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HERRSCHAFT/1720: Im Labyrinth der Spaltungsstrategien - Zerrspiegel AfD (SB)



"Volkes Stimme oder Brandstifter - Spaltet die AfD die Gesellschaft?" Die unterstellte Einheit einer Gesellschaft, deren Polarisierung lediglich sichtbar macht, was ihren Betrieb seit eh und je sichert, ist in ihrer dualistischen Enge nicht minder populistisch als das, womit die AfD in offen rechter Gesinnung um Anhänger wirbt. Die einer Diskussionssendung im Deutschlandfunk [1] vorangestellte Frage ist exemplarisch für die unüberprüfte Annahme, diese Gesellschaft sei von vornherein so homogen, daß ihr ein um die Verteilung des vorhandenen Wohlstands entbrannter Streit nur schaden könne.

Dabei ist dieser Streit permanent im Gange, wie die bis in die kleinste soziale Zelle hineinreichende und dort bis zu offener Feindseligkeit ausgetragene Überlebenskonkurrenz beweist. Die sozialdarwinistische Matrix des neoliberalen Kapitalismus kennt nur Arbeitskraftunternehmer, die sich gegen den anderen Menschen am Markt der Lohnarbeit behaupten, oder Leistungsempfänger, die mit allen Mitteln sozialer Diffamierung auf den Boden bloßer Bittsteller gedrückt werden. Treten, wie im Fall der angewachsenen Zahl in die Bundesrepublik geflüchteter Menschen, neue Konkurrenten um Arbeitslohn und Sozialversorgung auf, dann wird dieser Besitzstand mit einer Vehemenz verteidigt, die jeden Rechtsanspruch negiert, der sich nicht als Zugehörigkeit zu einer nationalen Notgemeinschaft kenntlich macht.

Die von der AfD eröffnete Front, der etablierten Politik im allgemeinen und Bundeskanzlerin Angela Merkel im besonderen den Kampf anzusagen, zehrt von dem gleichen Fleisch nationaler Zugehörigkeit, von dem sich die Zustimmung zu den in Bundestag und Regierung etablierten Parteien nährt. Auch ihre Stellung ist an den Erfolg des Standortes Deutschland, der dank des Euros vom krisenhaften Niedergang EU-europäischer Volkswirtschaften ebenso profitiert wie von dem globalen Produktivitätsgefälle, das den deutschen Kapital- und Güterexport auf dem Weltmarkt ungleich profitabler macht als die Ressourcen- und Rohstoffökonomien des globalen Südens, gebunden. Daß die ökonomischen Gewaltverhältnisse, die für den einzelnen Menschen den Unterschied um ein Leben in relativem Wohlstand, ein Dasein am Rande akuter Not oder den Tod durch Hunger oder andere Formen der Unterversorgung ausmacht, nach wie vor nationalstaatlich verfaßt sind, drückt sich derzeit am deutlichsten in der Forderung nach Festlegung einer Obergrenze der Zahl in die Bundesrepublik flüchtender Menschen aus.

Demgegenüber eine internationalistische Position einzunehmen und den Kampf gegen die nationale Oligarchie stellvertretend für die notleidenden Objekte ihres Verwertungsinteresses in anderen Ländern zu führen, ist aus denselben Gründen unattraktiv, aus denen sich die Zustimmung zur Nation und deren Verteidigung gegen die Hungerleider der Welt wachsender Beliebtheit erfreut. Eine aktive Solidarität, die in der Positionierung gegen Staat und Kapital über die humanitäre und karitative Flüchtlingshilfe hinausgeht, stellt ihre Subjekte so eindeutig außerhalb des Konsenses nationaler Besitzstandswahrer, daß sie mit nichts als Feindseligkeit und Repression zu rechnen haben. Die Sachwalter des Modells Deutschlands hingegen können zumindest darauf hoffen, daß sich die imperialistische Nachsorge, den von Krieg und Armut gezeichneten Opfern eigener Reichtumsproduktion wenn schon nicht die Tür zu weisen, sie doch zumindest als Mitbewerber am Arbeitsmarkt zum Zwecke weiterer Kostensenkung einzusetzen, sogar als Glücksfall für die Steigerung des nationalen Gesamtproduktes erweisen könnte.

