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HERRSCHAFT/1730: Auf den Flügeln der Extremismusdoktrin zur geistig-moralischen Wende 2.0 (SB)



Für den Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen, handelt es sich bei der in den Medien geführten Diskussion um die Frage der Abgrenzung zur NPD um eine "Geisterdebatte" [1]. Als Partei des "gesunden Menschenverstandes" stimme man allen parlamentarischen Vorschlägen, sofern sie vernünftig seien, zu. Zwar geht er davon aus, daß die NPD eine derartige Bedingung nicht erfülle, aber im Zweifelsfall gelte das auch für Vorschläge aus ihren Reihen. Ansonsten habe man "eine ganz, ganz klare Abgrenzung sowohl zum Rechts- wie zum Linksradikalismus", sei also ein ganz normaler Akteur der parlamentarischen Demokratie.

Die große Aufmerksamkeit, die dieser Frage im Vorfeld der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zuteil wird, ist einem Normalisierungsdiskurs geschuldet, der die Integration der AfD ins bürgerliche Parteienspektrum zum Ziel hat. Da sich erwiesen hat, daß die rechtspopulistischen Forderungen der neuen politischen Kraft auf viel Resonanz in der Bevölkerung stoßen und es nicht damit getan ist, wie etwa SPD-Chef Sigmar Gabriel mit der Anerkennung einer "Obergrenze" für die Aufnahme von Flüchtlingen nachzubessern, wird der AfD viel Raum für wortreiche Legitimierung gewährt. Wird die Hürde des Extremismusverdachtes einmal zur Zufriedenheit genommen, dann kann ihre nationalkonservative und sozialchauvinistische Agenda die absehbare Wirkung entfalten, das ganze Feld der sogenannten politischen Mitte noch weiter nach rechts zu ziehen.

Schließlich ist die Schnittmenge der AfD mit den rechten Flügeln der bürgerlichen Parteien mindestens so groß wie ihre Nähe zu politischen Forderungen der NPD. Im Kernbereich regierungspolitischen Interesses, der Steigerung des sozialen Drucks auf die Lohnabhängigen und der Durchsetzung optimaler Bedingungen für deutsche Unternehmen, ist die AfD so neoliberal orientiert wie die bisherigen Regierungsparteien auf Bundesebene. Der schlanke Staat, der dem Kapital maximale Handlungsfreiheit gewährt, die Befürwortung steuerlich bedingter Standortvorteile, der weltweite Abbau von Handelsschranken auch im Rahmen von Freihandelsabkommen, sofern diese durch das Parlament abgesegnet werden, die Einschränkung föderaler Ausgleichszahlungen für mehr Wettbewerb zwischen den Bundesländern, die Abkehr von einer wirtschaftlich unvorteilhaften Klimaschutzpolitik und die Wiederaufnahme der Erforschung der atomaren Energieerzeugung sind einige Merkmale eines neoliberal-nationalkonservativen Programms [2], in dem die Steigerung des nationalen Gesamtproduktes und damit das Interesse der Kapitaleigner an erster Stelle steht.

Demgegenüber glänzt das Thema "Gewerkschaft" im AfD-Programm durch Abwesenheit, während die Lohnabhängigenklasse durch eine "aktivierende Grundsicherung", deren Höhe niemals das von Arbeitseinkommen erreichen darf, und die Bekämpfung von Mißbrauchsmöglichkeiten zur Aufnahme auch gering entlohnter Arbeit genötigt werden soll. Die von der rot-grünen Bundesregierung mit "Fördern und Fordern" etablierte Bringschuld der Erwerbslosen läßt grüßen, da ist es eher von nachrangiger Bedeutung, ob die Bevölkerung durch eine neoliberale oder nationalkonservative Zurichtung den sie beherrschenden Interessen unterworfen wird. Flankiert wird die Etablierung des neofeudalen Ständestaats im Fall der AfD durch die Rückverlagerung der sozialen Reproduktion in die bürgerliche Kleinfamilie und die Abschaffung aller wissenschaftlichen Erforschung von Geschlechterfragen, die die vermeintlich natürliche Ordnung der Dinge in Frage stellen könnte.

