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HERRSCHAFT/1731: Merkels Management - Deutsche Hegemonie in der Flüchtlingskrise (SB)



Ein Jahr nach Verkündung der sogenannten "Willkommenskultur", als deren Urheberin Angela Merkel fälschlicherweise bezeichnet wird, hat die Bundeskanzlerin auf einer Klausurtagung des Unionsfraktionsvorstandes in Berlin die Parole ausgegeben: "Für die nächsten Monate ist das Wichtigste Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung". [1] Diesen vermeintlichen Widerspruch auf eine taktische Kehrtwende zu reduzieren, die angesichts des Wahlergebnisses in Mecklenburg-Vorpommern zu spät gekommen sei, verkennt die zentrale strategische Logik deutscher Flüchtlingspolitik in der gesamteuropäischen Regulation der dramatisch anwachsenden Migration. Die aggressive ökonomische und militärische Expansion der westlichen Mächte hat eine Massenflucht ausgelöst, die auf die Nutznießer der globalen Verelendung in den Metropolen zurückschlägt. Da die forcierte Taktfolge die Kriege die Nachbarregionen Europas mit einem Flächenbrand überzogen hat, versagen die bislang etablierten Mechanismen der Abschottung, so daß aus Perspektive hegemonialer Krisenbewältigung innovative Entwürfe der Steuerung und Zwangsbefriedung gefragt sind.

Um solchen Flüchtlingen helfen zu können, die wirklich Hilfe bräuchten, und die Akzeptanz dafür in der Bevölkerung zu erhalten, müsse man entschlossen jene in ihre Heimat zurückschicken, die nicht schutzbedürftig seien, so die Kanzlerin. Fänden diese Rückführungen nicht statt, sei dies nur ein Anreiz für Menschen ohne Bleibeperspektive, trotzdem nach Deutschland zu kommen. Die Aufnahme so vieler Flüchtlinge in Deutschland wie 2015 werde sich nicht wiederholen, und sie bereue keine ihrer Entscheidungen aus dieser Zeit, verteidigt Merkel ihr Krisenmanagement, die für verwertbar erachteten Migrantinnen und Migranten abzuschöpfen, den zum Ballast degradierten Rest loszuwerden und innen- wie außenpolitisch neue Kontrollinstrumente durchzusetzen.

Wenngleich die Kanzlerin in Reaktion auf das Wahldebakel einräumt, daß "viele Menschen nicht das ausreichende Vertrauen in die Lösungskompetenz bei den Themen der Flüchtlingspolitik und Integration" hätten, betont sie zugleich, daß gerade "im Hinblick auf die Reduzierung der Zahl der ankommenden Flüchtlinge, die Integration sowie die Unterstützung der Kommunen und Bundesländer schon viel erreicht worden" sei. Nicht die Schließung der Balkanroute, sondern das Abkommen der EU mit der Türkei sei entscheidend für die Eindämmung des Flüchtlingsstroms. Der Generalsekretär der CDU, Peter Tauber, wirbt um Geduld bei der Umsetzung der Flüchtlingspolitik, da es Zeit brauche, bis diese Maßnahmen wirken, wobei er nicht zuletzt auf das geänderte Asylrecht und das neue Integrationsgesetz verweist. [2]

In welchem Maße das am 6. August in Kraft getretene Integrationsgesetz seinem Namen Hohn spricht, zeigt seine Umsetzung im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Dort haben Städte wie Essen, Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen Tausende anerkannte Flüchtlinge, die seit einigen Monaten dort leben, aufgefordert, in ostdeutsche Bundesländer oder nach Bayern zurückzukehren, wo sie ihren Asylantrag gestellt haben. Während die sogenannte Residenzpflicht zuvor nur für Asylbewerber galt, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen war, können die Behörden nach dem neuen Integrationsgesetz nun rückwirkend bis zum 1. Januar 2016 auch anerkannten Flüchtlingen für maximal drei Jahre den Wohnort vorschreiben. In der Regel ist das der Ort, an dem der Flüchtling während der Dauer des Asylverfahrens gelebt hat. Wer dem Zwangsumzug nicht "freiwillig" zustimmt, soll in NRW vom Jobcenter keine Unterstützungsleistungen mehr erhalten. [3]