Dies gelingt um so besser, als die Strategie der sozialen Spaltung auf einen Boden fällt, auf dem nicht nur die giftigen Früchte des Rassismus und Sozialchauvinismus gedeihen, sondern auch die militärischen Optionen im weltweiten sozialen Krieg auf immer mehr Akzeptanz treffen. Die von Pegida und AfD betriebene Personifizierung der unter Menschen, die von Ängsten vor dem sozialen Abstieg umgetrieben werden, anwachsenden Aggression wird von den etablierten Parteien vor allem dadurch aufgefangen, daß sie das gemeinsame Anliegen der liberalen und weltoffenen Gesellschaft als ökonomisches Erfolgsmodell propagieren. Daran teilzuhaben setzt allerdings die Unterwerfung unter die Imperative ihrer Klassenordnung voraus, doch macht die Zugehörigkeit zu einer im globalen Vergleich privilegierten Gesellschaft auch diese Erniedrigung wett. An Herrschaft sind auch die Beherrschten beteiligt, zumindest solange sie den Eindruck haben, dieser Pakt sichere ihnen eine privilegierte Stellung gegenüber anderen Hungerleidern.

In dieser Hackordnung erfüllt die mit den demagogischen Ansagen der neuen rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Bewegungen Einzug haltende Verrohung im Umgang miteinander eine produktive, die vertikale Ordnung der Gesellschaft zementierende Funktion. Die Linie des Widerspruchs verläuft nicht zwischen der Alternative "Volkes Stimme oder Brandstifter", als sei das erste eine genuine Willensbekundung des nominellen Souveräns und das zweite die verwerfliche Demagogie neuer Volkstribune. In diesem Verhältnis ergänzen sich neurechte Feindbildproduktion und neoliberale Hegemonialpolitik zur Reorganisation einer Arbeitsgesellschaft, deren Reichtum bereits verteilt wurde, so daß die Frage, wer für ihre Schulden geradezustehen hat, rein rhetorischer Art ist.

Solange die Gläubiger den Preis und die Bedingungen der Arbeit bestimmen, ist dem Lohnabhängigen durch eine Abschottung der Bundesrepublik nach außen kaum gedient. Da der in der Bundesrepublik konzentrierte Reichtum das Produkt der expansiven Strategien des hierzulande ansässigen Kapitals ist, das seine weltweite Reichweite nicht ohne die globaladministrative Ordnungspolitik und die Kriegführung des EU-Hegemons realisieren könnte, birgt die Renationalisierung Deutschlands das erhebliche Risiko des Verlustes dieses Einflusses. Merkel ist ihrem Erfolgsrezept, den Einfluß der Bundesrepublik durch ihre führende Stellung in der EU weltweit geltend zu machen, auch in der Flüchtlingspolitik nicht untreu geworden, sondern sie manövriert ganz rational in Sicht auf die langfristige Sicherung dieser Hegemonialstellung.

Insofern unterliegen die Anhänger von AfD und Pegida in dem Glauben, ihre nationale Zugehörigkeit sichere ihren Wohlstand, einem schwerwiegenden Irrtum. Auch als Katalysatoren autoritärer Zurichtung sind sie nicht weniger Manövriermasse in den Händen von Staat und Kapital als die geflüchteten Menschen, die unter dem Titel der Integration zur anspruchslosen Unterwerfung unter deutsche Verwertungsinteressen angehalten werden. Wenn Redner aus ihren Reihen im originären NS-Jargon behaupten, in Deutschland würde rigoros aufgeräumt, wenn sie erst einmal an der Macht wären, dann machen sie die Rechnung ohne den Wirt, der längst dabei ist, eben dies zu tun, ohne dabei faschistischer Umtriebe verdächtigt zu werden. Die Individualisierung der Sozialkontrolle durch informationstechnische Überwachung hat Ausmaße erreicht, die in den Dystopien früherer Jahrzehnte kaum vorstellbar waren. Die Ermächtigung der Exekutive zur Sachwalterin eines Ausnahmezustands, der den detaillierten Kenntnisstand des Staates über Aktivitäten und Interessen jedes Menschen mit folgenreicher Konsequenz versieht, ist in Frankreich bereits Realität. Die Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft im Sinne der Ausweitung prekärer Beschäftigung, der weiteren Flexibilisierung der Jobkultur und der Einbindung der Kernbelegschaften in die Interessen des Kapitals schreitet voran, ohne daß sich eine gewerkschaftliche Handlungsmacht formierte, die den Innovationsdruck der Digitalisierung als zentrales Mittel zur Ausschaltung jedes Arbeiterwiderstandes durchschaute. Das gleiche gilt für die Verfügungsgewalt fiktiven Kapitals über die lebendige Arbeit, die mit dem konventionellen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr in Deckung zu bringen ist. Um so unhinterfragbarer erscheint der vermeintliche Sachzwang der Austeritätspolitik, dem die soziale Verelendung ganzer Bevölkerungen geschuldet ist.