Die Zuspitzung der öffentlichen Debatte auf die Extremismusdoktrin, mit der die äußeren Ränder des politisch Erwünschten markiert werden, um die Gesellschaft den Interessen ihrer einflußreichsten Gruppen nachzuordnen, dient vor allem dazu, den grundlegenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit auszublenden sowie der kulturalistischen Stigmatisierung nicht so leicht zu kontrollierender und indoktrinierender Minderheiten Vorschub zu leisten. Wäre dem nicht so, dann müßte die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Neonazis und Islamisten allemal ausreichen, um deren politische Wirksamkeit zu blockieren. Im Kern dient die Extremismusdoktrin dazu, jegliche emanzipatorische Form der sozialen Revolte zu unterbinden, denn nur diese könnte der herrschenden Eigentumsordnung wirklich gefährlich werden.

Mit der populären, auf AfD-Veranstaltungen stets bejubelten Forderung, endlich die politische und kulturelle Hegemonie der 68er zu beenden, bewirbt sich die Partei dafür, die "geistig-moralische Wende" Helmut Kohls im Sinne einer für die internationale Krisenkonkurrenz zeitgemäßen sozialdarwinistischen Formierung von Staat und Gesellschaft überzuerfüllen. Im globalen Verteilungskampf steht viel auf dem Spiel, daher setzt sich die Partei bedingungslos auf die Stärkung nationaler Souveränität und die Durchsetzung "deutscher" Interessen auch im Verbund von NATO und EU ein. Die AfD ist weit entfernt von einer basisdemokratischen oder gar antimilitaristischen und internationalistischen Kritik an beiden supranationalen Institutionen. Sie will den deutschen Funktions- und Kapitaleliten zu mehr Durchsetzungskraft verhelfen und tritt dementsprechend für flexiblere Abstimmungen mit den Mitgliedstaaten von EU und NATO ein. So wird auch die Entscheidung über künftige Kriege, für die mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht das notwendige Personal bereitgestellt werden soll, vor allem unter die Prämisse nationalen Nutzens und weniger die Bindung der Bundesrepublik an internationales Recht oder gar ein prinzipielles Friedensgebot geknüpft.

Meuthen spricht zu Recht von einer "Geisterdebatte", allerdings meint er fälschlicherweise damit, daß sie gegenstandslos wäre. Die an der NPD symbolisch abgehandelte Frage nationaler Restauration dient im Falle der AfD eher einer Beschwörung von Geistern, die man nicht ruft, um sie nachher wieder loszuwerden. Die AfD kommt und bleibt, um das für die Vertiefung sozialer Herrschaft und die Ausbildung aggressiver Interessenpolitik nötige Ferment nationalchauvinistischer und leistungsrassistischer Mobilisierung bereitzustellen. Daran mag sich die politische Konkurrenz abarbeiten oder auch nicht, in jedem Fall macht die neue Partei Forderungen und Diskurse akzeptabel, die all das voranbringen, was der Schattenwurf des deutschen Faschismus bislang unter die Schwelle gesamtgesellschaftlicher Durchsetzung gedrückt hat. Daß die nicht nur von dieser politischen Kraft, sondern maßgeblichen Teilen der Funktionseliten in Politik, Wirtschaft und Medien propagierte Normalisierung nichts als sozialen und militärischen Krieg im Programm hat, entspricht dem auf die Höhe einer nationalen Schicksalsfrage gehievten Überlebensnotstand, der sich auf "Gesundheit" ausschließlich biologistisch als unhinterfragbare Dominanz des Starken beruft.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/afd-und-npd-das-sind-extremisten-mit-denen-wir-nichts-zu.694.de.html?dram:article_id=364631

[2] https://www.alternativefuer.de/programm/

1. September 2016


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