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HERRSCHAFT/1717: Winterskälte im Land des "Sommermärchens" (SB)



"Positiver Patriotismus" - so wurde der gesellschaftspolitische Ertrag des nun in Mißkredit geratenen "Sommermärchens" 2006 genannt. Vermeintlich von den Schlacken nationalistischen Ressentiments wie Krieg und Rassismus befreit, wurde auf den Partymeilen der Republik gejubelt und gefeiert, als seien die langen Schatten des Gestern umstandslos durch die Morgenröte einer besseren Zukunft getilgt. Die Fußball-WM in Deutschland wurde, massenwirksam durch Kulturindustrie und Politik orchestriert, als Befreiungsschlag der angeblichen Normalisierung deutscher Befindlichkeiten zelebriert, und niemand sollte widersprechen. Die hessische GEW, die anfangs allein auf weiter Flur Kritik an der systematisch angeheizten Aufwallung nationalistischer Gefühle geübt hatte, entschuldigte sich öffentlich dafür, dies zum falschen Zeitpunkt getan zu haben. Fußballdeutschland wollte ungestört feiern, und wer sich angesichts der sattsam bekannten Schattenseiten solcher Formen der Massenmobilisierung zum Bedenkenträger aufschwang, wurde entweder ignoriert oder öffentlich als Miesmacher gemaßregelt.

Schon der vereinnahmende Charakter dieser Stimmungsmache warf den Schatten ihres feindseligen Niederschlags voraus, der heute in der weithin akzeptabel gewordenen Demagogie gegen Migration und Flucht kondensiert. Ein Herold dieser vermeintlich allein sportlichem Erfolg und Frohsinn geschuldeten nationalen Erhebung wie der Unionsfraktionschef Volker Kauder tönte im Bundestag: "Steh auf, wenn Du ein Deutscher bist, und nimm die Sache in die Hand" [1]. Das richtete sich nicht zuletzt an erwerbslose Menschen, zu deren mangelgestützter Disziplinierung er kurz zuvor gefordert hatte, Arbeitslosengeld II nur als Gegenleistung für unbezahlte Arbeit zu gewähren, damit die Leistungsempfänger nicht "sinnlos herumgammeln" [2]. Sein CSU-Kollege Stefan Müller lief in überschwenglicher Partylaune zu autoritärer Höchstform auf und verlangte in der Bild-Zeitung nach der Einführung eines staatlichen Arbeitsdienstes. Selbst wenn es nichts Sinnvolles für die Leistungsempfänger zu tun gebe, müßten sich "alle arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen (...) jeden Morgen bei einer Behörde zum Gemeinschaftsdienst melden", um dort "zu regelmäßiger, gemeinnütziger Arbeit eingeteilt" zu werden, und zwar "acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag" [3].

Selbst einige Linke wollten nicht abseits stehen und verweigerten sich der naheliegenden Einsicht in den instrumentellen Charakter des "positiven Patriotismus" für die reaktionäre Behandlung der sozialen Frage. So diagnostizierte Gregor Gysi in der taz [4] bei der eigenen Generation ein "gestörtes Verhältnis zur nationalen Frage" und verordnete ihr, "einfach mal den Mund" zu halten. Ein Jürgen Elsässer lief sich in der jungen Welt schon einmal warm für seine Karriere als rechter Volkstribun, indem er die GEW dafür abstrafte, "alles getan" zu haben, "um die Vorurteile über Linke zu bestätigen", und der Fußball-WM 2006 attestierte, sie sei "bisher eine einzige Party, und obwohl die deutschen Städte so intensiv geflaggt sind wie zuletzt 1943, zeigen sich die Landsleute von ihrer freundlichsten Seite".