Im Rahmen staatspolitischer Interessen und tiefer Klassenantagonismen wird der AfD mit der Frage, ob sie die Gesellschaft spalte, weit mehr Einfluß zugestanden, als sie für sich genommen hat. Wenn sie die Aufgabe erfüllt, die Bevölkerung auf den zentralen Zweck von Staat und Kapital zuzurichten, aus der internationalen Konkurrenz siegreich hervorzugehen, und sei es zum Preis der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen, dann nimmt sie die typische Rolle rechtsradikaler Parteien im liberalen Verfassungsstaat ein. Die auch in linken Kreisen geführte Debatte, ob die AfD nun rechtspopulistisch oder rechtsextremistsich sei, bekräftigt dessen politische Legalitätsnorm, deren maßgebliche Konsequenz in der geheimdienstlichen Überwachung als "extremistisch" eingestufter Parteien und gegebenenfalls ihres Verbots besteht. Mit der immanenten Anerkennung der Extremismustheorie, die der Relativität ihrer Verortungslogik gemäß nicht verhindert, daß die sogenannte politische Mitte heute Positionen einnimmt, die früher am rechten Rand verortet wurden, wird die autoritäre Staatsschutzdoktrin auch dazu legitimiert, die radikale Linke mit Gesinnungsjustiz und Organisationsverboten zu verfolgen.

Um so weniger ist es die Absicht der bürgerlichen Parteien, die sich gegenüber AfD und Pegida als Sachwalter von Freiheit und Demokratie hervortun, Ausbeutung und Unterdrückung aus der Welt zu schaffen. Sie unterscheiden sich von diesen lediglich durch die ihnen angestammte Deutungsmacht, mit der sie diese Werte zum eigenen Nutzen auslegen, und die Anschlußfähigkeit ihrer Legitimationsachsen an die Rechtsnormen und Regulative transnationaler Verwertungsinteressen. Diese setzen das kapitalistische Weltsystem derzeit einem Liberalisierungsschub vertragsrechtlicher Art aus, der für die Masse lohnabhängiger und mittelloser Menschen nichts als eine Vertiefung ihrer Abhängigkeit zur Folge hat. Wo die Anhänger von Pegida und AfD in der Mutmaßung, ihnen würde durch TTIP et al übel mitgespielt, nicht falsch liegen, so laufen sie den Sachwaltern der globalisierten Marktwirtschaft in der Annahme, dieses Problem ließe sich durch die Privilegierung ihrer nationalen Zugehörigkeit zu Lasten anderer Menschen aus der Welt schaffen, direkt in die Arme.

Es reicht mithin nicht aus, gegen Pegida und AfD zu demonstrieren, auch wenn dies, wie beim aktuellen Aufmarsch europäischer Pegida-Bewegungen, unabdinglich ist. Werden Staat und Kapital dadurch in ihrer Legitimität gestärkt, obwohl sie längst dabei sind, unumkehrbare Herrschaftsverhältnisse zu schaffen, dann könnte die Rechnung, soziale Antagonismen durch symbolträchtige Konfrontationen auszublenden, aufgehen.

Scheinwidersprüche wie diejenigen, daß deutsche Vertreter der sogenannten Lügenpresse angegriffen werden, während einem russischen Staatssender jedes Wort geglaubt wird, daß "deutsche" Frauen gegen Vergewaltiger in Schutz genommen werden, aber Kanzlerin Merkel als Frau sexistisch diffamiert wird [2], daß LGBT-Menschen von Männern attackiert werden, die ihr Interesse an sexistischer Gewalt niemals eingestehen würden, heben sich dadurch, daß die schwächsten Minderheiten der Gesellschaft haßerfüllt aufeinander losgehen, in der höheren Ratio herrschender Verfügungsgewalt auf. Dagegen sozialen Widerstand zu mobilisieren ist schwierig, weil es gilt, Widersprüche zu durchschauen, die jeder materiellen Basis entbehren, aber von hoher symbolischer Kraft sind. Dennoch kann der Schmerz der Ohnmacht die Verhältnisse, die Menschen verfügbar und beherrschbar machen, vom Kopf auf die Füße stellen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/volkes-stimme-oder-brandstifter-spaltet-die-afd-die.1784.de.html?dram:article_id=344763

[2] https://www.youtube.com/watch?v=K7wr_kS4yRI

8. Februar 2016


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