Viele Flüchtlinge sind nach Nordrhein-Westfalen gekommen, weil sie dort teilweise Verwandte und Freunde haben und sich bessere Arbeitsmöglichkeiten erhoffen, als in ländlichen Gegenden oder in Ostdeutschland. Zudem mußten sie in einigen Regionen um ihr Leben fürchten, da sich die Angriffe auf Asylunterkünfte häufen. Diese Menschen haben inzwischen teilweise eigene Wohnungen bezogen, Kinder im Kindergarten oder der Schule angemeldet und Sprachkurse begonnen. Nach Monaten der Flucht, Unsicherheit und Unterkunft in menschenunwürdigen Massenunterkünften wollen sie möglichst bald ein selbständiges und unabhängiges Leben führen. Nun reißt sie die Zwangsumsiedlung aus diesem sozialen Zusammenhalt und treibt sie in Isolation und Ausgrenzung zurück.

Die verschärfte Residenzpflicht für anerkannte Asylsuchende, die auf eine Initiative des grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, zurückgeht, verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und das europäische Asylrecht, die anerkannten Flüchtlingen das Recht auf Freizügigkeit garantieren. Dessen ungeachtet machen sich die rot-grüne Landesregierung und die zumeist SPD-geführten Städte unter dem Vorwand einer gerechteren Kostenverteilung für einen repressiven Umgang mit Flüchtlingen stark. Nach Angaben des Innenministeriums haben seit Beginn des Jahres 13.633 Flüchtlinge NRW verlassen, dreimal so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres.

Gelsenkirchen hat alle knapp 2.000 anerkannten Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn in die Stadt gezogen sind, aufgefordert, das Bundesland zu verlassen. Da sich einige Länder weigern, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen, wurde ein Teil von ihnen nach NRW zurückgewiesen. Den Betroffenen wird nun eine Übergangsfrist bis Oktober gewährt, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Danach müssen alle Neuzugezogenen an ihren ursprünglichen Wohnort in Deutschland zurückkehren. Die Stadt Essen will alle zurückweisen, die nach dem 6. August gekommen sind, und schätzt deren Zahl auf etwa 2.500 Menschen. Dortmund will vorerst nur Flüchtlinge zurückschicken, die nach dem 6. August gekommen sind, weil von den vorher zugezogenen noch die Daten fehlen. Die Stadt Bochum will zumindest einen Teil der rund 1.000 Asylberechtigten, die seit Beginn des Jahres in der Stadt angekommen sind, zurückschicken.

Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl sprechen von einem "Desaster für die Integration" und kritisieren die Verschiebepraxis als "absoluten Wahnsinn", da Menschen, die gerade in einer Stadt Fuß gefaßt haben, umziehen müssen. In Bochum protestieren Betroffene mit Unterstützung des Flüchtlingsrats und der Linkspartei gegen die Zwangsmaßnahmen, um eine Aussetzung des Integrationsgesetzes in der Stadt zu erwirken.

Dessen Anwendung reiht sich ein in die konzertierte Drangsalierung von Flüchtlingen mit dem Ziel, ihnen das Leben schwer zu machen, um sie zu vertreiben und andere abzuschrecken. So setzt die Landesregierung auf Notunterkünfte wie große Hallen oder Zelte, in denen noch immer 9.000 Menschen leben, obgleich nach Angaben des Flüchtlingsrats fast 14.000 Plätze in normalen Unterkünften frei sind. Ohne Zuweisung in eine Kommune, wie sie nach spätestens sechs Monaten gesetzlich vorgeschrieben ist, gibt es keine Integrationskurse und die Kinder sind vom Schulbesuch ausgeschlossen. Innenminister Jäger rechtfertigt diese mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vereinbarte Praxis damit, daß Flüchtlinge ohne realistische Chance auf Asyl gar nicht erst in eine Kommune kommen sollen.

Angela Merkel, so scheint es, ist der Mehrzahl der Bundesbürger, die ihre Existenzängste kurzschlüssig auf die Flüchtlinge umlasten, längst mehr als einen Schritt voraus. Das Wahlvolk hat es nur noch nicht gemerkt.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/deutschland/article157927543/Rueckfuehrung-Rueckfuehrung-und-nochmals-Rueckfuehrung.html

[2] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/landtagswahl-mecklenburg-vorpommern-angela-merkel-reaktion

[3] https://www.wsws.org/de/articles/2016/09/03/inte-s03.html

5. September 2016


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