuarbeitende Werkbank mit dementsprechend geringeren Möglichkeiten der Einflußnahme auf unternehmens- und strukturpolitische Entscheidungen. [1]

So stellt der delegitimierende Rückblick auf die DDR im Kern die zukünftige Legitimation eines Staates sicher, der in seinem Streben, ein imperialistischer Akteur von Weltrang zu werden, an einer wachsenden Zahl von Glaubwürdigkeitsverlusten laboriert. So einschränkend das staatliche Verbot bestimmter Auslandsreisen war, so betrifft es heute wieder Millionen von Menschen, die sich keine Urlaubsreisen leisten können, ganz zu schweigen von der faktischen Residenzpflicht der Empfänger von Hartz IV, die vor dem Verlassen ihres Wohnortes bei der zuständigen Arbeitsagentur eine Genehmigung einholen müssen. Zwischen je nach Opferbegriff und Zählweise 270 bis 1000 bei dem Versuch der sogenannten Republikflucht ums Leben gekommene Menschen sind ein tragisches Ergebnis der Ost-West-Konfrontation und in jedem Fall inakzeptabel. Sie zum Dreh- und Angelpunkt der Delegitimierung der DDR zu machen in Anbetracht des von der BRD mitzuverantwortenden EU-Grenzregimes, das fast täglich Leben kostet, um nur ein Beispiel für die tödlichen Folgen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu nennen, kann auf die Dauer wenig überzeugen. Das gilt erst recht für das schwere ideologische Geschütz der Gleichsetzung der DDR mit Hitlerdeutschland, wobei man sich eine Verharmlosung der Judenvernichtung durch das NS-Regime leistet, die den aggressiven Antikommunismus dort verortet, wo er ideologisch hingehört.

Die Beteiligung der Bundeswehr beim Überfall der NATO auf Jugoslawien ist ein typisches Produkt dieser groben Schwarz-Weiß-Malerei. Aktive Wiedergutmachung sähe eigentlich anders aus, das gilt auch für die Griechenland vorenthaltenen Entschädigungszahlungen, die dem Feindbild angeblich fauler und betrügerischer Griechen zum Opfer gefallen sind. In der Ukraine eine von militanten Faschisten gestützte Regierung zum wünschenswerten Ergebnis des Exports eigener Freiheit zu erklären, ohne die maßgeblich mit dem Ende der DDR und Sowjetunion verknüpfte Osterweiterung der NATO und den eigennützigen Charakter der Östlichen Partnerschaft der EU in diesem Kontext zu erwähnen, erklärt ebenfalls, warum die DDR in der Geschichtspolitik der BRD ein untotes Leben als Legitimationsproduzentin führen muß. Ihre Fortdauer als eigenständiger Staat, womöglich mit einem sozialistischen Gegenentwurf zur BRD ausgestattet, der die repressiven und regressiven Mängel ihrer Führung überwunden hätte, war schlicht ausgeschlossen. Eine solche DDR hätte fast allem, was die Berliner Republik seitdem in Sachen Kriegführung, Ostexpansion und EU-Hegemonie betreibt, im Wege gestanden.


Fußnoten:

[1] Jörg Roesler: Ostdeutschland seit 1990. Vom sozialistischen Industriestaat zur verlängerten Werkbank im Hauptland des europäischen Kapitalismus. Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 99, September 2014

zum Thema siehe auch

REZENSION/551: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik - Deutsche Zweiheit ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar551.html

2. Oktober 2014