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HERRSCHAFT/1772: Neuwahlen eröffnen neue Horizonte staatlicher Ermächtigung (SB)



Eine Minderheitsregierung könne zumindest die Demokratie beleben, wäre sie doch genötigt, für ihre jeweiligen Ziele immer neue parlamentarische Mehrheiten zu organisieren. Im Bundestag würde wieder mehr debattiert und vieles an Entscheidungsprozessen transparent werden, die ansonsten praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit vollzogen werden, schlug eine Anruferin in einer Diskussionssendung des Deutschlandfunks [1] als mögliche Konsequenz nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche vor. Keiner der an der Sendung beteiligten Experten, zwei DLF-Journalisten und ein FAZ-Redakteur, konnte sich für die Idee, diese Zäsur als Chance für mehr Demokratie zu nutzen, erwärmen. Ganz im Gegenteil, der Zuhörerin wurde angelastet, einer "romantischen Vorstellung" erlegen zu sein, bei der nicht berücksichtigt werde, wie wichtig eine stabile Regierung für Deutschland wie für die Europäische Union sei.

Befürchtete der eine DLF-Journalist innenpolitische Zerreißproben und öffentliche Zerwürfnisse, die das politische System der Bundesrepublik auf Jahre hinaus nicht nur instabil, sondern vor allem unberechenbar machten, so sekundierte sein Kollege damit, daß eine Minderheitsregierung keine Planbarkeit und keine Verläßlichkeit aufweise in einer Situation, in der es gelte, Deutschland auf internationaler und europäischer Bühne wieder zu einem verläßlichen Akteur zu machen. In Kürze müsse im Bundestag über Auslandseinsätze der Bundeswehr abgestimmt werden, eine weitere Diskussion um Hilfen für Griechenland stehe an, und zu allem Überfluß stelle der Brexit-Prozeß die Ordnung der Europäische Union in Frage. Da sei Deutschland als langfristig verläßlicher, stabiler Akteur unverzichtbar, so sein Fazit, dem sich auch der Journalist der FAZ anschloß. Der sprach sich zwar für mehr Streit in der Sache aus, nannte als positives Beispiel dafür jedoch die Forderung der FDP, einen Untersuchungsausschuß zur Aufklärung des "Migrationsdesasters" einzurichten.

Keine sichere Zustimmung zur Kriegsbeteiligung der Bundeswehr mehr oder die Aufkündigung der per Schuldendienst durchgesetzten Privatisierungspolitik in Griechenland - was könnte nicht alles geschehen, wenn keine sicheren Mehrheiten im Bundestag für die Hegemonialpolitik der Bundesrepublik und die Geschäftsinteressen deutscher Unternehmen hergestellt werden? Die Bundesregierung als Hauptausschuß deutscher Kapitalinteressen in Frage zu stellen bedrohte die Existenz aller davon profitierenden Akteure, so weit will man mit dem Credo demokratischer Verfaßtheit keinesfalls gehen. Wer die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und den Willen seiner Regierung, die Bewirtschaftung der Welt auch mit Waffengewalt abzusichern, in Frage stellt, dem soll unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde jeder Einfluß auf die politische Willensbildung vorenthalten werden. Wer dennoch mit linken Forderungen ins Parlament gelangt, dessen politische Partizipation soll durch sichere Mehrheiten auf weitgehend folgenlos bleibende parlamentarische Anfragen oder die Mitarbeit in den Ausschüssen des Bundestages reduziert werden.

Wie also können Handlungsfähigkeit im Sinne der Staatsräson und demokratische Willensbildung miteinander in Einklang gebracht werden? Indem der Einfluß des nominellen Souveräns auf die Parlamentswahlen begrenzt wird, die, wenn es nach den im Bundestag vertretenen Parteien geht, künftig nur noch alle fünf Jahre stattfinden sollen, und das zuständige Personal in einem aufwendigen Selektionsprozeß so wirksam auf die Normen und Werte des parlamentarischen Prozederes zugerichtet wird, daß mit Überraschungen eher nicht zu rechnen ist. So kann es auch nicht erstaunen, daß die Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas oder das despotische Regime der AKP in der Türkei regelmäßig als undemokratisch gegeißelt werden, dies jedoch keinerlei Auswirkungen auf die jeweiligen Geschäftsbeziehungen zwischen Berlin, Beijing und Ankara hat. Im Zweifelsfall geht die Ratio souveränen Regierens über alles, wie auch die wachsende Bereitschaft europäischer Regierungen belegt, mit Sondervollmachten und Notstandsrecht zu regieren.

Da nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen nurmehr die Möglichkeiten bleiben, die Zustimmung der SPD zur Neuauflage der Großen Koalition zu erlangen, was als unwahrscheinlich gilt, oder eine Minderheitsregierung zu bilden, begünstigt der sicherlich nicht nur von diesen Journalisten getragene Primat politischer Handlungsfähigkeit das Abhalten von Neuwahlen. Seit die Sondierungsgespräche im Fokus der Medien stehen, ist es um die AfD ruhig geworden. Der Abbruch der Gespräche wird der Rechtspartei, die unter den im Bundestag vertretenen Parteien bisher am deutlichsten für die rücksichtslosere Durchsetzung nationaler Souveränität gegen andere Staaten und die repressive Anwendung staatlicher Autorität nach innen eintritt, weiteren Zuspruch bescheren.

Sollte Angela Merkel kein weiteres Mal antreten, dann dürfte sich ihr Nachfolger als Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers weiter in Richtung AfD positionieren. Da CSU und FDP der AfD unverhohlen nacheifern und sie mitunter rechts zu überholen versuchen, darf man gespannt sein, wie lange das Ausschlußkriterium, mit dieser Partei auf keinen Fall zu koalieren, noch Bestand hat. Auch wenn Neuwahlen keine wesentlich veränderten Wahlergebnisse zeitigen mögen, so besteht die Attraktivität, sie als Sprungbrett zur Qualifizierung administrativer Verfügungsgewalt zu nutzen, in der Veränderung des Personaltableaus und im Verzicht auf zuvor angekündigte Ausschlußkriterien bei der Regierungsbildung.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/jamaika-aus-wie-weiter-nach-den-gescheiterten-sondierungen.1784.de.html?dram:article_id=400901

20. November 2017


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