Wie im Grimmschen Märchen sollte auch das "Sommermärchen" von Königen und Knechten, von Herren und Sklaven bevölkert werden, also Ausdruck realer gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse sein, allerdings eingetaucht in die besinnungslose Affirmation all dessen, was zuvor noch zur Austragung sozialer Konflikte Anlaß gegeben hatte. So, wie die hohe Temperatur des Deutschlandfiebers von Politik und Medien als überfällige Korrektur eines "gesunden" nationalen Selbstverständnisses gefeiert wurde, so nährte die nationale Emphase den Widerwillen gegen das "kranke" Element des arbeitsscheuen Sozialbetrügers. Als wiederverwendungsfähige Folie zweckdienlicher Feindbildproduktion wird er spätestens dann wieder an der Reihe sein, wenn die derzeit im Mittelpunkt der Anfeindung stehenden Geflüchteten mit handlungsleitender Konsequenz in eine nützliche Reservearmee für unterbezahlte Lohnarbeit oder abzuschiebende Elendsexistenzen eingeteilt wurden.

Der spätestens seit 1990 virulente Normalisierungsdiskurs, der die deutsche Hegemonialstellung in der Maastricht-EU legitimierte, die angeblich aufgrund pogromartiger Angriffe auf Flüchtlinge erfolgte Aufkündigung des Asylrechtes 1993 flankierte und den deutschen Imperialismus 1999 im Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien erneuerte, wurde 2006 als offene Bekräftigung des neuen Nationalismus manifest. In der laufenden Dekade der Krise des Kapitals bildet dieses Selbstverständnis das Fundament einer Politik der Krisengewinner, der demokratische wie humanistische Ansprüche zusehends im Weg stehen. Die Adressierung der sogenannten Flüchtlingskrise als Ursache für eine soziale Malaise, die die Armen der Republik seit Jahren vor sich hertreibt und deren Not nun auf nationalistische Weise gegen andere Notleidende in Stellung bringt, belegt den sozialdarwinistischen Charakter jeglicher "Leitkultur", hinter der sich die Bevölkerung zu versammeln hat.

So erweist sich, daß die programmatische Ansage, der neue Patriotismus müsse ein positiver sein, seinen verwerflichen Schattenwurf nicht nur im Schlepptau hatte, sondern absehbar hervorbrachte. Im Kern geht es darum, die soziale Frage repressiv zu beantworten und die Bevölkerung dazu zu bringen, die ihr aufgeherrschten Imperative der Leistungs- und Anpassungsbereitschaft als ersehnten Schutz vor den näherkommenden Verteilungskämpfen globaler Mangelproduktion gutzuheißen. Daß diese Doktrin nicht weiter weg führen könnte von allen Formen sozialistischer Vergesellschaftung, ist der tiefere Sinn des Schürens einer Existenzangst, die der herrschende Klassenantagonismus seit jeher erzeugt.

Was also bleibt vom "Sommermärchen", das nicht genrespezifischer Phantasterei zuzuschreiben ist? Es ist die trügerische Hoffnung auf einen Klassenkompromiß, dessen letzte Stunde spätestens mit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 geschlagen hatte. Seit die dafür aufgebrachten Sozialkosten direkt in die Profitproduktion eingespeist werden, sind staatstragende Symbolpolitik und nationalistische Eventkultur die Mittel der Wahl, um die Bevölkerung bei Stange ihrer Verfügbarkeit und Ausbeutbarkeit zu halten. Die Kosten-Nutzen-Ratio des in der WAZ [5] angestellten Rettungsversuches trifft mithin in einem allerdings anders als intendierten Sinne vollständig zu, wenn es heißt: "Das WM-Turnier mag vielleicht auf schmierige, auf verabscheuungswürdige Weise nach Deutschland gelangt sein, das Sommermärchen aber war unbezahlbar".


Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/06/22/a0172

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/hartz-iv-kauder-will-arbeitslose-akademiker-zur-feldarbeit-einsetzen-a-418855.html

[3] http://www.spiegel.de/wirtschaft/csu-idee-politiker-fordert-zwangsdienst-fuer-hartz-iv-empfaenger-a-421307.html

[4] http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/06/22/a0160

[5] http://www.derwesten.de/sport/fussball/das-sommermaerchen-war-unbezahlbar-id11273722.html

12. November 2015


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